1.500 Meilen Ostwärts

von: Möhring Dagmar

Himmelstürmer Verlag, 2018

ISBN: 9783863617219 , 330 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 15,99 EUR

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1.500 Meilen Ostwärts


 

„Name?”

Sein Name stand da. Alles stand da, Hosengröße, Schuhbandlänge, Rechts- oder Linksträger. Die Frage ergab keinen Sinn. Vielleicht war sie eine Art Probe für Neuzugänge – wie der Dictation Test, den potentielle Einwanderer seit Inkrafttreten der White Australia Policy[1] absolvieren mussten. Fünfzig Worte in einer beliebigen europäischen Sprache – englisch, kroatisch, isländisch, was dem durchführenden Beamten gefiel. Auch Staatsangestellte brauchten etwas zu lachen.

„Name?”

Etwas Entsetzliches geschah. Keine dreißig Minuten nach seiner Festnahme tat Elijah das Allerschlimmste: Er verhielt sich renitent. Die Erkenntnis trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Er löste die in Gebetshaltung verschränkten Finger und wies auf das Formular. Achtete darauf, dass die Dielenbretter nicht unter seinen Schuhen knarrten.

„Steht da.” Krümeliger Rost in der Kehle. Er wollte neutral klingen, klarmachen, dass es nicht frech gemeint war. Frech war genauso schlimm wie renitent. Wahrscheinlich gab es irgendwo einen Innenhof mit einer Triangel, drei in Zeltform aufgestellte Holzbalken, mit Stricken für die Handgelenke und – damit der Stockmeister es einfacher hatte – einer Auflagefläche im Siebzig-Grad-Winkel. Für Häftlinge, die frech gewesen waren.

„Ich will´s von dir hören.“

Kein Zorn, die Stimme ausdruckslos wie eine beschlagene Scheibe. Bis eben hatte Elijahs Vorstellung von Polizeigewalt in einer Uniform bestanden, die ihn anbrüllte und schreckliche Strafen androhte. Jetzt erfuhr

er, dass Drohungen nicht unbedingt gebrüllt werden mussten.

Er versuchte, der Polizeigewalt hinter dem Schreibtisch nicht in die Augen zu sehen. Der Mann war klein, im Stehen bestimmt nicht größer als fünfeinhalb Fuß[2]. Fleckenlos blaue Uniform, jeder Zoll Stiefel poliert, jeder Messingknopf glänzend und geschlossen. Schütterer Haarkranz, kleiner Kopf, kleiner Mund, ein Vogelhals, der in der Kragenröhre verschwand. Kragenspiegel und ein Namensschild wiesen ihn als Police Inspector S. U. Stokes aus.

Hinter dem Fenster im Rücken des Beamten lagen, wie in der Hitze verdurstete Schafe, die wenigen Häuser von Pine Creek. Dazwischen verschrumpelte Teebäume, beigefarbener Schotter, der sich bemühte, den Eindruck einer Straße zu erwecken. Dem Fenster genau gegenüber eine Scheune, die Tore so weit geöffnet, dass sie praktisch nur aus Eckpfosten bestand. Der Blick wurde in sie hinein und hindurch gezogen, vorbei an Ställen und Geräten, hinaus in die kochende Ebene. Das Skelett eines Gebäudes, sinnlose Dekoration für ein Land, das ihr Fehlen nicht einmal bemerkt hätte.

„Versuchter Betrug, hm?” Inspector Stokes hielt inne, wartete bis die Schreibmaschine am Nachbartisch zu Ende geklackert hatte. Auf seinem eigenen Schreibtisch gab es außer der ledernen Unterlage nur Stempelkarussell, Löschwiege und mehrere Federhalter in einer Schale aus Gusseisen. „Dachtest, die Union Bank in Palmerston[3] könnte einen gefälschten Scheck nicht von einem echten unterscheiden. Nicht besonders schlau, oder?”

Aus der Weite zurück durch die Scheune, zurück durchs Fenster, um die spöttisch hochgezogenen Brauen seines Gegenübers herum, an die Wand. Steckbriefe und Ankündigungen, der Text des Föderationsreferendums von 1899, beginnend mit To the Australian Born[4]. Aus Zeitungen geschnittene Karikaturen von Aborigines und Chinesen. Auf einem großformatigen Plakat marschierten die sechs Gründerväter der Föderation[5], Schriftrollen schwenkend. Ihnen gegenüber ein Vertreter des britischen Empire, dem der Andrang offensichtlich nicht geheuer war. Im Versuch, Australiens drohende Abspaltung vom Mutterland zu verhindern, stand er mit schützend erhobenen Armen vor dem Parlamentsgebäude. Don´t be in such a hurry, Gentlemen[6] bettelte das Spruchband, das sich seinen Rücken hinunterschlängelte.

„Oder?”

„Nein”, sagte Elijah. „Nicht sehr schlau” und dachte an die Triangel.

„Und danach den Zug zu nehmen, war noch viel weniger schlau, siehst du das auch so?”

„Ja”, sagte er heiser, starrte auf die gnadenlos marschierenden Schriftrollenschwenker. „Ja, das sehe ich auch so.”

„Warum denn keine Schiffspassage nach Batavia[7]? Das hätte doch von da oben viel mehr Sinn ergeben. Von einem Scheckfälscher hätte ich an sich etwas mehr Intelligenz erwartet.”

