So war's damals - Tatsachenbericht eines Solinger Arbeiters 1926-1948

von: Willi Dickhut

VNW - Verlag Neuer Weg, 2018

ISBN: 9783880215122 , 563 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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So war's damals - Tatsachenbericht eines Solinger Arbeiters 1926-1948


 

Der Betrieb, ein Kampfplatz des Klassenkampfes


„Jeder Betrieb muß unsere Festung sein!“ (Lenin)

Es war an einem Samstagnachmittag, im Herbst 1925. Ein Tag wie jeder andere, doch sollte er für mein ganzes Leben entscheidend werden.

In der engen Zweizimmerwohnung meiner Cousine Anna unterhielt ich mich mit ihrem Mann über betriebliche Dinge. Richard und ich waren im gleichen Solinger Betrieb beschäftigt.

Es klopfte an der Tür, und herein trat ein älterer Arbeiter.

„Tag zusammen!“ grüßte er.

„Tag Hein!“ sagte Richard und holte aus der Schrankschublade ein kleines rotes Büchlein.

Ohne weitere Worte klebte der Mann ein paar Marken ins rote Buch, kassierte und ging. Er war offensichtlich so zurückhaltend, weil ich dabei war.

Ich nahm das rote Büchlein zur Hand. Auf der Titelseite ein Bild der Erdkugel, von Ketten umschlungen. Ein Arbeiter zerschlägt mit einem schweren Hammer die Ketten. Darüber stand: KOMMUNISTISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS, und darunter: PROLETARIER, ALLER LÄNDER VEREINIGT EUCH!

Ich wurde nachdenklich: Proletarier vereinigt euch! Ja, warum bin ich eigentlich nicht auch Mitglied der Kommunistischen Partei?

Damals war ich 21 Jahre alt und durfte somit wählen. Im April 1925 war die Reichspräsidentenwahl gewesen. Alle Parteien der Bourgeoisie, vom reaktionären bis zum liberalen Flügel, traten für den Kandidaten Hindenburg ein. Hindenburg war reaktionär bis auf die Knochen, im I. Weltkrieg Generalfeldmarschall, soll er inmitten des furchtbaren Mordens und der Zerstörung von sich gesagt haben:

„Der Krieg bekommt mir wie eine Badekur!“

Ich haßte alle Kriegsbrandstifter, war doch am letzten Tag des Weltkrieges mein einziger Bruder im Lazarett gestorben. Er wurde mit den letzten Rekruten, den 18jährigen, eingezogen und starb, durch jahrelangen Hunger geschwächt, an den Folgen des brutalen Ausbildungsdrills. Mir waren alle verantwortlichen Kommißköpfe vom Schlage Hindenburgs, Ludendorffs, Tirpitz u. a. ein Greuel.

Die KPD hatte als Gegenkandidaten zur Reichspräsidentenwahl Ernst Thälmann berufen. Die Partei hatte in den Massen keinerlei Illusion über die Wahl erweckt und in ihrem Aufruf vom 11. April die Massen aufgefordert:

„Arbeiter! Ausgebeutete!

Nicht mit der Bourgeoisie – nur im Kampf gegen ihre schwarzrotgoldenen Agenten könnt ihr die stärkere Ausbeutung und Unterdrückung, die Auslieferung als Kanonenfutter für neue Imperialistenkriege verhindern.

Nur das revolutionäre Proletariat, das die Monarchie im November 1918 zerschlagen, das den Kampf für die sozialistische Republik geführt hat und von Ebert und Hindenburg blutig niedergeschlagen wurde, das den Kapp-Putsch abgewehrt hat, das 1923 aufmarschierte, um die Faschisten zu verjagen, das 1924 gegen die ,Deutschen Tage‘ der Monarchie demonstrierte, nur das revolutionäre Proletariat, als Klasse geeinigt, von der Kommunistischen Partei geführt, unter der roten Fahne, kann die Schlacht gegen die reaktionäre Bourgeoisie schlagen …

Organisiert den Massenkampf gegen die Bourgeoisiediktatoren, gegen Hindenburg und Marx! (Dieser Marx war damals führender Zentrumspolitiker und Reichskanzler – W. D.)

