Ganz schön kaputte Tage und wie Noah Oakman sie sieht

von: David Arnold

Arena Verlag, 2019

ISBN: 9783401808260 , 440 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Ganz schön kaputte Tage und wie Noah Oakman sie sieht


 

2  das delikate Dreieck

»Was soll der Scheiß, Noah? Willst du dich ertränken?« Val fläzt in der Mitte des Pools auf einer Luftmatratze und nippt an einer selbst gemachten Daiquiri-Variante, eine riesige Sonnenbrille vor den Augen.

»Aber echt«, bekräftigt Alan und wirft sich eine Handvoll Karamellpopcorn aus der gigantischen Blechbüchse in den Mund, mit der er sich schon fast den ganzen Nachmittag beschäftigt – eine typische Geschenkdose mit verschneiten Wäldern und herumtollenden Rehen darauf. »Mann, unser ganzes Ding hier ist ein höchst delikates Dreieck. Wenn du absäufst, ist das System am Arsch.«

Val und Alan Rosa-Haas sind Zwillinge. Von meinem Zuhause zur Rosa-Haas-Villa sind es nur ein paar Schritte, außerdem haben sie einen herrlichen Pool und Mr und Mrs Rosa-Haas lassen sich kaum je blicken. Noch Fragen?

Als wir nach Iverton gezogen sind, war Alan der erste Junge in meinem Alter, den ich kennengelernt habe. Wir waren zwölf, er kam zum Spielen vorbei, und in meinem Zimmer eröffnete er mir, er habe den Verdacht, er sei schwul, und ich so: »Äh, okay«, und er so: »Ähhm, also«, es war eine rundum irre Situation. Danach meinte er, ich dürfe es niemandem weitersagen, und das versprach ich ihm. Und er fügte hinzu: »Wenn du’s doch jemandem weitersagst, dann pinkle ich auf deinen Hamster.« Damals besaß ich nämlich einen altersschwachen Hamster namens Goliat und da ich ihn unbedingt davor bewahren wollte, von irgendeinem Typen vollgepinkelt zu werden, versicherte ich Alan, dass mir kein Sterbenswörtchen über die Lippen kommen würde. Wie ich später erfuhr, war ich der erste Mensch überhaupt, dem er von seiner Homosexualität erzählte, aber mit zwölf hatte ich natürlich keinen Schimmer, was für eine große Sache das war. Für mich war bloß mein Hamster einer akuten Pinkelgefahr ausgesetzt. Ich erkundigte mich bei Alan, wieso ich es niemandem weitersagen durfte, worauf er erwiderte, das würde ich nicht verstehen. Ein paar Jahre später, als er dann sein richtiges Coming-out hatte und die anderen sich die übelsten Schimpfwörter für ihn ausdachten und zusammenzuckten wie von der Tarantel gestochen, wenn sie ihm auf dem Schulflur über den Weg liefen, oder den Tisch wechselten, wenn er sich in der Mittagspause zu ihnen setzte – da musste ich ihm recht geben. »Eigentlich wollte ich es dir gar nicht sagen«, meinte er damals in meinem Zimmer, als wir beide zwölf waren. Und dass er sich einfach gefühlt habe wie eine durchgeschüttelte Colaflasche und ich bloß zufällig in der Nähe gewesen sei, als es den Deckel heruntergeschossen hatte. Ich erwiderte, das sei schon okay. Er solle nur bitte nicht den lieben Goliat vollpinkeln.

Also schlossen wir einen Pakt.

Und pinkelten gemeinsam aus dem Fenster.