Nicht an Stolz denken. Denk an die Triangel, an Rindlederpeitschen und Blutflecken auf Sand.

„War das erste, was da war.”

„Sir.”

„War das erste, was da war, Sir.”

„Tja, schade ums Fahrgeld.” Inspector Stokes überflog das Einlieferungspapier. „Denn so wie´s aussieht, hättest du dir die Fahrt sparen können.”

Er wählte einen Federhalter Marke Swan, schraubte ihn auf.

„Samstagmorgen geht ein Zug mit einem Abteil für Gefangenentransporte zurück nach Palmerston. Deine Verhandlung findet dort statt, ich nehme nicht an, dass du allzu lange auf einen Termin warten musst. Die drei Tage bis zur Abfahrt darfst du dich als Gast des australischen Staates betrachten.”

Er begann, die Leerstellen auf dem Bescheid auszufüllen, redete weiter.

„Schau, es sieht so aus: Wenn du dich anständig benimmst und den Kopf unten hältst, wird die Zeit hier nicht zum Unangenehmsten gehören, was dir bevorsteht. Falls nicht … nun, sagen wir es so: Es wäre sicher wünschenswert, wenn der Richter annimmt, dass er es mit einem anständigen jungen Mann zu tun hat. Einem, der nur manchmal ein bisschen weniger intelligent ist, als er zu sein glaubt. Denn noch bist du ja nicht rechtskräftig verurteilt. Und wir wollen doch, dass deine Akte schön sauber bleibt, oder?”

Er spielt mit dir. Elijah holte Luft für die Antwort. Spielt mit deiner Hoffnung, spielt mit deiner Angst. Der Gedanke an Stolz sprang auf und ab, winkte mit einer Totenkopfflagge.

„Ja”, sagte er, ignorierte das Winken.

Stokes schraubte den Federhalter zu, blies über das Geschriebene. Die Tinte glänzte schwarz, sank ein, wurde stumpf.

„Dann wären wir soweit durch.” Der Inspector legte das Papier beiseite, verschränkte die Arme auf der Schreibtischunterlage. „Übrigens, hübsche Weste, die du da hast. Und hübscher Haarschnitt. Und …” – Blick über den Tisch – „… auch hübsche Schuhe. Hast Pine Creek wohl mit der Flinders Street in Melbourne verwechselt, kann ja passieren. Jedenfalls werden sich die Jungs im Fanny Bay Gaol[8] bestimmt freuen, wenn du ein bisschen Kultur in ihre Zellen bringst.” Er ließ den Satz wirken, beobachtete, wie er sich einfraß. Dann setzte er einen Stempel auf das Formular, wandte sich an den Nebentisch:

„Constable Davis!”

„Sir!”

„Bringen Sie Mr. Marsden in seine Zelle.”

„Ja, Sir!”

Der Constable kam hinter seinem Schreibtisch hervor.

„Komm, Dandy”, sagte er freundlich, nahm Elijah beim Arm und dirigierte ihn durch das Büro in ein Hinterzimmer. Vorbei an einem weiteren Schreibtisch, einem kleinen Kanonenofen mit Brennholzkorb, Wasserkessel und einer Fünf-Pfund-Teebüchse, hin zu einer zweiten Tür. Er zählte Schlüssel an einem Eisenring ab – natürlich der letzte – überwand den Schlosskasten, dem eine Schraube fehlte, öffnete.

Die Tür schwang nach innen auf, kollidierte mit einem massiven Block abgestandener Luft. Elijah blieb stehen, bekam Constable Davis’ abfälliges Schnaufen ins Kreuz. Und hörte drinnen jemanden sagen …

„Wie is’n das, Jungs, kann ich ne Zigarette haben?”

 

Ein Augenblick völliger Blindheit, dann Geisterbilder vor Augen. Er stolperte in den Zellentrakt, schale Dunkelheit legte sich um ihn, eine mit Schweiß und Urin durchtränkte Wolldecke.

„Was’n jetzt, krieg’ ich eine?”

Das Dunkel wurde zu grünem Zwielicht. Zwei Zellen, die linke davon voller Dinge, denen eine Abstellkammer fehlte. Ein Stuhl, ein Besen, ein Kutschenrad. In der rechten warf ein Lichtfleck aus einem Fenster weit oben in der Wand Reflexe auf das Eisengitter. Auf der anderen Seite des Gitters lehnte ein Mann. Die Ärmel seines Leinenhemdes waren bis zum Ellenbogen hochgerollt, die Unterarme lagen auf der Querstange. Lässig gekreuzte Handgelenke, als sei er weniger Häftling denn interessierter Zoobesucher. Der Lichtfleck hatte seine Hände gefunden, spielte mit rötlich schimmernden Härchen.

Ehe der Mann zum dritten Mal fragen konnte, bekam er seine Antwort.

„Satz heiße Ohren kannste kriegen.” Davis zählte ein zweites Mal die Schlüssel durch. „Weg von der Tür, O’Connell.”

„Ich bin gar nicht an der Tür.”

„Weg hab ich gesagt.” Schlüsselbärte ratterten das Gitter entlang. Der Gefangene zog seine Hände aus dem Lichtviereck und trat zurück. Ein letztes Flimmern, Kupfer und Gold.

Türangelquietschen. Elijah betrat die drei mal vier Yards[9], die er sich in den nächsten Tagen mit einem Fremden teilen sollte. Die Hälfte der Grundfläche nahmen zwei brettdünne Schlafpritschen ein....