Die kleine Straße der großen Herzen - Roman

von: Manuela Inusa

Blanvalet, 2019

ISBN: 9783641236335 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 8,99 EUR

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Die kleine Straße der großen Herzen - Roman


 

KAPITEL 1

»Ein Kamillentee mit Milch, bitte schön«, sagte Laurie und stellte die hübsche blaue Tasse auf dem metallenen weißen Tisch ab, an dem Mrs. Kingston, eine ihrer Stammkundinnen, Platz genommen hatte. Es war bereits ihre zweite Tasse. In der letzten halben Stunde hatte die Tratschtante der Gegend Laurie auf den neuesten Stand gebracht, was die Valerie Lane und die Umgebung betraf, während sie das Teeregal aufgefüllt hatte.

»Ich habe gehört, Sophie hat endlich ihren Archie verlassen«, berichtete Mrs. Kingston mit großen Augen. »Können Sie sich das vorstellen? Nach all den Jahren der Demütigung ist sie endlich aufgewacht.«

»Ehrlich?«, fragte Laurie. Wenn das stimmte, würde es sie wirklich freuen. Sophie war ebenfalls eine Stammkundin. Ihr Mann war ein notorischer Fremdgänger, und die Gute hatte das viel zu lange mitgemacht.

»Ich hab’s gehört.« Mrs. Kingston nickte bekräftigend, sodass ihre gewaltige Dauerwelle auf und ab wippte.

Laurie musste lächeln. Sie fragte lieber nicht nach, woher Mrs. Kingston das wusste. Die Frau hatte ihre Augen und Ohren nämlich überall und belauschte nur zu gerne die Unterhaltungen anderer. Es war schon ein bisschen gruselig, wie viel sie mitbekam, Laurie hatte fast Angst, überhaupt noch irgendwem irgendwas zu erzählen. Am Ende war nämlich sicher, dass auch Mrs. Kingston Wind davon bekommen würde.

»Wie geht es Ihrer Enkelin?«, fragte sie nun nach.

»Oh, Tanya geht es gut, danke. Sie schwärmt jetzt für irgend so einen Sänger, hab seinen Namen vergessen.«

Laurie fiel auf die Schnelle nur Justin Bieber ein, aber der war wahrscheinlich längst Schnee von gestern. Sie war wirklich nicht mehr auf dem Laufenden, was Teenie-Idole anging, und es würde noch eine ganze Weile dauern, bis es wieder so weit sein würde.

»Ich habe damals total für Liam Gallagher von Oasis geschwärmt«, erzählte sie Mrs. Kingston. Sie war fast achtunddreißig, Teenie-Schwärmereien schienen eine Ewigkeit her.

»Kenne ich leider nicht. Sah er gut aus?«

»Oh ja. Das tut er immer noch.«

»Ich für meinen Teil war ja bis über beide Ohren in Paul Anka verknallt.«

»Paul Anka?« Laurie musste lachen. »Das war doch einer dieser amerikanischen Schnulzensänger, oder?«

»Ja, genau. Und der ist auch heute noch ziemlich heiß.« Mrs. Kingston grinste frech, und Laurie legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Sie sind mir ja eine. Passen Sie nur auf, dass ich das Ihrem Willy nicht erzähle.«

»Ach«, winkte sie ab. »Der steht auf Jane Fonda. Da ist nichts dabei, wenn wir ein bisschen für andere schwärmen. Das hält unsere Ehe jung.«

Laurie lächelte vergnügt. Sie fragte sich, ob Barry und sie in dreißig Jahren auch noch so gut miteinander klarkämen. Doch, eigentlich war sie sich da ziemlich sicher. Sie waren einfach füreinander bestimmt, und seit er in ihr Leben getreten war, war sie so glücklich wie nie zuvor.

»Wie geht es denn Ihrer kleinen Familie?«, erkundigte sich Mrs. Kingston jetzt.