Um ehrlich zu sein, habe ich Alan vom ersten Moment an geliebt. Ich habe es sofort gespürt. Und er liebt mich auch sehr. In jüngeren Jahren haben wir häufig spekuliert, wie es wohl wäre, wenn ich ebenfalls schwul wäre, was er immer mit »Als ob ich überhaupt auf dich stehen würde, Oakman« kommentierte, woraufhin ich wiederum meinen noch bescheidenen Bizeps anschwellen ließ, eine Augenbraue hob und in Zeitlupe nickte, nach dem Motto Wie bitte? Darauf steht doch jeder? und dann lachten wir und malten es uns ganz genau aus. Wir malten uns aus, wir würden heiraten und uns eine Hütte irgendwo in den Bergen kaufen und von früh bis spät Körbe flechten und aus gusseisernen Pfannen essen und tiefschürfende Gespräche führen.

Aber das ist lange her.

»Von wem haben wir das eigentlich?«, fragt Alan, der ganz außen am Rand des Sprungbretts sitzt und seine Schrumpelfüße über dem Wasser baumeln lässt.

»Von wem haben wir was?«, entgegnet Val.

»Das Scheißzeug hier.« Alan hält die inzwischen leer gefutterte Büchse über seinen Kopf.

»Soso. Erst machst du heiße Liebe mit deinem Lieblingskaramellpopcorn«, meint Val, »und jetzt, wo du damit fertig bist, fängst du an, es zu dissen?«

»Er wollte auf etwas anderes hinaus«, sage ich, während ich am Rand des Pools auf der Stelle schwimme.

»Ganz genau«, bestätigt Alan. »So was kauft sich kein Mensch selbst. Das ist ein typisches Last-minute-Geschenk. Eigentlich hätte noch ein Kärtchen dranhängen müssen, auf dem steht: Sorry, aber ihr seid uns ziemlich egal.«

Und Val so: »Also ich fand das ja ganz nett von den Lovelocks, aber wenn ich sie sehe, richte ich ihnen gerne aus, wie sehr sie dein Missfallen erregt haben.«

»Wie jetzt? Die Lovelocks? Die drüben im Piedmont Drive wohnen?«

»Sie waren neulich zum Abendessen hier. Als du beim Training warst.«

Und Alan: »Verflucht seien die Lovelocks!« Er schleudert die leere Büchse in den Pool und wirft sich mit einem Schrei hinterher.

Val verdreht die Augen und lässt sich auf die Matratze sinken. Im Gegensatz zu Alan, der rund ums Jahr käsebleich bleibt und darin ganz nach seinem Vater kommt, der ihm den »immerwährenden Haas-Hautton« vererbt hat, wird Val jedes Mal als Erste von uns braun. Als wir jung waren, war sie bloß die nervige Schwester meines besten Kumpels, sie war immer in der Nähe, ob ich wollte oder nicht (ich wollte nicht), wie eine summende Mücke im Gesicht.

Schnitt: Der Sommer vor Beginn der Highschool, Val öffnet mir eines Tages die Tür und ich nur noch: Oh, äh, hey Val, ich, äh, also, ähm. Die erste Ahnung, dass Sex eventuell doch nicht nur widerlich ist, trifft einen wie ein Schlag ins Gesicht, der einem für alle Zeiten den Schädel dröhnen lässt.

Ja, es ist wirklich, als bekäme man einen Holzbalken in die Fresse.

Ich weiß nicht, ob es eine schleichende Veränderung direkt vor meiner Nase war oder ob es von heute auf morgen geschah, aber plötzlich ging mir Vals Daueranwesenheit kaum noch auf die Nerven. Im selben Jahr fragte ich sie, ob sie mich zum Homecoming-Ball begleiten wolle, und sie sagte Ja. Ein bisschen seltsam war das schon, schließlich kannten wir uns seit Ewigkeiten, aber irgendwie war es so eine Sache, die man unbedingt mal ausprobieren musste, deshalb probierten wir es aus. Und das kam dabei heraus: Val und ich stehen volle zwei Minuten Händchen haltend im Flur, bis Alan uns sieht. Da er das Ganze für einen Scherz hält, schmeißt er sich gründlich weg; und als er erkennt, dass es bitterer Ernst ist, verfällt er erst recht in hysterisches Gelächter.

