Motivation

von: Falko Rheinberg, Regina Vollmeyer, Bernd Leplow, Maria von Salisch

Kohlhammer Verlag, 2018

ISBN: 9783170329560 , 306 Seiten

9. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 21,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Motivation


 

2          Frühe Erklärungskonzepte: Instinkte und Triebe


 

 

 

Wie schon angesprochen, gibt es Anteile unseres Verhaltensrepertoires, die in ihrer motivationalen Grundstruktur angeboren sind. Das schließt nicht aus, dass auch erworbenes Wissen/Kognitionen und Gewohnheiten Einfluss nehmen. Gleichwohl ist hier die Kopplung von Anregungsbedingungen und Verhaltenstendenz schon vor der Lernerfahrung und dem Wissensaufbau gegeben. Trivialerweise gilt dies für unmittelbar lebenserhaltende Aktivitäten wie Essen oder Trinken. Organismen ohne einen genetisch gesicherten Antrieb zu solchen Verhaltensweisen hätten kaum eine Chance, mehr als einige Tage zu überleben.

Sieht man einmal vom Einfluss erlernter, situativer Anreize (»Appetitanregung«) und kognitiver Bewertungsprozesse ab, so ist etwa der Hunger abhängig von innerorganismischen Zuständen (z. B. dem Glukosegehalt an Rezeptoren in der Leber oder dem Druck auf die Magenwände; s. im Einzelnen Schmalt & Langens, 2009, S. 120 – 137). Der erlebte Drang zur Nahrungsaufnahme nimmt im Allgemeinen mit der Dauer der Fastenzeit zu und kann alle anderen Wünsche, Vorstellungen und Zielsetzungen dominieren. Die Tatsache, dass der sog. Mundraub straffrei bleibt, zeigt, dass die gebieterische Kraft solcher Mangelzustände auch der »naiven« Psychologie in der Gesetzgebung bekannt ist. Hinreichend großer Hunger kann kognitive Bewertungsprozesse bei der Nahrungsauswahl soweit relativieren, dass Hungernde Ratten, Mäuse, Insekten und andere ekelerregende Dinge essen. Auch wenn es in Einzelfällen Abweichungen gibt (z. B. lebensgefährdende Hungerstreiks von Inhaftierten zur Durchsetzung bestimmter Ziele), haben wir es im Regelfall also mit einem mächtigen Motivationssystem zu tun, das angeborenermaßen unser Verhalten in aktivierender Weise auf bestimmte Ziele lenkt und so das Überleben sichert. Solche Systeme haben wir offenkundig mit anderen Lebewesen gemein.

2.1       Instinkte


Nun gibt es bei Tieren noch eine Vielzahl weiterer, auf bestimmte Endzustände zulaufende Verhaltenssysteme, etwa im Sexual-, Brut- und Aufzuchtverhalten oder im innerartlichen Sozialverhalten, für die eine genetische Basis anzunehmen ist. Für Letzteres spricht die Stereotypie der Ausführung sowie die systematische innerartliche Verbreitung und vor allem die Lernunabhängigkeit bestimmter Verhaltenssequenzen.

So beginnen isoliert aufgezogene und erstgebärende Rattenweibchen ein bis zwei Tage bevor sie gebären, Papierschnitzel in ihrem Käfig zusammenzutragen und eine Art Nest zu bauen, obwohl sie es nie bei anderen Tieren beobachtet haben oder sonstwie erfahren haben konnten. Auch das Reinigen des Nestes, Wärmen und Säugen der Jungen erfolgt ohne vorherige Lerngelegenheiten (Hebb 1975).

Solche Zweckmäßigkeitsstrukturen wirken auf uns verblüffend, weil klar ist, dass das fragliche Lebewesen den jeweiligen Zweck nicht vorhersehen kann. So wird den Ameisen das System ihres Zusammenlebens schon aus Kapazitätsgründen kognitiv kaum repräsentiert sein können – gleichwohl agieren sie in einer Art, als wäre es so. Ein gerade geschlüpfter Kuckuck wirft die anderen Jungvögel aus dem fremden Nest, ganz so, als ob er wüsste, dass er mehr Nahrung braucht, als die versorgenden und körperlich kleineren Elternvögel für alle liefern könnten, und ganz so, als ob er wüsste, dass diese Elternvögel aufgrund ihrer eigenen genetischen Festlegung nicht anders können, als ihn (statt ihres eigenen eliminierten Nachwuchses) aufzuziehen.

Solche zweckgerichteten Verhaltensketten wurden in großer Zahl beschrieben und zum Teil detailliert analysiert (Eibl-Eibesfeldt 1978; Lorenz 1937; Tinbergen 1951). Sie sind uns als Instinkt (Instinctus naturae = naturgegebener Antrieb) geläufig. Schon Darwin (1859) hatte sich mit dem Instinktkonzept beschäftigt. Für ihn folgen diese erblich bedingten Verhaltenssequenzen den gleichen Gesetzen wie körperliche Merkmale, nämlich der Zufallsvariation des genetischen Materials und der natürlichen Auslese. Letztere ergibt sich daraus, dass die überlebenserforderlichen Ressourcen in der Umwelt nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen.

