Jetzt kann ich nicht mehr schweigen - Ich war erst sechs, als mein Vater mich missbrauchte

von: Donna L. Friess

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2018

ISBN: 9783732561704 , 338 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 7,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Jetzt kann ich nicht mehr schweigen - Ich war erst sechs, als mein Vater mich missbrauchte


 

April 1948 Venice,
Kalifornien


»Aufwachen, Donna.« Meine eigene Stimme beruhigte mich, als ich zu mir kam. »Du hast nur wieder denselben alten Traum.«

Ich wachte auf und fühlte mich wieder einmal atemlos und ausgebrannt. Es war immer der gleiche Traum, den ich so häufig während des Mittagsschlafes hatte, der, in dem die pfirsichfarbene Decke meines Etagenbettes völlig durcheinander geraten war und ich die knittrigen Falten in der Nähe meiner Füße nicht mehr ertragen konnte. In meinem Traum gelang es mir nicht, die Decke richtig glatt zu ziehen, so sehr ich mich auch anstrengte.

Ich rollte mich auf den Rücken, um besser atmen zu können, und bald darauf begannen mein Daumen und mein Zeigefinger die Satinkante der Bettdecke zu reiben, während ich an die Zimmerdecke starrte. Undeutlich nahm ich das quietschende Geräusch der Ölpumpe wahr, die sich nebenan auf- und abbewegte, auf und ab, und Öl aus dem Sand hervorpumpte. Eine leichte Brise kam auf und brachte das schwache Aroma von Öl und Seeluft mit sich.

Meine Gedanken schweiften ab zum vergangenen Sonntag. Es war ein besonders schöner Strandtag gewesen. Gewöhnlich kam die Brandung bis zum Zaun unseres Hofes heran, aber am Sonntag war der Wasserstand so niedrig gewesen, dass der Strand unendlich schien und wie ein Juwel vor dem zurückweichenden Wasser glänzte.

Die ganze Familie war ausgeschwärmt, um zu sehen, was es im nassen Sand zu finden gab. Daddy lief barfuß mit meiner kleinen Schwester Sandy auf den Schultern. Ich lief voraus und war in Moms Nähe, immer auf der Suche nach schönen Muscheln.

»Donnie, komm hierher«, rief sie aufgeregt. Ich schaute auf und sah, wie sie über etwas gebeugt war, was im Sand lag, und einen Augenblick lang war ich voller Liebe für sie. Sie war schlank, mädchenhaft und wunderschön in ihrem geblümten Badeanzug, mit ihrem langen blonden Haar, das ihr ins Gesicht fiel, als sie untersuchte, was sie in der Hand hielt.

Ich rannte auf ihr drängendes Rufen hin zu ihr und schaute mir das seltsame Objekt genau an. »Was ist das?«

Mom hielt einen perfekten Sanddollar in der Hand. Die Zeichnung auf seiner Vorderseite sah aus wie eine prachtvolle Blume. Sie drehte ihn herum.

»Was siehst du?« Ihre Stimme war warm und ermutigend. Es gefiel ihr, uns etwas über unsere Welt beizubringen.

»Die rote Unterseite ist ganz wabbelig. Mommy, warum ist sie so wabbelig?«

»Weil er noch lebt. Die Sanddollars, die wir normalerweise finden, sind tot. Das Purpurrot zeigt uns, dass er lebt.«

»Kann ich ihn anfassen?«

»Sei aber ganz vorsichtig.«

Die Begeisterung darüber, diese wunderbare neue Kreatur entdeckt zu haben, ergriff mich völlig, und ich musste zu Sandy und Dad herüberlaufen. Er setzte Sandy ab, damit auch sie den Sanddollar anfassen konnte.

»Sandy, er lebt«, quiekte ich, als die zögernde Dreijährige behutsam einen kleinen Finger nach ihm ausstreckte.

Daddy ließ uns einzeln am Wasser entlangmarschieren, während er unseren Sanddollar vorsichtig im Sand vergrub und ihm damit die Chance gab zu überleben.

Das war wirklich der beste Nachmittag gewesen! Mommy half uns, Sandburgen zu bauen und setzte kleine Krabben in den Burghof, damit das Gebäude auch Bewohner hatte, und Daddy ließ Steine über die Wasseroberfläche springen, während wir gebannt zuschauten. Eins, zwei … sieben Hüpfer. Mommy und Sandy und ich, wir alle versuchten es, aber keine von uns kam auch nur annähernd an ihn heran. Daddy war der Champion unter den Steinewerfern. Er war so gutaussehend und muskulös, er konnte alles. Alle sagten immer, dass er und Mom ein wunderbares Paar seien, und an diesem sonnenüberfluteten Nachmittag waren sie es wirklich, in jeder Hinsicht. Wir schienen eine verzauberte Familie zu sein, die in einem magischen Liebeskreis lebte. Und doch – ganz tief in meinem Innern hielt ich den Atem an und hoffte inständig, es möge so bleiben.

Es schien ohne Bedeutung zu sein, dass wir noch nicht einmal ein richtiges Haus hatten, sondern in einem Ein-Zimmer-Strandbungalow lebten. Aber als wir an diesem Abend dorthin zurückkehrten, war er erdrückend klein und beengend mit seiner grünen Couch in der Mitte und je zwei Etagenbetten an den Wänden. Sandy und ich nahmen ein Bad und waren schon fast zu müde, um über unser gewohntes Spiel mit glitschigen zusammenstoßenden Autos in der Wanne zu kichern.

Mom und Dad schafften es, den Abend zu verbringen, ohne einander anzubrüllen. Aber später in der Nacht – sie dachten beide, dass wir schliefen – hörte ich Dad leise fluchen, als er sich zu Mom ins untere Etagenbett drängte. Dann hörten wir die gedämpften Geräusche ihres Streits und ihrer Kapitulation, die uns so vertraut waren und uns doch immer wieder aus der Fassung brachten.