Heraus zu Massendemonstrationen gegen die monarchistische Reaktion, gegen ihre Schrittmacher, die schwarzrotgoldenen Reaktionäre!

Für die rote Klassenfront des Proletariats!

Für den Sturz der Bourgeoisie und für die Errichtung der proletarischen Diktatur!

Nicht Wahl des Präsidenten der Bourgeoisie – Demonstration für den Klassenkampf, Bekenntnis zur proletarischen Revolution, das sei die Abstimmung

am 26. April für Ernst Thälmann!“

Diese Argumente hatten mich überzeugt und ich hatte meine Stimme Ernst Thälmann gegeben. Aber ich war noch kein Kommunist.

Gewerkschaftlich organisiert war ich bereits seit Januar 1921 im Deutschen Metallarbeiter-Verband. Aber genügt das? Mit der Mitgliedschaft in der gewerkschaftlichen Organisation war mein Klassenbewußtsein geweckt, aber mit dem Übergang von der Unorganisiertheit zur gewerkschaftlichen Organisation war es noch schwach entwickelt. Wohl hatte ich mich 1920 als Lehrling am Generalstreik gegen den Kapp-Putsch beteiligt, aber doch mehr aus Neugierde als aus Klassenbewußtsein.

Das Jahr 1923, der Höhepunkt der rasenden Inflation – gegen Jahresende war eine Goldmark eine Billion Papiermark wert – hatte wesentlich zur Entwicklung meines Klassenbewußtseins beigetragen. Aufgrund des stündlichen Kurszerfalls der Mark wurden die Löhne täglich ausbezahlt. Nach Feierabend stürmten die Arbeiter die Geschäfte, um so schnell wie möglich ihr Geld in Ware umzusetzen. Der Reallohn sank immer schneller, während die kapitalistischen Großschieber und Spekulanten mit ihren Sachwerten riesige Profite einsteckten. Die Massen hungerten, und Unruhen waren an der Tagesordnung. Große Teile der werktätigen Bevölkerung wurden von einer revolutionären Kampfstimmung erfaßt, besonders in Mitteldeutschland und Hamburg. All das machte auf mich einen starken Eindruck.

Als dann Anfang 1924 die 48-Stunden-Woche rigoros abgebaut und die Arbeitszeit auf 57½ Stunden die Woche verlängert werden sollte, traten die Arbeiter – auch in Solingen – in den Streik zur Verteidigung des 8-Stundentages. In Solingen beteiligten sich bis zu 20 000 Streikende. Ich war damals bei der Firma Kampschulte beschäftigt. Die Belegschaft nahm aktiv am Kampf teil, der sich fünf bis sechs Wochen hinzog.

Auf Antrag der KPD-Fraktion wurden von der Stadtverwaltung Volksküchen eingerichtet, um die Streikenden mit einer warmen Suppe zu versorgen, denn Streikunterstützung gab es nicht. Dieser wochenlange, erbittert geführte Streik und die anschließende Maßregelung durch die Geschäftsleitung, d. h. meine fristlose Entlassung, deckten mir meine Klassenlage auf und stärkten mein Klassenbewußtsein. Ich erkannte die Notwendigkeit des revolutionären Ausweges, vor allem als der Staat in den Kampf eingriff, durch Schiedsspruch die Arbeitszeit auf 56 Stunden die Woche festsetzte und den Streik dadurch beendete.

Ich war einer der vielen Arbeiter, bei denen es nur eines geringen Anstoßes von außen bedurfte, um Mitglied der revolutionären Arbeiterpartei, der KPD, zu werden. Dieser Anstoß kam an jenem denkwürdigen Herbsttag 1925.