Wenn man sich einen bestimmten Instinkt vorstellt als eine Zusammensetzung vieler einzelner angeborener Reflexeinheiten, die jede für sich dem Prinzip der genetischen Zufallsvariation folgt, so kann eine Vielzahl von Reflexsequenzen entstehen. Diejenigen Reflexsequenzen, die unter gegebenen Bedingungen (Umwelt, Körperbau etc.) einen Anpassungsvorteil bewirken, begünstigen Lebewesen mit der entsprechenden genetischen Ausstattung. Das wiederum führt zu einer Ausbreitung des jeweiligen Instinktes in der Art.

Wegen der feinen Anpassung an komplexe Bedingungskonstellationen wirken die Verhaltensweisen scheinbar beabsichtigt, ja manchmal fast trickreich und raffiniert – wie oben beim Beispiel des frisch geschlüpften Kuckucks. Gleichwohl sind es starre Verhaltenssequenzen, die mitunter nicht einmal bis zum Erreichen des nützlichen Effektes durchgehalten werden (Lorenz 1937). Trotz oberflächlicher Ähnlichkeit ist solch instinktgelenktes Verhalten qualitativ höchst verschieden von einer Handlungsstruktur, bei der ein künftiger Zustand als Ziel kognitiv vorweggenommen und wegen seiner positiven Bewertung auf jeweils situationsangepasste Weise angestrebt wird.

Auch wenn Menschen mit Hilfe ihrer kognitiven Möglichkeiten Zielzustände vorwegnehmen, bewerten und flexibel anstreben können, so schließt das ja nicht aus, dass auch wir aus unserer Evolutionsgeschichte genetisch basierte Verhaltenstendenzen besitzen, die sich aus (früheren) Instinkten herleiten. Insbesondere nachdem Darwin die gemeinsame Systematik in der Entwicklung der Arten (inklusive des Menschen) überzeugend dargelegt hatte, sprach im Prinzip nichts dagegen, auch bei Menschen instinktive Verhaltensanteile oder Instinktrudimente zu vermuten. Diese Vermutung lag umso näher, als es Verhaltensweisen gibt, die bei vielen Menschen in ähnlicher Form beobachtbar sind – also eine hohe innerartliche Verbreitung haben.

Das betrifft etwa das Ausdrucksverhalten. So ist der mimische Ausdruck von Gefühlen für unterschiedlichste Völker in gleicher Weise verstehbar: Ureinwohner Neuguineas konnten auf Portraitfotos die ausgedrückte Emotion richtig zuordnen, obwohl die Fotos von Menschen aus gänzlich fremden Kulturkreisen stammten. Umgekehrt konnten amerikanische Studenten den Emotionsausdruck dieser Ureinwohner richtig zuordnen, obwohl auch sie nie Kontakt zu diesem Kulturkreis hatten (Ekman 1972).

Universell sind auch bestimmte Grundtendenzen wie Flucht, Angriff, Orientierung etc., die im Verhalten schon auftreten können, bevor wir in der jeweiligen Situation detaillierte Zielbewertungen und Mittelabwägungen vorgenommen haben. So wundert es nicht, dass schon recht früh in der wissenschaftlichen Psychologie mit dem Instinktkonzept gearbeitet wurde.

Bereits 1890 benutzte William James den Begriff Instinkt und charakterisierte damit die Möglichkeit von Lebewesen, ohne vorheriges Anlernen und ohne Voraussicht bestimmte Endzustände zu bewirken (James 1890, S. 383).

Den größten Einfluss bekam das Instinktkonzept in der Psychologie aber etwas später durch McDougall (1908). McDougall ging von einem relativ komplexen Instinktkonzept aus. Als angeborene Struktur sollte der Instinkt (1) eine Akzentuierung der Wahrnehmung besorgen: man wird bevorzugt auf bestimmte Gegenstände oder Ereignisse aufmerksam und beobachtet sie. Die so wahrgenommenen Objekte führen dann (2) zu ganz bestimmten Qualitäten emotionaler Erregung, die wiederum (3) die Tendenz erzeugen, in einer bestimmten Weise gegenüber diesem Wahrnehmungsobjekt zu handeln – zumindest liefert sie den Impuls dazu. Nach McDougall gehört also zu jedem Auftreten instinktiven Verhaltens ein Erkennen von etwas, ein Gefühl ihm gegenüber und ein Streben hin oder weg von ihm (1908, S. 26).

Als unveränderlichen Kern des jeweiligen Instinkts sah McDougall die spezifische Emotion an. Die Klassen von Objekten/Ereignissen, die diese instinkttypische Emotion auslösen, können in Abhängigkeit von Erfahrung ebenso modifiziert werden wie die motorische Aktivität, zu der die Emotion drängt. Auf diese Weise konnte McDougall der unabweislichen Plastizität menschlichen Verhaltens Rechnung tragen und gleichzeitig annehmen, dass sich eine breite Variation unseres Verhaltens auf eine begrenzte Zahl von Instinkten zurückführen lässt. Allerdings hatte er sich mit diesem Konzept deutlich entfernt von dem eher starren Instinktbegriff, wie er von Darwin oder James und vor allem in der Ethologie verwandt wird (s. u.). Genau genommen bleibt vom Instinkt nur noch...