Wilderwald (2). Die Rache des Königshexers

von: Cressida Cowell

Arena Verlag, 2019

ISBN: 9783401807973 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Wilderwald (2). Die Rache des Königshexers


 

NIEMAND KANN AUS GURMENKRAG AUSBRECHEN

Es war eine Viertelstunde nach Mitternacht, zwei Wochen vor Winterende, als ein dreizehnjähriger Junge gefährlich hoch an einem Seil hing, das er selbst geflochten hatte und das kurz davor war zu reißen. Das Seil mit dem Jungen daran hing außen am düstersten Turm von Gurmenkrag, der »Besserungsanstalt für dunkle Wesen und Böse Zauberer«.

(Das ist natürlich ein ziemlich langer und umständlicher Name für ein Gefängnis, aber es war ja auch nicht irgendein beliebiges Gefängnis, sondern das aus- und einbruchsicherste Gefängnis im ganzen Wilderwald.)

Der Junge, der da am Seil baumelte, hieß Xar und er hätte wirklich unter gar keinen Umständen da draußen hängen dürfen.

Er hätte IM Gefängnis sein sollen. Das ist eine der wichtigsten Regeln, die für Besserungsanstalten und Gefängnisse gelten, und natürlich hätte Xar das wissen müssen.

Aber Xar gehörte nun mal nicht zu den Jungen, die sich an Regeln hielten.

Xar handelte zuerst und dachte später nach, und genau das war der Grund, warum man ihn in die Besserungsanstalt Gurmenkrag gesteckt hatte. Und es war auch der Grund, warum er den Ruf hatte, der ungehorsamste, wildeste Junge zu sein, der seit ungefähr vier Generationen im Königreich der Zauberer zur Welt gekommen war.

Nehmen wir zum Beispiel nur mal das, was Xar in der vergangenen Woche angestellt hatte:

Er hatte ein Schlafmittel in den Wein gegossen, den die Rogerschnüfflerwärter so gern tranken – nur leider war es kein Schlafmittel gewesen, sondern ein Fluchmittel. Er hatte die Stühle im Ratssaal des Hohen Kommandostabs der Druiden mit Leim bestrichen, sodass die Druiden darauf festklebten. Xar hatte gehofft, dadurch genug Zeit für die Flucht zu bekommen, nur leider hatte er vergessen, die Stühle auch auf dem Boden festzukleben, sodass ihn die Druiden mit den Stühlen am Hintern verfolgten. Er hatte ein bisschen Unsichtbarkeitstrank genascht, um sich unsichtbar zu machen, nur leider nicht genug, weshalb nur sein KOPF unsichtbar geworden war, sodass der Druide, der für Xars Besserung sorgen sollte, einen entsetzlichen Schock erlitt, weil er glaubte, kopflose Gespenster hätten das Gefängnis überfallen.

Natürlich war keine dieser Unfolgsamkeiten absichtlich geschehen. Alle hatten sich eher zufällig ereignet, als er versuchte, aus der Anstalt zu fliehen, denn obwohl Xar ein fröhlicher, unbekümmerter Junge war, hatten die zwei Monate Gefangenschaft seinem Frohgemut hart zugesetzt. Sogar sein sonst widerspenstiges Haar lag platt auf dem Kopf und manchmal fühlte sich Xar ein wenig verzweifelt.

Gurmenkrag war dafür bekannt oder berüchtigt, dass es unmöglich war, daraus zu entkommen, aber Xar hatte sich noch nie von etwas abschrecken lassen, das alle anderen für unmöglich hielten. Obwohl seine gegenwärtige Lage einem Unbeteiligten sicherlich recht ungünstig erscheinen mochte, war Xar ziemlich zufrieden mit sich selbst, jedenfalls für einen Jungen, der an einem ausfransenden Seil an einem Turm baumelte, über dem Meer, in dem es bekanntlich von so grauenvollen Ungeheuern wie Rotfeuerhaien, Dolchfischen und Blutbartnöcks nur so wimmelte.