»Der geht es wunderbar«, antwortete Laurie und öffnete eine Kiste mit Hagebuttentee. »Alle sind wohlauf.«

»Das freut mich zu hören.«

In dem Moment klingelte das Telefon. Laurie sah sich nach ihrer Mitarbeiterin Hannah um, die aber anscheinend hinten im Lager war, und ging dann selbst ran.

»Laurie’s Tea Corner, was kann ich für Sie tun?«

»Hi, Schatz, ich bin es.«

»Gut, dass du anrufst. Ich hatte vergessen zu fragen, ob du die Mädchen heute bei deinen Eltern abholst oder ob ich das machen soll.«

»Ich mach das schon.«

»Hast du kein Fußballtraining?«

»Die halbe Mannschaft ist doch auf Klassenfahrt, deshalb fällt das Training aus.«

»Ach, stimmt, das hattest du erzählt. Sorry, ich hab so viel um die Ohren, dass ich die Hälfte vergesse. Dass du die Mädchen abholst, ist mir eine große Hilfe, dann kann ich heute ein bisschen länger bleiben und mich um die Buchhaltung kümmern.«

»Sollen wir dich danach abholen und irgendwo was essen gehen? Dann müssen wir später nichts kochen.«

»Perfekt. So gegen sieben?«

»Alles klar. Du, Laurie, hast du eigentlich schon die neuen Gemüsetees angeboten?«

»Oje, ich hatte noch gar keine Zeit, sie auszupacken. Aber du weißt, ich bin da skeptisch, ob Gemüsetees überhaupt ankommen. Am besten brühe ich mal einen auf und lasse meine Freundinnen probieren, bevor ich sie zum Verkauf anbiete.«

»Das ist doch eine gute Idee.« Barry schien zufrieden. Er war nicht nur Lauries Ehemann, sondern auch ihr Teehändler und war der Meinung, dass Gemüsetees der neue Trend sein könnten. Laurie sah die Sache ein wenig anders.

»Ich leg dann auf, ja? Ich hab jede Menge Kundschaft und muss mich auf die Suche nach Hannah machen, die mir irgendwie abhandengekommen ist.«

»Kein Problem. Bis später. Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch, mein Schatz.«

»Oh, wie süß Sie beide miteinander sind«, fand Mrs. Kingston und nahm noch einen Schluck Tee.

Laurie lächelte. »Haben Sie zufällig gesehen, wo Hannah hin ist?«

»Ja. Die ist vor einer Weile rausgegangen.«

»Raus?«

»Sie hat Ihnen doch Bescheid gesagt.«

»Das hat sie?« Laurie war verwirrt. Sie konnte sich nicht daran erinnern.

»Doch, doch, ich hab’s genau gehört. Sie waren wohl mal wieder woanders mit Ihren Gedanken. Sie haben viel zu tun, was? Denken Sie nicht, Sie brauchen mal eine kleine Auszeit? Ein paar Tage Urlaub?«

»Das wäre schön, ja. Aber im Moment ist das unmöglich. Die Tea Corner läuft besser denn je, da kann ich nicht einfach freinehmen.«

Eigentlich war das ja etwas Gutes, dass ihr Geschäft blühte. Eigentlich war es ganz wundervoll, dass so viele Leute in ihre schöne kleine Straße fanden, vor allem seit sich eine Bloggerin die Mühe gemacht hatte, der Valerie Lane eine eigene Seite zu widmen, und sogar eine wöchentliche Kolumne schrieb, um alle Interessierten auf dem Laufenden darüber zu halten, was es hier Neues gab. Doch mit zwei Kindern, einem Ehemann und einer Schar von Freundinnen, denen Laurie natürlich auch ein bisschen ihrer Zeit widmen wollte, war das alles gar nicht mehr so einfach zu meistern.

Aber Laurie wäre nicht Laurie, wenn sie den Kopf hängen ließe. Sie stand jeden Morgen guten Mutes auf und gab ihr Bestes, um allen gerecht zu werden.

Die Ladenglocke bimmelte, und Hannah kam zurück, als Laurie gerade einer Kundin ihren persönlichen neuen Lieblingstee – Schoko-Minze – anpries.