Ich versuchte an diesem Dienstagnachmittag auf meinem Etagenbett die Szene aus meinem Gedächtnis zu löschen, und mir wurde plötzlich bewusst, dass ich die ganze Zeit über wütend auf der Satinkante meiner pfirsichfarbenen Bettdecke herumgerieben hatte. Ich wusste sowieso nicht, warum ich am Nachmittag schlafen sollte wie ein Baby, aber unser Babysitter Mimi wollte es so. Es schien sie zu langweilen, auf uns aufzupassen. Ich mochte Wochentage überhaupt nicht. Normalerweise fühlte ich mich einsam, aber daran war nun mal nichts zu ändern. Dad arbeitete in seinem Geschäft für Autozubehör, und Mom nahm Unterricht an der Oper.

Ich hätte eigentlich in den Nightingale-Kindergarten gehen sollen, aber alle Plätze waren schon belegt, als Mommy mich hatte anmelden wollen. Ich war so enttäuscht. Ich war fünf Jahre alt und wollte unbedingt in die Schule gehen, sehnte mich danach, von unserer schäbigen Hütte wegzukommen und neue Freunde kennen zu lernen. Aber ein weiteres Jahr musste ich noch zu Hause bleiben, verdammt dazu, dumme Mittagsschläfchen zu halten und im Raum herumzustarren, in dem Daddy Stoffbänder mit schiefen Kanten aufgehängt hatte.

»Aristokraten«, hatte mein Vater uns immer genannt. »Vergiss nie, dass du eine Aristokratin bist, Donna. Dein Name bedeutet nicht ohne Grund ›elegante Dame‹. Eines Tages wirst du eine bedeutende Frau sein.« Ich habe seine Stimme noch im Ohr.

Die Familie Landis war von einer besonderen Gattung – echte Kalifornier in einem Staat, der zunehmend von Zugereisten aus anderen Bundesstaaten bevölkert wurde. Der Zweite Weltkrieg war vorbei, und die Menschen, die auf Kriegsschiffen die kalifornischen Häfen mit Ziel Pazifik verlassen hatten oder gekommen waren, um hier in den Verteidigungsanlagen zu arbeiten, entschieden sich häufig dafür, sich endgültig niederzulassen. Aber meine Eltern waren in Los Angeles geboren und aufgewachsen, ein echter Sohn und eine echte Tochter des ›Goldenen Staates‹.

Die Familienmitglieder väterlicherseits waren Apotheker, die die erste Drugstore-Kette in Los Angeles besaßen. Die Familienlegende erzählt, dass sie so reich waren, dass meine Großtante in der Los-Angeles-High-School um 1890 den Spitznamen »Hütchen« trug, weil sie mehr Hüte besaß – das Statussymbol der Zeit – als irgendein anderes Mädchen in der Schule. Mein Großvater, Big Ray, besaß noch einen Drugstore und ging täglich zur Arbeit. Der Tradition der Familie Landis entsprechend wurde sein einziger Sohn, mein Vater, auf die Universität von Südkalifornien geschickt, um dort Pharmazie zu studieren.

Der Vater meiner Mutter besaß eine bescheidene Malerwerkstatt. Seine Töchter waren die erste Generation der Familie, die aufs College ging. Mom war die dritte Tochter und sollte wie ihre Schwestern an der Universität von Kalifornien zur Lehrerin ausgebildet werden.

Meine Mom und mein Dad hatten dieses Füreinander-Geborensein-Gefühl und kannten sich in der Tat schon seit High-School-Zeiten. Es mochte ausgemachte Sache sein, dass sie heiraten würden, aber nicht so schnell, wie sie es dann wirklich taten. Als der Krieg ausbrach und mein Vater eingezogen werden sollte, bestand er auf der sofortigen Hochzeit. Andernfalls wollte er die Beziehung mit Mom beenden. Sie waren erst siebzehn damals, und sie wollte studieren, um unterrichten zu können, aber andererseits wollte sie ihn auch nicht verlieren. Erstaunlicherweise waren ihre Eltern einverstanden. Er schien sie so sehr zu lieben.

In den kommenden Jahren, wenn Dad und ich unsere »besonderen« Gespräche führten, erzählte er mir oft, wie sehr er meine Mom geliebt hatte – »verrückt vor Liebe« war sein Ausdruck dafür. Er hatte geglaubt, dass er das College ohne sie nicht würde durchstehen können.

Mom war gerade 18, als sie heiratete, und wurde in der Nacht zu ihrem Geburtstag meine Mutter. Es war ihr gelungen, sich an der Universität einzuschreiben, obwohl sie mit mir schwanger war, und Dad wurde für das Pharmazie-Studium angenommen. Moms Vater starb plötzlich, als ich gerade sechs Monate alt war. Kurz darauf wurde Dad trotz seines Status als verheirateter Student eingezogen, und Mom musste allein klarkommen. Zwei Jahre später wurde Dad aus medizinischen Gründen – er hatte ein blutendes Magengeschwür – aus der Armee entlassen. Die Familiengeschichte sagt, dass er einfach die Bevormundung oder die Einsamkeit fern von seiner Familie nicht ertragen konnte, und offensichtlich hielt er es dann am College auch nicht mehr aus.

Als sie 25 Jahre alt waren, schien das Leben meiner Eltern eine ernste Wendung genommen zu haben. Anstatt, wie geplant, einer viel versprechenden Zukunft als Apotheker und Lehrerin entgegenzusehen, hatten sie jetzt gar nichts. Voller Zorn bestand mein Vater darauf, dass meine Großmutter ihn auf ihrem Strandgrundstück...