Eingeimpft - Familie mit Nebenwirkungen

von: David Sieveking

Verlag Herder GmbH, 2018

ISBN: 9783451811814 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Eingeimpft - Familie mit Nebenwirkungen


 

Prolog:
Impfmasern


Ich bin ein Impfversager.

Der Laborbefund in meiner Hand zeigt es schwarz auf weiß. Obwohl ich als Kind gegen Masern geimpft wurde, steht da: »Serologisch kein Anhalt für Immunität«. Das heißt, bei mir war der Impfstoff offenbar wirkungslos oder hat seine Wirkung verloren. Zum Glück bin ich bislang auch ohne Schutz um die Masern herumgekommen. Das heißt aber auf der anderen Seite: Ich kann sie noch bekommen! Und gerade sind hier in Berlin die Masern ausgebrochen, es ist sogar die größte Ansteckungswelle seit zehn Jahren. Wenn ich jetzt eins nicht gebrauchen kann, dann sind das Masern!

Meine Lebensgefährtin Jessica ist hochschwanger, und unsere zweijährige Tochter Zaria (gesprochen Saria) denkt noch immer nicht dran durchzuschlafen! Wir habe wirklich genug Sorgen: Gerade sind wir Hals über Kopf aus unserer Kreuzberger Wohnung an den Stadtrand gezogen und leben inmitten von Umzugskisten. Das neue Haus ist noch eine halbe Baustelle, aus jeder Ecke ruft es »Arbeit! Arbeit!«. Hinzu kommt, dass die Kleine in ihre neue Kita eingewöhnt werden muss. Dabei ist unsere Elternzeit längst vorbei, und als selbstständig Tätige müssten wir uns eigentlich Vollzeit unseren Berufen widmen: Jessica als Filmkomponistin, ich als Dokumentarfilmer und Autor. Jetzt haben wir zwar ein Haus und im Prinzip genug Platz für die Kinder, aber dafür haben wir auch einen Berg Schulden.

Impfen sollte da wirklich noch unsere kleinste Sorge sein! Aber irgendwie haben wir uns in dem Thema festgebissen und die Impfentscheidung für unsere Tochter so lange vor uns hergeschoben, bis es sich zu einer Riesensache aufgeschaukelt hat. Nun geht es auch noch darum, das Neugeborene zu schützen, und der Masernausbruch vor unserer Haustür hängt sowieso wie ein Damoklesschwert über uns.

Während also alle Gedanken und Sorgen um unsere Kinder kreisen, kommt auf einmal dieser Brief aus dem Labor, der mir einen Spiegel vorhält: »DU bist das Problem!« Auf einmal bin ich als gefährliche Virenschleuder identifiziert. Nicht auszudenken, wenn ich unser Baby mit Masern anstecken würde, die gerade bei Neugeborenen zu lebensbedrohlichen Spätfolgen führen können.

Moment mal, was heißt denn dieses Laborergebnis jetzt? Schlagen bei mir vielleicht gar keine Impfungen an? Mein Impfpass ist gut gefüllt, vor allem mit Reiseimpfungen, nachgeprüft hab ich das aber nie. Bis vor Kurzem wusste ich auch gar nicht, dass es so einen Antikörper-Bluttest überhaupt gibt. Hab ich in Indien und Afrika einfach nur Schwein gehabt und hätte ich mir da ohne Weiteres Gelbfieber, Hepatitis oder Kinderlähmung einfangen können? Am Ende ist mein Impfversagen noch erblich, und ich gebe dieses Immundefizit auch noch meinen Kindern weiter!

