Wild und Wunderbar (2). Gegensätze halten zusammen (oder?)

von: Ilona Einwohlt

Arena Verlag, 2019

ISBN: 9783401808208 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 6,99 EUR

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Wild und Wunderbar (2). Gegensätze halten zusammen (oder?)


 

1

So leise wie jetzt war es sonst nie in unserem Klassenraum. Normalerweise knisterte immer irgendwer mit einem Papier, ruckelte unruhig auf dem Stuhl oder schabte mit den Turnschuhen über das Linoleum. Aber heute hörte man noch nicht mal eine Fliege gegen die Fensterscheibe surren, so still war es.

Nicht, weil wir etwa von unserem Englischlehrer Herrn Egbert Nüsslein-Büchsenschütz eingeschüchtert gewesen wären.

Auch nicht, weil wir ein Schweigegelübde zum Gedenktag der Heiligen Lehrerinnen von Denkenstein abgelegt hatten.

Die Antwort war einfach: Wir arbeiteten deshalb so konzentriert, weil wir die beste Vergleichsarbeit der Schule schreiben und die Belohnung dafür kassieren wollten: ein Tag schulfrei, den wir frei wählen konnten. Auch wenn wir keinen Plan von nichts hatten, wir gaben alles. Schulfrei, wenn die anderen trotz Sommerhitze in der Ganztagsschule brüten würden, war unsere einzige Motivation, um uns durch Passive Voice, Reported Speech und If-Clauses zu schreiben.

Wir saßen also hoch konzentriert mitten in der Englischarbeit, hatten nicht die Spur einer Ahnung von irgendwas, als die Tür aufflog und ein dunkelhaariger Junge unseren Klassenraum betrat.

»Hello?«

Augenblicklich richteten sich sämtliche Augenpaare auf ihn. Es war ungewöhnlich, dass jemand einfach so hereinplatzte, ohne anzuklopfen. Noch ungewöhnlicher war sein Aufzug. Genauer gesagt: ungewöhnlich für unsere Schule. Nicht für Hochglanzprospekte, in denen ein Sunnyboy wie dieser seinen Auftritt hatte. Er war locker zwei Jahre älter als wir und sah einfach umwerfend aus. Das bemerkte selbst ich, die in Sachen Jungs im Gegensatz zu den anderen noch ganz schön hintendran war. Sofort bekam ich Herzklopfen.

»Yes, please?« Herr Nüsslein-Büchsenschütz guckte ihn erwartungsvoll an. Wir anderen guckten schnell auf das Blatt unseres Sitznachbarn, es ging um Reflexive Pronouns, die keiner von uns verstanden hatte. I can wash my clothes myself …

»Noch ein Neuer!« Mein Banknachbar Jonas stupste mich so dolle in die Seite, dass mein Stift einen unschönen Schlenker in meinem Heft hinterließ.

»Wieso noch?!«, wisperte ich zurück und nutzte die Gelegenheit, weiter bei ihm abzuschreiben, weil unser Englischlehrer jetzt aufstand, um den Jungen zu begrüßen, der unschlüssig im Türrahmen stehen geblieben war. Jonas war der schleimigste Klassenstreber und trotzdem der Einzige in der Klasse, der normal mit mir redete.

»Shark ist doch auch neu!« Jonas legte ganz zufällig seine Hand so auf den Tisch, dass ich nichts mehr lesen konnte. Das war typisch Schleimstreber-Jonas! Kein Wunder, dass mit ihm niemand befreundet sein wollte. Okay, mit mir auch nicht. Aber das hatte andere Gründe.

»Shark ist ein Mädchen, also eine Neue«, gab ich zurück.

»Sicher?« Jonas guckte mich süffisant lächelnd an und in diesem Moment konnte ich ihn wieder einmal nicht leiden. Wieso dachte er denn, dass Shark ein Junge war?!

Shark war seit genau vier Monaten und drei Tagen meine beste Freundin. Das stärkste Mädchen, das ich je getroffen habe. Und das geheimnisvollste noch dazu. Immer wieder nämlich tauchte sie ab wie Fische im Meer, verschwand für ein paar Tage oder gar Wochen von der Bildfläche, um dann, irgendwann, wieder auf den Händen herumzulaufen, als wäre nichts geschehen. Als wäre sie mit ihrer Wuschelmähne und den verrückten Leggings nicht auffallend genug.

Als hätte Shark Winterschlaf gemacht, waren von ihr seit unserem Weihnachtskonzert weder ihre karierte Strähne noch ihre klobigen Boots zu sehen gewesen. Niemand wusste, wo sie steckte und ich vermisste sie sehr. Da sie in der Wohnung unter uns alleine lebte und sich außer der Dame vom Jugendamt niemand für Shark interessierte, war ihre Abwesenheit auch keinem aufgefallen. Ich hatte mir schreckliche Sorgen um sie gemacht. Mein kleiner Bruder Oskar war es, der mich immer wieder beruhigte.

»Shark ist stark«, sagte er ein ums andere Mal, wenn ich mir mal wieder in den düstersten Farben ausmalte, was einem Mädchen in unserem Alter alles so passieren konnte, wenn es mutterseelenalleine unterwegs war. Diese sorgenvolle Art hatte ich leider von meiner Mutter geerbt. Die war zwar als Mathe- und Physiklehrerin äußerst tough unterwegs, konnte aber sehr kümmerig sein. Das wiederum lag an Oskar, der durch eine schwere Krankheit kleinwüchsig geworden war und regelmäßig von Gelenkschmerzen heimgesucht wurde. Weil Papa nicht mehr lebte, kümmerte sich Mama um uns alleine. Wir hatten auch keine Omas oder Opas oder sonstige Tanten und Verwandten, die uns hätten unterstützen können.