Xar blickte sich um; seine Augen leuchteten vor Aufregung und Hoffnung.

»Seht ihr?«, flüsterte er triumphierend seinen Gefährten zu. »Was hab’ ich euch gesagt? Wir schaffen das mit links! Wir sind schon fast draußen!«

Damit hatte er recht, bisher hatten sie ihre Sache gut gemacht.

Nun war die Besserungsanstalt Gurmenkrag allerdings so geplant und gebaut worden, dass man darin die entsetzlichsten und gefährlichsten Monster der gesamten Zaubererwelt dauerhaft und völlig ausbruchsicher einsperren konnte. Oger, Butzemänner. Sumpfteufel, Kelpies, Nachtmahre, Schrate … und eine Menge mehr. Und früher sogar, ich wage es kaum zu sagen, HEXEN, die lange als ausgestorben galten, aber in jüngster Zeit in diesem Teil des Wilderwalds wieder gesichtet worden waren.

NIEMAND, weder ein Dunkelelf noch ein Rogerschnüffler, so groß und Furcht einflößend er auch sein mochte, und auch kein böser Zauberer, so grausam und gemein seine Zaubersprüche auch sein mochten, war JEMALS aus dem Gurmenkrag-Kerker entkommen. Versucht hatten es natürlich viele und es gab unzählige Sagen und Legenden über die fehlgeschlagenen Ausbruchsversuche, welche sich die Elfen seit Generationen weitererzählten. Aber, wie gesagt, geschafft hatte es bisher niemand, jedenfalls nicht lebend.

Selbst wenn du es durch irgendwelche unvorstellbaren Umstände schaffen würdest, die Außenmauer zu überwinden, ohne dass die Schreischädel zu schreien anfingen, würden da immer noch die Grimmtürme von Gurmenkrag auf dich warten, die auf sieben kleinen Inseln standen, welche in einem Meer mit dem hübschen Namen »Schädelmeer« lagen. Spätestens dort würden die trügerischen Wogen über deinem Kopf zusammenschlagen oder die bösartigen Meeresbewohner, die Blutbartnöcks, würden aus ihren Höhlen herausschießen und dich hinunter in den Versunkenen Wald auf dem tiefsten Meeresgrund zerren.

Als Sohn des Königs der Zauberer, aber auch, weil Xar der geborene Anführer war, hatte er eine stattliche Gefolgschaft.

Im Moment wurde er von fünf Elfen begleitet, nämlich Zippelsturm, Unzeitiel, Blassschimmer, Ariel und Senfhirn, wunderschönen, aber reichlich wild wirkenden Geschöpfen, die wie eine Kreuzung von sehr kleinen Menschen und gereizten, aber eleganten Insekten aussahen. Außerdem waren da noch zwei Haar-Feen – Flatterkopf und Hummelgrunde. Sie waren so klein wie Bienen, und außerdem so jung, dass sie noch nicht in ihren Kokon geschlüpft waren, wo sie sich in richtige erwachsene Elfen verwandeln würden.

Nachts können Elfen glühen, so hell wie Sterne am Himmel, aber im Moment wollten diese Elfen nicht entdeckt werden, deshalb hatten sie ihr Leuchten gedimmt, sodass ihre Körper nur noch ganz leicht schimmerten.

Die Elfen gehörten Xar und waren ihm treu ergeben, weshalb sie sich still und heimlich mit ihm in die sogenannte Besserungsanstalt Gurmenkrag geschlichen hatten, um bei ihm zu sein – und ihm bei seinem Ausbruch zu helfen.

»Du hast recht, Meister!«, flüsterte Flatterkopf zurück. Er summte aufgeregt um Xars Kopf herum. »Du hast immer recht, Meister! Deshalb bist du auch der Anführer und führst uns nie in Schwierigkeiten! Oooh! Was ist das für eine faszinastierende Höhle?«

Tatsächlich war die »faszinastierende« Höhle ein großer Schädel, dessen Ober- und Unterkieferknochen weit aufgesperrt waren.