Dieser enttäuschende Laborbefund kommt zu einer Zeit, in der ich mich sowieso schon als Impfversager fühle. Nicht im medizinischen Sinne, was mein Immunsystem betrifft, sondern in meiner Rolle als Vater. Ich habe bis dato als Erziehungsberechtigter darin versagt, meine Tochter wenigstens gegen Masern impfen zu lassen, und sie somit unnötig in Gefahr gebracht! Damit nicht genug. Dadurch, dass unsere Tochter andere anstecken kann, ist sie auch noch ein Risiko für unsere Mitmenschen. Ich habe also nicht nur privat-individuell, sondern auch öffentlich-sozial versagt. Sie ist zwei Jahre alt und noch gegen gar nichts geimpft. Normalerweise hätte sie nach medizinischem Standard in Deutschland schon über ein Dutzend Impfungen gegen dreizehn verschiedene Krankheiten erhalten sollen.

Gerade hat Zaria im Nebenzimmer ihre allabendliche stundenlange Ich-schlaf-nicht-ein-Arie beendet, und Jessica und ich liegen selber todmüde im Bett. Es sind die ersten Minuten an diesem Tag, in denen wir in Ruhe etwas besprechen können. Meistens schläft Jessica in dieser hochschwangeren Phase schon vor unserer Tochter, aber unser Baby in spe hat wohl Schluckauf und strampelt so ungestüm herum, dass an Ruhe nicht zu denken ist.

»Du, Schatz«, beginne ich vorsichtig, während ich Jessica sanft über das Haar streichele. »Die Kleine ist ja gerade zur Abwechslung mal gesund. Sollten wir da nicht die Gelegenheit nutzen und gegen Masern impfen, bevor sie sich gleich wieder was einfängt?« Leider kann ich dabei nicht ihren Gesichtsausdruck beurteilen, denn seit einiger Zeit können wir wegen ihres Bauchumfangs nur noch in Löffelposition aneinander liegen. »Die haben jetzt den Einzelimpfstoff in der Praxis, und wir sollten es hinter uns bringen, bevor der wieder vergriffen ist.«

Eigentlich sind wir uns ja einig, unsere Tochter Zaria gegen Masern zu impfen, besonders in dieser akuten Ausbruchsituation. Es gibt sogar schon Masernfälle in unserem Bekanntenkreis. Und eine Freundin hat neulich ihren Besuch mit ihrem Baby, das noch zu jung für eine Masernimpfung ist, bei uns abgesagt. Sie hatte erfahren, dass unserer Tochter nicht geimpft ist. Seitdem ein anderthalbjähriger Junge in einer Berliner Intensivstation an den Folgen einer Masernerkrankung gestorben ist, wird über eine Impfpflicht diskutiert.

Wir wollen ja auch gerne impfen! Allerdings ist Jessicas Bedingung, dass die Kleine kerngesund sein muss vor der Injektion, um ihr Immunsystem nicht zu überfordern. Aber kerngesunde Kinder im zweiten Lebensjahr sind meiner Erfahrung nach ein Widerspruch in sich. Unsere Tochter hangelt sich jedenfalls seit einem Jahr von einem Infekt zum nächsten. So gesehen ist sie momentan erstaunlich gut dran! Da hört man ein deutliches Husten aus dem Babyphon. Ich räuspere mich zur Ablenkung, aber es nützt nichts.

»Von wegen gesund!«, bemerkt Jessica.

»Ach das bisschen Husten. Wenn dich das schon stört, dann stell dir mal vor, sie kriegt jetzt die Masern so kurz vor der Geburt. Dann liegt sie wochenlang im Bett und du musst in den Kreißsaal!?« Schweigen. Ist sie beeindruckt? »Und so ein Masern-Lebendimpfstoff«, setze ich nach, »ist ja eigentlich auch richtig gesund und wie eine natürliche Erkrankung! Das wird unsere Kleine nicht nur vor Masern schützen, sondern auch insgesamt widerstandsfähiger machen.«

»Bevor Zaria geimpft wird, sorg du erst mal für deinen eigenen Schutz«, erwidert sie trocken. Autsch!