Gestern hatte sich Shark bei mir nach einer quälend langen Zeit wieder gemeldet. Wie, als wäre nichts gewesen, war sie wieder da, ging in die Schule, lebte in Tildas Wohnung, inklusive ihres Sammelsuriums verrückter Sachen von Hängematte bis Insektenlutscher – und Pepper, ihrer sprechenden Elster.

Ich kam nicht dazu, Jonas meine Meinung zu sagen, denn in diesem Moment rief Vanessa drei Reihen hinter uns ganz aufgeregt:

»Er kann sich neben Shark setzen, da ist ja noch ein Platz frei.«

»Nein!« Das kam von Shark. Laut. Deutlich. Klar.

Ruckartig drehte ich mich zu meiner Freundin um. Shark war ganz blass um die Nase und ihr Brustkorb bebte vor lauter Aufregung.

»Nein«, wiederholte sie, diesmal etwas leiser, aber nicht minder entschlossen. Ich runzelte die Stirn.

»Das ist auch keine besonders gute Idee von dir!«, meinte unser Englischlehrer an Vanessa gerichtet. »Dann säßen ja die beiden Neuen nebeneinander … das macht keinen Sinn.«

»Es hat keinen Sinn«, murmelte Jonas, bevor er triumphierend hinzufügte: »Siehste, zwei Neue, sag ich doch.«

Ich rollte die Augen und blickte fragend Richtung Shark, die wie versteinert auf ihrem Platz saß. Was hatte sie nur gegen dieses, äh, nun ja: Male-Model? Stillschweigend nahm sie zur Kenntnis, dass Egbert Nüsslein-Büchsenschütz mitten in der – unserer! wichtigen! – Englischarbeit begann, sämtliche Schüler umzusetzen, als ob er nur darauf gewartet hätte. Er machte und tat, schob und tauschte Paul neben Jonas und Pia neben Paul und Vanessa neben Suzu und mich neben Shark, Hurra!, dann wieder Paul neben Suzu und den Neuen neben Jonas, Yeah!, den war ich los, und mich dann neben Suzu und Shark neben Pia und so ging es eine Weile hin und her, bis ich schließlich neben Paul saß und Shark neben Jonas und der Neue neben Suzu. Bingo! (Das war das neue Yay!) Unser Lehrer strahlte zufrieden mit roten Wangen vor lauter Organisiererei und wir hatten schlechte Laune, weil unsere Gelegenheit futsch war, einen Tag schulfrei zu bekommen. Der Neue sagte unterdessen nicht einen Pieps, sondern schaute nur gelangweilt aus dem Fenster. Nur einmal schielte er zwischendurch zu Shark, die wiederum wie versteinert auf ihrem Stuhl sitzen geblieben war.

The Chaos

Dearest creature in creation,

Study English pronunciation.

I will teach you in my verse

Sounds like corpse, corps, horse, and worse.

I will keep you, Suzy, busy,

Make your head with heat grow dizzy.

Tear in eye, your dress will tear.

So shall I! Oh hear my prayer.

 

Just compare heart, beard, and heard,

Dies and diet, lord and word,

Sword and sward, retain and Britain.

(Mind the latter, how it’s written.)

Now I surely will not plague you

With such words as plaque and ague.

But be careful how you speak:

Say break and steak, but bleak and streak;

Cloven, oven, how and low,

Script, receipt, show, poem, and toe.

(…)

By G. Nolst Trenite

»Wieso bekommen wir eigentlich ständig neue Mitschüler, mitten im Schuljahr?«, fragte mich Jonas kurz darauf in der Pause, einen Hirse-Protein-Riegel in der Hand. Aus lauter Gewohnheit lungerten wir gemeinsam hinten an der Tischtennisplatte herum. Bevor Shark meine Freundin wurde, hatten Jonas und ich eine Art Zweckgemeinschaft gebildet, weil wir beide immer übrig geblieben waren, wenn es um Gruppenarbeiten oder Sportmannschaften ging.

Ich war Lehrerinnenkind, ausgerechnet von Frau Grüner, der strengsten Lehrerin der ganzen Schule. Weil Mama oft schlechte Laune hatte, wurde sie wahlweise auch Frau Sauertopf, Dracona oder Giftspritze genannt und die anderen ließen mich für ihre schlechte Laune büßen. Vor Weihnachten hatten mich Marie, Özge und Katharina aus der Parallelklasse bei jeder sich bietenden Gelegenheit deswegen wochenlang drangsaliert. Aber ich hatte es geschafft, mich gegen die drei ganz alleine zur Wehr zu setzen, und mittlerweile ließen sie mich in Ruhe. Genauer gesagt hatte Marie die Schule freiwillig verlassen. Weil sie nicht nur mich fies gemobbt hatte, stand sie kurz vor einem Schulverweis und war dem zuvorgekommen, nachdem sie mehrfach Einträge und schlechte Noten kassiert hatte. Katharina war hängen geblieben und hatte sich in ihrer neuen Klasse neue Freundinnen gesucht. Wenn sie nicht gerade Nachhilfe hatte, hatte sie Hausarrest oder musste lernen. Denn ihre Eltern hatten Wind – ich ahnte von wem! – von ihrem erpresserischen Verhalten bekommen und als angesehene Rechtsanwälte der Stadt einen Ruf zu verlieren. Deshalb hatten sie jetzt entsprechende Maßnahmen ergriffen. Katharina tat mir aber nur ein bisschen leid deswegen.

So war Özge übrig geblieben. Eigentlich war sie total nett und eher schüchtern. Das wusste ich, weil sie bei uns unten im Haus lebte und wir zu Grundschulzeiten miteinander befreundet gewesen waren. Seit einigen Wochen suchte sie immer...