Julia Extra Band 457

von: Linda Goodnight, Sophie Pembroke, Rebecca Winters, Jennifer Faye

CORA Verlag, 2018

ISBN: 9783733710897 , 450 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 5,99 EUR

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Julia Extra Band 457


 

1. KAPITEL

Liam Jenkins kniff zum Schutz vor der tief stehenden Wintersonne die Augen zusammen. Er betrachtete das in der Ferne liegende Thornwood Castle und versuchte sich vorzustellen, dort zu leben.

Es gelang ihm nicht.

Weder das dunkle Grau der steinernen Mauern noch die wehrhaften Zinnen oder der düstere Schatten, den das Schloss inmitten der englischen Landschaft warf, wirkten besonders einladend.

Wenn er es in der Vergangenheit gewagt hatte, von einem Zuhause zu träumen, hatte er immer ein freundliches, ansprechendes Haus vor seinem inneren Auge gesehen. Irgendwo in Strandnähe in seiner Heimat Australien. Ein Haus, das er selbst entworfen und gebaut hatte – das nur ihm allein gehörte und frei war von bedrückenden Erinnerungen.

Stattdessen besaß er nun ein jahrhundertealtes englisches Schloss voll mit den Geschichten und Dingen anderer Menschen.

Und jetzt zog sich der Himmel auch noch zu, und es fing an zu regnen.

Seufzend lehnte Liam sich an seinen Mietwagen und ignorierte die eisigen Tropfen, die ihm von seinem Kragen in den Nacken liefen. Zum wiederholten Mal fragte er sich, was seine Großtante Rose sich nur dabei gedacht hatte. Als sie vor Kurzem starb, hatten sie sich bereits seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Und bevor es damals zu jenem desaströsen Treffen in London gekommen war, hatte er Thornwood Castle nur ein einziges Mal betreten. Von engen Familienbanden konnte also keine Rede sein. In seinen Augen war Rose nur eine von vielen Verwandten, in deren Leben für ihn kein Platz gewesen war.

Schon als er Rose das erste Mal besucht hatte, war Liam klar gewesen, dass er nie nach Thornwood Castle gehören würde. Mit all den Säulen, dem dicken Gemäuer und den verstaubten Rüstungen stellte Thornwood eine ganz andere Welt dar als die, in der er mit seiner Mutter in ihrem kleinen Haus an der australischen Goldküste gelebt hatte. Als er zehn Jahre alt war, starb seine Mutter, von der er immer geglaubt hatte, dass sie unbesiegbar sei. Sie war es nicht. Den Waisenjungen, der er damals war und der um seine Mutter trauerte, hatte der Gedanke, in Thornwood leben zu müssen, mit Angst und Schrecken erfüllt. Und das, noch bevor er seiner Furcht einflößenden Großtante überhaupt begegnet war.

Als Liam jetzt an sie dachte, erschauderte er bei der Erinnerung an ihre eisige Ausstrahlung. Die Art, wie sie über ihm aufragte, die stahlgrauen Haare streng zurückgekämmt, ihre dunkelblauen Augen den seinen so ähnlich. Er hatte die Augen seines Vaters – und niemand hatte wirklich je infrage gestellt, wessen Sohn er war. Nur hatte seine Familie sich nie öffentlich zu ihm bekannt.

Doch nun schob Liam die Erinnerungen beiseite und stieg wieder in den Wagen.

Thornwood gehörte ihm – ein Erbe, das er weder erwartet noch gewollt hatte, eine Last. Thornwood verkörperte mehr als bloß Geschichte. Es war das Vermächtnis einer Gesellschaft, die ihn verstoßen hatte, bevor er überhaupt auf die Welt gekommen war. Andernorts mochte die Zeit der Klassenkämpfe vorbei sein, mochte es egal sein, ob ein Kind außerehelich geboren wurde, aber Liam wusste, dass die alten Vorurteile auf Thornwood noch immer herrschten.

Zumindest, solange Rose gelebt hatte. Jetzt aber war sie tot.

Könnte Thornwood vielleicht doch ein Zuhause werden? Alles, woran Liam sich erinnerte, waren kalte, abweisende Räume und die unübersehbare Ablehnung des Butlers, der ihm damals die Tür geöffnet hatte.

Doch da war dieser Brief, den ihm der Anwalt übergeben hatte, als er Liam über sein Erbe in Kenntnis gesetzt hatte. Rose hatte den Brief nur wenige Tage vor ihrem Tod geschrieben und Liam darum gebeten, Thornwood Castle endlich zu seinem Zuhause zu machen und das Familienvermächtnis anzutreten.

Es ist heute anders, als du es in Erinnerung haben wirst …

Das hatte Rose ihm geschrieben. Aber aus dieser Entfernung sah das Schloss noch genau so aus wie vor fünfundzwanzig Jahren: grau, düster und abweisend. Nicht so, wie ein Zuhause aussehen sollte.

Aber vielleicht irrte er sich auch – schließlich konnte er sich kaum daran erinnern, ein richtiges Zuhause gehabt zu haben. Nachdem seine Mutter gestorben war, hatten ihn seine übrigen Verwandten einer nach dem anderen abgewiesen. Zuerst die seiner Mutter in Australien. Als er nach England gereist war, hatte auch die ihm völlig unbekannte Familie seines Vaters ihn abgelehnt. Danach hatte er bei verschiedenen Pflegeeltern gewohnt, ohne irgendwo längere Zeit zu bleiben. Als Liam erwachsen wurde, schuf er sich das Leben, nach dem er sich gesehnt hatte, eines, das auf seinen Leistungen gegründet war und nicht auf seiner Herkunft.