Richard war kein Agitator, er war ein stiller Arbeiter, der mehr gefühlsmäßig Kommunist war. Bis dahin hatte ich nicht gewußt, daß er Mitglied der KPD war.

Richard hatte mich still beobachtet, als ich so nachdenklich sein Parteibuch in meinen Händen hielt.

„Sind Deine Brüder auch Mitglied?“ fragte ich ihn.

„Artur ja, Waldemar nicht!“

„Und warum ist Waldemar nicht Mitglied?“

„Er hat andere Interessen!“

Richards ganze Familie wohnte in einem der „Höfe“, die es in Solingen häufig gab. Das waren alte Hofschaften, die ursprünglich eine in sich abgeschlossene Einheit bildeten, aber mit der Ausdehnung der Stadt in den neuen Wohngebieten lagen. Trotzdem hatten sie sich eine gewisse Eigenheit bewahrt, die Eigenart des Bergischen Landes.

Richards Bruder Artur wohnte zwei Häuser weiter. Er war mit einer strenggläubigen Katholikin verheiratet, die ihm wegen seiner politischen Einstellung arg zusetzte, ermuntert durch den Pfarrer. Die Frau machte Artur das Leben zur Hölle. Ein Jahr später hat er sich das Leben genommen …

Waldemar, Richards zweiter Bruder, war ein Jahr älter als ich und in einem anderen Betrieb beschäftigt. Warum wollte er nicht auch Kommunist werden? Was hielt ihn davon ab?

Ich legte das rote Büchlein auf den Tisch zurück und faßte einen folgenschweren Entschluß: Ich will Mitglied der Kommunistischen Partei werden.

Aber sollte ich mit leeren Händen kommen? Nein! Ich nahm mir vor, Waldemar für die KPD zu gewinnen.

Ich suchte Wallys Freundschaft, und wir unternahmen Wochenendwanderungen, zuerst zu zweit, dann mit den „Naturfreunden“.

Der „Touristenverein die Naturfreunde“ war eine Arbeitersportorganisation wie der Arbeiterschwimmverein oder der Arbeiter-Rasensport u. a., die durch Sozialdemokraten und Kommunisten politisch beeinflußt wurde. Das ging nicht ohne Reibungen ab; bald kristallisierten sich wegen der unterschiedlichen Haltung zum Klassenkampf zwei Flügel, ein reformistischer und ein revolutionärer, heraus. Das führte oft zu grundsätzlichen Auseinandersetzungen, bis die Bezirksleitung des Touristenvereins die Solinger Ortsgruppe und andere Ortsgruppen des Bergischen Landes aus dem Gesamtverband ausschlossen.

Die übergroße Mehrheit der Mitglieder des Solinger Touristenvereins entschied sich für die kommunistische Politik. Ein kleiner Teil, meist Mitglieder der SPD, bildete einen separaten „Touristenverein die Naturfreunde“, die „Pfaffenberger“ genannt, weil sie sich am Hang der Wupperberge an der Hofschaft Pfaffenberg ein Naturfreundehaus gebaut hatten. Die kommunistisch beeinflußten Naturfreunde bauten am „Theegarten“ ein größeres Heim und wurden danach die „Theegartener“ genannt. Zwischen den beiden Gruppen kam es nie wieder zu einer Vereinigung, auch nach dem II. Weltkrieg nicht.

Wally und ich wurden Mitglied der „Theegartener“ Gruppe. Auf unseren Wanderungen wurde viel über Politik diskutiert, sowohl über die allgemeine Lage, als auch über Kommunalpolitik, über Betriebsarbeit und Gewerkschaftspolitik. Die Genossen der KPD zogen Wally und mich in ihre Gespräche hinein. Wir stellten viele Fragen, die sie geduldig beantworteten. So gewannen wir einen politischen Überblick, der auch das Interesse Wallys weckte und mich veranlaßte, ihn noch intensiver zu...