»Sorry«, formte Hannah mit den Lippen und räumte gleich ein paar leere Tassen von den Tischen. Sie hatte sich orangefarbene und bordeauxrote Bänder um die langen Dreadlocks gewickelt – ihre »Septemberfrisur« nannte sie es.

»Du warst ganz schön lange weg«, sagte Laurie in leisem Ton. »Hier ist viel zu tun, Hannah, kannst du Privates bitte beim nächsten Mal auf deine Mittagspause verschieben?«

»Das war doch meine Mittagspause«, entgegnete Hannah.

Laurie sah auf die Uhr. Es war tatsächlich schon kurz nach halb zwei.

»Oje. Ich bin wohl wirklich ganz schön durch den Wind heute. Tut mir leid.«

»Willst du jetzt Pause machen? Du solltest dringend durchatmen«, sagte Hannah und sah Laurie besorgt an. »Deine Aura gefällt mir gar nicht. Setz dich auf die Bank und lass dir ein bisschen Sonne ins Gesicht scheinen. Das wird dir guttun.«

»Okay. Dann kann ich ja auch gleich einen Gemüsetee aufbrühen und verteilen.« Sie entschied sich für den Rote-Bete-Tee und trat wenig später mit zwei Bechern aus der Tür.

Als Erstes ging sie zu Keira nach nebenan, die aber genauso viel Kundschaft hatte, von der Laurie ihre Freundin nicht abhalten wollte. Da sie sowieso schon am Morgen mit ihr telefoniert hatte, um ihr zum Hochzeitstag zu gratulieren, war es nicht schlimm, wenn sie beide jetzt keine Zeit zum Reden fanden. Laurie stellte ihr also nur den Becher hin und winkte ihr zu. Ruby jedoch, zu der sie als Nächstes ging, war weniger beschäftigt. Zwar befanden sich zwei Kunden in ihrer Buchhandlung, die stöberten aber nur in den Regalen und kamen allein zurecht.

»Hallo, Ruby. Wie geht es dir?«

»Sehr gut, danke. Was bringst du mir denn da Schönes?«

Laurie grinste schief. »Ob dieser Tee so schön ist, weiß ich ehrlich gesagt noch nicht. Das musst du beurteilen. Deshalb bin ich auch hier. Barry ist nämlich der Meinung, dass Gemüsetees total im Kommen sind. Ich bringe dir also Rote-Bete-Tee.«

Ruby lachte. »So was gibt es?«

»Oh ja. Bitte sehr.« Laurie reichte ihr den Becher.

Ruby nahm ihn entgegen und probierte. Im nächsten Moment verzog sie das Gesicht und sagte: »Ungewöhnlich.«

»Sei ehrlich, Ruby.«

»Okay, ich finde ihn leider gar nicht lecker.«

»Gut zu wissen.« Laurie lachte. »Schütte ihn einfach weg, ja?«

»Na gut. Tut mir echt leid.«

»Das muss es doch nicht. Geschmäcker sind verschieden, und Rote-Bete-Tee ist ja nun auch wirklich speziell.« Sie sah auf den Becher. »Lass mich mal probieren.«

Laurie nahm nun selbst einen Schluck und hätte diesen am liebsten gleich wieder ausgespuckt.

»Nicht so toll, oder?«, fragte Ruby.

»Du lieber Himmel, nein! Wer hat sich denn das nur ausgedacht? Und wie kommt diese Person darauf, eine solche Brühe Tee zu nennen? Schütte ihn weg, aber ganz schnell.«

Ruby lachte und ging nach hinten, um die rote Flüssigkeit wegzukippen. Sie gab Laurie den leeren Becher zurück. Außerdem hielt sie jetzt noch etwas anderes in der Hand.

»Sieh mal!«, sagte sie ganz aufgeregt.

»Oh mein Gott, ist das etwa Garys neues Buch?«

Rubys Freund Gary hatte, nachdem er vier Jahre lang auf der...