Und er hatte Erfolg. In seiner Welt wusste niemand, dass er das uneheliche Kind eines Lords oder eine Waise war. Dort kannten ihn alle als einen angesehenen Architekten, der seinen Umsatz mit jedem Jahr verdoppelte. Er hatte seine eigene Erfolgsgeschichte geschrieben.

Und vielleicht würde auch Thornwood ein Erfolg werden.

Das war zumindest der Plan. Die Zeit der altmodischen Herrensitze war vorüber, niemand brauchte noch so viel Platz. Das musste aber nicht bedeuten, dass man mit Thornwood kein Geld verdienen konnte. Auf Touristen übte der alte englische Adel noch immer eine enorme Anziehungskraft aus. Davon hatte seine Ex-Freundin Liam überzeugt, die sich liebend gern historische Fernsehserien ansah. Wenn Thornwood also ihm gehörte, musste es auch Geld einbringen – so wie jedes andere Gebäude, das er je entworfen oder restauriert hatte. Nur besaß Thornwood mehr Potenzial als die meisten anderen Gebäude.

Beim Gedanken an das Gesicht von Großtante Rose, die von oben – oder, was wahrscheinlicher war, von unten – zusah, wie Thornwood sich in einen Vergnügungspark verwandelte, musste Liam lächeln.

Sie würde es hassen. Und das war Grund genug, diesen Plan umzusetzen. Vielleicht konnte man es ja ausgleichende Gerechtigkeit nennen. Endlich übernahm er die Welt, die ihn als Kind zurückgewiesen hatte.

Anschließend würde er wie gewohnt weitermachen können, um sein wirkliches Zuhause zu finden. Und nicht eines, das ihm überlassen worden war, weil es sonst niemanden mehr gab.

Noch einmal sah Liam zu den Zinnen im grauen, trüben Licht des kalten Wintertages, den schmalen Fenstern und den alten Mauern. Er wusste, dass er bleiben würde, so wie Rose es gewollt hatte. Aber nur so lange, bis er mit diesem Kapitel seines Lebens abgeschlossen hatte. Mit der Familie, die ihn nie gewollt hatte.

Dann konnte er sein eigentliches Leben wieder aufnehmen.

Liam startete den Motor und fuhr zurück auf die Straße, um die letzte halbe Meile der langen, gewundenen Auffahrt zum Schloss zurückzulegen. Durch die Windschutzscheibe lächelte er dem Regen zu, der mittlerweile in Strömen fiel.

Er war fast zu Hause – vorerst.

Bestürzt betrachtete Alice Walters die Szene, die sich vor ihr abspielte. „Was ist denn hier passiert?“, fragte sie, während auf einem Rinnsal, das definitiv nicht in den Hauptsaal von Thornwood Castle gehörte, ein paar Stechpalmenbeeren an ihr vorbeitrieben.

„Penelope wollte die Zweige in den Vasen gießen“, erklärte Heather mit verschränkten Armen. Die Furchen, die sich seit Roses Tod dauerhaft in ihre Stirn gegraben hatten, wirkten noch tiefer als sonst. „Anscheinend ist sie abgelenkt worden.“

„Und hat vergessen, die Gießkanne aus dem Becken zu nehmen und das Wasser abzustellen.“ Es war nicht das erste Mal, dass Penelope abgelenkt worden war. Mittlerweile müsste Alice eigentlich daran gewöhnt sein. „Wo ist Danielle?“

„Keine Ahnung“, erwiderte Heather knapp. „Für eine Assistentin ist sie nicht besonders hilfreich.“

Alice seufzte. Das war ihr auch schon aufgefallen. Anfangs, als sie dem Mädchen angeboten hatte, ihr bei der Verwaltung und anderen Arbeiten auf Thornwood zu helfen – hauptsächlich, damit es nach dem Tod seiner Mutter etwas Geld verdienen konnte –, schien Danielle sich sehr gefreut zu haben. Doch in den letzten Monaten hatte sie sich kaum noch blicken lassen. „Na, dann holen wir besser mal einen Wischmopp. Er muss jede Minute hier sein.“

„Der neue Schlossherr“, sagte Heather mit kaum verhohlener Abneigung in der Stimme. „Ich kann es kaum erwarten.“

„Vielleicht ist er ja gar nicht so schlimm.“ Alice ging zur nächstgelegenen Abstellkammer und nahm einen Eimer und einen Mopp heraus. Da das Dach im Laufe der letzten Jahre zunehmend löchriger geworden war, versuchten sie immer, Eimer und Wischlappen zur Hand zu haben. Das einst stattliche Schloss war mittlerweile undicht wie ein Sieb und unmöglich warm zu halten. Alice fragte sich, ob dem neuen Eigentümer bewusst war, was ihn erwartete. „Sonst hätte Rose ihm das Schloss nie vermacht.“

„Nein?“ Heather nahm ihr den Mopp ab und begann das Wasser aufzuwischen, während Alice sich auf die Suche nach weiteren Lappen machte. „Er ist der letzte Nachkomme, ehelich oder nicht. Ob Rose ihn mochte oder nicht, hat keine Rolle gespielt. Sie musste ihm das Schloss hinterlassen, weil die Tradition es so wollte. Und du weißt, was Tradition ihr bedeutet hat. Solltest du jedenfalls, denn du hast dich oft genug mit ihr darüber gestritten.“

„Das stimmt.“ Wieder seufzte Alice. Als ob die Überschwemmung nicht schon schlimm genug wäre, hatte sie heute Vormittag die Aufgabe, dem neuen Besitzer von Thornwood Castle eine Führung durch sein Erbe zu geben.

Rose war keine einfache Frau gewesen, doch sie hatte über Pragmatismus verfügt. Alices Vorschlag,...