Wahrheit in Vielfalt - Vom religiösen Pluralismus zur interreligiösen Theologie

von: Perry Schmidt-Leukel

Gütersloher Verlagshaus, 2019

ISBN: 9783641232450 , 416 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 29,99 EUR

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Wahrheit in Vielfalt - Vom religiösen Pluralismus zur interreligiösen Theologie


 

2 PLURALISTISCHE AUFBRÜCHE IM CHRISTENTUM

DAS ENTSTEHEN DER PLURALISTISCHEN OPTION

Eine ausformulierte Religionstheologie finden wir in den Texten der Bibel nicht, wohl aber eine Reihe verschiedener Verse, die sich zur Untermauerung jeder der drei möglichen Optionen (Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus) heranziehen lassen und auch tatsächlich in diesem Sinn zitiert werden.1 Christliche Exklusivisten beziehen sich oft auf Verse wie »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich« (Joh 14,6) und »Es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen« (Apg 4,12). Aber es gibt auch Verse, die eher eine inklusivistische Option unterstützen, wie zum Beispiel, dass Gott sich unter den Völkern »nicht unbezeugt gelassen hat« (Apg 14,17) und dass ihm »in jedem Volk willkommen ist, wer ihn fürchtet und tut, was Recht ist« (Apg 10,35). Ein christlicher Pluralist kann auf Stellen wie Amos 9,7 verweisen, wo es heißt, dass Gott nicht nur Israel aus Ägypten befreit hat, sondern auch »die Philister aus Kaftor und die Aramäer aus Kir«. Oder man könnte sich auf 1 Joh 4,7 beziehen, wo unterschiedslos gesagt wird: »[...] jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott«. Die Bibel befürwortet weder explizit noch implizit eine bestimmte Option der Religionstheologie, sondern ist offen für verschiedene Auslegungen. Was noch wichtiger ist: Sie befasst sich nicht mit anderen großen religiösen Traditionen, weder mit dem Hinduismus oder Buddhismus, noch mit dem Konfuzianismus oder Daoismus, die den biblischen Autoren allesamt unbekannt waren. Und natürlich sagt die Bibel auch nichts zum Islam, der ja erst viel später entstand. Eine angemessene Religionstheologie kann jedoch nur bei einem vertieften Wissen und Verständnis der anderen Religionen entwickelt werden. Das Judentum ist die einzige bis heute existierende Religion, die in der Bibel eine herausragende Rolle spielt. Aber es war keine »andere Religion«. Der biblische Diskurs, auch im Neuen Testament, ist ein innerjüdischer Diskurs.

In der Zeit der Kirchenväter änderte sich das bis zu einem gewissen Grad. Verschiedene Kirchenväter neigten damals zu einer inklusivistischen Sicht und fanden in anderen Religionen »Samenkörner des Logos«, das heißt, göttliche Offenbarung in rudimentärer Form, während sie Jesus Christus als die einzigartige und volle Verkörperung des Logos verstanden. Andere wiederum tendierten zu einer immer strenger werdenden exklusivistischen Position, die sich ab dem vierten Jahrhundert zur vorherrschenden Haltung christlicher Theologie entwickelte. Den Begriff von »Religionen« im modernen Sinn gab es zunächst jedoch noch nicht. Jene Religionen, die wir heute als die klassischen griechischen und römischen Religionen bezeichnen, wurden von christlichen Theologen als »Heiden« (pagani) wahrgenommen. Unter massivem christlichem Druck verschwanden sie schließlich aus dem Römischen Reich. Juden wurden ebenfalls nicht als Angehörige einer anderen Religion betrachtet, sondern als das Volk des Alten Bundes, das den Neuen Bund mutwillig abgelehnt und so göttlichen Zorn und Strafe auf sich gezogen hatte. Als der Islam aufkam, verstand man auch diesen zunächst nicht als eine andere Religion, sondern als eine von einem falschen Propheten aufgebrachte christliche Irrlehre. Daher richtete sich die exklusivistische Maxime »Außerhalb der Kirche kein Heil« nicht gegen »andere Religionen«, sondern, wie es die Standardformel besagt, gegen die drei Gruppen der Heiden, Juden und »falschen Christen«.2 Die letzte Gruppe war alles andere als klein: »Das Römische Reich hat mehr Christen nach der Bekehrung Konstantins verfolgt als vorher.«3

Sucht man nach frühen Zeichen theologischer Bewegung in Richtung einer pluralistischen Konzeption, so muss man sich jenen kleinen christlichen Minderheiten zuwenden, die inmitten großer nichtchristlicher Religionen lebten und von diesen daher eine bessere Kenntnis besaßen – wie zum Beispiel die Nestorianer in Indien und China. Bei ihnen gibt es tatsächlich Anzeichen für so etwas wie zumindest protopluralistische Neigungen. Die berühmte nestorianische Stele von Xi’an in China aus dem Jahr 781 zitiert zustimmend eine kaiserliche Verlautbarung mit pluralistischen Tendenzen: »Rechte Prinzipien haben keinen unveränderlichen Namen; heilige Männer haben keinen unveränderlichen Ort; die Unterweisung orientiert sich an der jeweiligen Örtlichkeit, zum Nutzen der Bevölkerung insgesamt.«4 In Indien verurteilte die portugiesische Synode von Diamper (1599) die den nestorianischen indischen Thomaschristen zugeschriebene Sicht, dass »jeder in seinem eigenen Gesetz gerettet wird; sie alle sind gut und führen die Menschen zum Himmel.«5 Wie wir im Folgenden sehen werden, war es auch ein nestorianischer Bischof, der als Erster eine echte prophetische Sendung Muhammads anerkannte.6