»Kann ich ja machen! Aber trotzdem, jetzt, wo Zaria in die Kita geht, ist es viel wahrscheinlicher geworden, dass sie sich mit Masern ansteckt.«

Jessica ist zum Glück keine irrationale Impfgegnerin, die irgendwelchen Verschwörungstheorien anhängt oder davon überzeugt ist, dass es keine krank machenden Viren gibt. Sie glaubt schon daran, dass Impfungen im Prinzip funktionieren, aber sorgt sich um die Nebenwirkungen der Präparate. Ihre Einstellung ist vor allem auf ihre eigene schlechte Erfahrung mit Impfungen zurückzuführen. Sie hat auf Spritzen schon immer sehr sensibel reagiert. Überhaupt kenne ich keinen Menschen, der so empfindlich reagiert, selbst auf extrem gering dosierte Substanzen. Sie hat eine Paracetamol-Allergie und nimmt nur sehr, sehr ungern Medikamente. Und wenn doch, dann meist nur eine Dosis für Kleinkinder. Schmerztabletten werden grundsätzlich zerkleinert und portionsweise eingenommen, wenn überhaupt. Ein Glas Wein wirkt bei ihr wie anderthalb Flaschen bei mir. Ihre erste und einzige Erfahrung mit Cannabis klingt wie mein kühnster LSD-Trip.

Damals bei unserem ersten romantischen Abend in einer Bar dachte ich erst, sie sei ein »cheap date«, weil sie schon nach dem ersten Drink so aufgekratzt war. Doch an ihrer Haustür war erst mal Endstation und der Weg in ihr Schlafzimmer noch ein weiter. Auch eine Billigpizza für 1,99, zu der ich sie an einem der folgenden Abende einlud, brachte noch nicht den erhofften Umschwung. Immerhin unterhielten wir uns sagenhafte vier Stunden an einem wackligen Stehtisch. Ich erzählte ihr vom langen Abschied meiner Mutter, die seit einigen Jahren mit Alzheimer diagnostiziert war, und sie berichtete mir vom plötzlichen Herzinfarkt-Tod ihres Vaters vor einigen Jahren. Wir schenkten uns von Anfang an viel Vertrauen, und als es dann nach diversen Kinobesuchen und einer gemeinsamen Reise endlich zur Sache ging, ließ der Kinderwunsch nicht lange auf sich warten.

Eben durchbricht das Husten unserer Tochter die nächtliche Stille.

»Ist sie denn zugedeckt?«, fragt Jessica.

»Ich glaube schon«, flunkere ich, »aber ich guck lieber mal.«

Seufzend stehe ich auf und gehe ins Kinderzimmer. Dort liegt unser Kind, natürlich ohne Decke. Wir haben anfangs versucht, diesen ärztlichen Rat zu befolgen, Neugeborene nicht unter Decken zu legen, sondern in Schlafsäcke zu stecken. Aber Zaria hat dann eine Schlafsackaversion entwickelt und immer verzweifelt versucht, sich den Stoff vom Leib zu reißen, bis wir es aufgaben. Das Risiko, sie könnte ersticken, ist auch gleich null, da sie jegliche Bettdecke in Nullkommanix wegstrampelt. Nun treibt Jessica aber offenbar die Sorge um, Zaria könnte erfrieren. Um sie davor zu bewahren, muss man warten, bis sie tief eingeschlafen ist, dann kann man sie heimlich zudecken. Aber das ist kein Zustand von Dauer. Aber um Jessica den Gefallen zu tun, decke ich sie noch einmal zu.

»Sie hustet bestimmt, weil sie unterkühlt ist«, stellt Jessica fest, als ich zurück ins Bett krieche.

»Unterkühlt? Ihr ist eher zu heiß, ich hab mal das Fenster aufgemacht. Kalte Luft beruhigt den Husten.«

»Das kann ja sein, aber ihr Körper muss dabei warm sein! Hast du ihr Socken angezogen?«

»Noch nicht.«

»Und wann willst du das machen, hast du dir nen Wecker gestellt?« Jessica macht umständliche Anstalten aufzustehen und ächzt mit ihrem riesigen Bauch.

»Ist ja gut, ist ja gut, ich geh ja schon. Aber ICH mag das nicht, mit Socken...