Damals hielten Val und ich das letzte Mal Händchen und Alan bezeichnete unsere Dreiecksbeziehung das erste Mal als »delikates Dreieck«.

Trotzdem, ich will nicht lügen: Von Zeit zu Zeit denke ich immer noch auf diese Weise an Val. Sie hat einen ganz eigenen Charme, sie ist klug, aber nicht arrogant, und witzig, ohne dass sie gleich alles dominieren muss. Sie murmelt ständig kleine Sprüche vor sich hin, eine Art Kommentar zur gegenwärtigen Lage, und wenn mich nicht alles täuscht, würde sie das auch ohne Publikum tun, weshalb man einfach nur froh ist, sich in ihrer Umlaufbahn zu befinden.

Davon abgesehen hat sie diese perfekten Brüste.

Alan schwimmt in Rückenlage vom einen Ende des Pools zum anderen, seine Zeiten verbessern sich stetig. Beinahe mache ich ihm deswegen ein Kompliment, aber das würde enden wie immer: Das Team vermisst dich, Noah. Wir brauchen dich, No. Wie geht’s dem Rücken, No? Alles okay, No?

»Alles okay, No?«, fragt Val aus heiterem Himmel. Muss eine Begleiterscheinung unserer Dreiecksbeziehung sein, diese Beinahetelepathie.

»Ganz gut«, antworte ich. »Wird schon, würde ich sagen.«

Val schiebt ihre Riesensonnenbrille auf die Stirn. »Hä?«

Shit. »Sorry. Ich dachte, du meinst meinen Rücken.«

»Nein. Du warst völlig weggetreten. Aber wo wir schon beim Thema sind … Wie geht’s deinem Rücken, No?«

»Ganz gut.«

»Würdest du sagen, es wird schon?« Val lässt ihre Sonnenbrille wieder nach unten rutschen, nippt an ihrem Daiquiri und starrt mich an. Niemand kann einen lässiger aus der Ruhe bringen als Val.

Ich steige aus dem Pool und laufe zum Sprungbrett.

»Hat Dr. Kirby nicht gesagt, du sollst es langsam angehen lassen?«, fragt sie, doch da ihre Luftmatratze ans andere Ende des wirklich großen Pools getrieben ist, kann ich so tun, als hätte ich es überhört. Vals Glotzen kann ich auf diese Weise entkommen, ihre erste Frage aber klettert kurzerhand ebenfalls aus dem Pool und verfolgt mich wie ein triefender Schatten: Alles okay, No?

Jetzt stehe ich auf dem Sprungbrett, ganz außen am Rand. Die Sonne ist so gut wie untergegangen, alles ist erfüllt von einer dämmrigen Wärme, die so typisch Spätsommer ist, man schaut in die milchige Luft und sieht zu, wie der Tag einfach abstirbt, ein schöner, aber irgendwie trauriger Anblick, denn man kann nichts dagegen tun. Wenn man so will, haben die Sonne und das Verblassende Mädchen einiges gemeinsam.

Alles okay, No?

Ich will es mal so sagen: Mit acht (also in den Zeiten vor Iverton) bin ich einmal im Sommer ins Ferienlager gefahren und habe dort eine Menge neue Kumpels gefunden, die mir beibrachten, wie man eine Steinschleuder baut, und mit denen ich meine erste (und einzige) Zigarette rauchte und ein kleiner Kerl hatte sogar ein Foto von einer Frau in Unterwäsche dabei, was zu einem extrem aufschlussreichen Gedankenaustausch führte. Bis dahin hatte ich gedacht, Sex wäre wie küssen, nur nackig. Dann ging das Lager zu Ende, ich fuhr nach Hause und spielte wieder mit meinen alten Freunden, die jedoch, wie mir allmählich dämmerte, null Ahnung von Steinschleudern und Zigaretten hatten. Und die immer noch dachten, Sex wäre wie küssen, nur...