Neugierig schwirrte Flatterkopf durch die große Öffnung, um die Höhle zu erkunden – doch plötzlich klappten die beiden Kiefer mit einem unheilvollen »Klang!« zusammen und die Augenlöcher kniffen sich richtig fest zu, als hätte der Schädel noch Augenlider.

»Halloooo?«, summte Flatterkopf und seine Stimme hallte in dem hohlen Schädel wieder. »Hallooo? Ich glaub’, ich bin eingesperrt!«

Die Elfen kugelten sich vor Lachen, sodass sie fast abstürzten, aber Xar erschrak und zischte: »Fliegt nicht über die Zinnen hinaus, verstanden? Gurmenkrag ist von einem magischen Kraftfeld umgeben. Man kann zwar prima hineinkommen, aber man kommt nicht durch das Kraftfeld hinaus!«

Xar musste sich in beträchtliche Gefahr begeben, um Flatterkopf zu befreien, denn der Schädel befand sich knapp außerhalb seiner Reichweite, weshalb er das Seil am Knöchel festbinden musste, um, kopfüber herabhängend, an den Schädel heranzukommen. Ganz, ganz vorsichtig drückte er den Unterkiefer herab, sodass Flatterkopf herausschwirren konnte, wobei der kleine Haar-Fee begeistert trällerte: »Mir geht’s prima! Keine Angst, Leute! Mir geht’s prima!«

Xar schwang sich auf einen sicheren Vorsprung und erklärte seinen Gefährten, dass diese Schädel keine normalen Totenschädel seien, sondern Schreischädel und dass sie Gurmenkrags letzte Ausbruchssicherung seien. Wenn man auch nur eine Fingerspitze über die Grenze des Gefängnisses streckte, würden die Schädel zu schreien anfangen, und zwar so laut und durchdringend, dass einem förmlich das Blut in den Adern gefror, und damit würden sie sämtliche Wärter Gurmenkrags aufwecken, die sich dann auf den Aus- oder Einbrecher stürzen würden.

Zu Xars Gefolgschaft gehörte auch ein sprechender Rabe, der sich in heillosem Entsetzen die Flügel über die Augen geschlagen hatte, denn die ganze Sache mit dem Kopfüberhängen und der Haar-Feen-Befreiung aus einem Schreischädel hatte er einfach nicht mit ansehen können. Außerdem befand sich Xar in Begleitung eines siebeneinhalb Fuß großen, einsamen Reißzahn-Werwolfs namens Oinsaam, der ein ängstliches Brummen hören ließ, als Xar die Gurmenkrag-Wärter erwähnte.

Xar hatte Oinsaam im Gefängnis kennengelernt, und obwohl einsame Reißzahn-Werwölfe nicht unbedingt zu den Geschöpfen zählten, mit denen man sich anfreunden sollte, hatten die beiden schon bald entdeckt, dass sie ein gemeinsames Interesse hatten: Beide wollten ausbrechen.

Der Werwolf jedenfalls schien unzufrieden zu sein, denn er konnte ein leises Aufheulen nicht unterdrücken.

»Was hat der Werwolf gesagt?«, erkundigte sich der Rabe.

Der sprechende Rabe hieß Kaliburn. Eigentlich hätte er ein recht hübscher Vogel sein können, doch leider war es sein Job, auf Xar aufzupassen, damit er nicht in noch mehr Schwierigkeiten geriet, eine Aufgabe, die völlig unmöglich war, sodass ihm vor lauter Sorgen ständig die Federn ausfielen.

»Ich glaube, er hat gefragt, ›Warum gehen wir in diese Richtung?‹«, erklärte Xar.

Xar hatte zwar die Werwolfsprache gelernt, aber im Unterricht nie so recht aufgepasst....