In den westlichen Kirchen erlangte die Theologie der Religionen im Spätmittelalter neue Aufmerksamkeit, als man Judentum und Islam als eigenständige Religionen wahrzunehmen begann, und dann natürlich in der frühen Neuzeit nach der »Entdeckung« der östlichen Religionen. In den Werken von Nikolaus von Kues (1401–1464), Herbert von Cherbury (1583–1648), Matthew Tindal (1657–1733) und von Aufklärungsphilosophen und -theologen wie Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), Immanuel Kant (1724–1804) oder dem jungen Friedrich Schleiermacher (1768–1834) finden sich neue Ansätze zur Interpretation religiöser Vielfalt, die in eine pluralistische Richtung weisen. Zum Beispiel sagt Schleiermachen am Schluss seiner 1799 veröffentlichten einflussreichen Reden Über die Religion: »… und so wie nichts irreligiöser ist, als Einförmigkeit zu fordern in der Menschheit überhaupt, so ist nichts unchristlicher, als Einförmigkeit zu suchen in der Religion«.7 Zu einer ausgearbeiteten Option christlicher Theologie avancierte der religiöse Pluralismus jedoch insgesamt erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nachdem ab dem späten 19. Jahrhundert das Wissen über andere Religionen rapide zugenommen hatte.8 Man kann verschiedene Linien erkennen, entlang derer sich der religiöse Pluralismus nun entwickelte.

Erstens und besonders wichtig: Der Pluralismus entstand als Ergebnis eines ernsthaften interreligiösen Dialogs. Mehrere Pioniere des religiösen Pluralismus hatten den Dialog zunächst als Exklusivisten oder Inklusivisten begonnen. Aber in dem Maß, in dem sich ihr Verständnis anderer Religionen durch den Dialog mit deren Anhängern verbesserte, wuchs in ihnen die Überzeugung, dass sich christliche Überlegenheitsansprüche nicht länger rechtfertigen lassen. Prominente Beispiele christlicher Theologen, die erst durch ihre Dialogerfahrungen zu religiösen Pluralisten wurden, sind Raimon Panikkar (1918–2010), Stanley Samartha (1920–2001), Henri Le Saux / Swami Abhishiktananda (1910–1973), Lynn de Silva (1919–1982), Aloysius Pieris, Seiichi Yagi, Paul Ingram, Wilfred Cantwell Smith (1916–2000), John Hick (1922–2012), Rosemary Radford Ruether und Leonard Swidler.

Zweitens: Der Pluralismus entstand aus verschiedenen Versuchen, religiöse Vielfalt aus einer geschichtlichen und philosophischen Perspektive zu verstehen. Bereits in den letzten Schriften von Ernst Troeltsch (1865–1923) und Paul Tillich (1886–1965) finden sich frühe Tendenzen zu einem pluralistischen Ansatz.9 Doch erst ab den 1960er- und 1970er-Jahren entwickelten Raimon Panikkar,10 Wilfred Cantwell Smith11 und besonders der Philosoph und Theologe John Hick12 zentrale Eckpunkte einer in sich stimmigen pluralistischen Hypothese. Bis heute übt das Werk von Hick einen wichtigen Einfluss auf die Diskussion über den religiösen Pluralismus und seine weitere Entwicklung aus. Eine beeindruckende Zahl weiterer Systematischer Theologen und Religionsphilosophen (wie zum Beispiel Alan Race, Gordon Kaufman, Langdon Gilkey, Wesley Ariarajah, Glyn Richards, Peter Byrne, Maurice Wiles, Keith Ward, Leonard Swidler, Chester Gillis und Roger Haight) hat hierzu bedeutende Beiträge geleistet, die zum Teil auf Hicks Ideen aufbauen, diese ergänzen oder auch alternative Versionen von Pluralismus vorstellen.

Ein Theologe, den ich bisher noch nicht erwähnt habe, aber dessen Werk im christlichen Pluralismus und darüber hinaus großen Einfluss ausübt, ist der römisch-katholische Theologe Paul Knitter. Er repräsentiert eine dritte wichtige Linie in der Entstehung des Pluralismus. In ihr verbindet sich die Religionstheologie mit Impulsen aus der Befreiungstheologie. An einem entscheidenden Moment in der Entwicklung der Befreiungstheologie kam die Frage auf, wie der Einsatz für die Armen in jenen Teilen der sogenannten »Dritten Welt« praktisch umgesetzt werden könne, in denen die Mehrheit der Armen nichtchristlichen Religionen angehört. Diese Frage löste eine intensive Kontroverse und Debatte innerhalb die Ecumenical Association of Third World Theologians (EATWOT, Ökumenische Vereinigung von Dritte-Welt-TheologInnen) aus. Einige Befreiungstheologen argumentierten zugunsten eines exklusivistischen Ansatzes und kritisierten nichtchristliche Religionen, im Sinn von Karl Marx, als unterdrückerisch und, im...