Ochita Tenshi - Gefallener Engel - Band 2 - Kibo

von: K.R. Cat

dead soft verlag, 2018

ISBN: 9783960892120 , 678 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Ochita Tenshi - Gefallener Engel - Band 2 - Kibo


 

 

~ Kapitel 1 ~


 

Yokohama 10.06.2005

 

Kia Itô

Kawasaki-Street. 17

3. Stock – Yokohama

 

Da stand er nun, gekleidet in zerrissene Jeans, ein T-Shirt samt Jacke, die, wie er selbst, dringend eine Wäsche nötig hatten, und mit einem Rucksack mit seinen Habseligkeiten, und sammelte all seinen Mut, um an der Tür zu klingeln. Noch einmal überprüfte er den Namen und die Nummer, nur um völlig sicherzugehen. Sie stimmten. Seufzend ließ Tenshi den Zettel sinken. Seit vier Wochen war er nun schon auf der Suche nach seinem Geliebten, auf der Suche nach Kuroi. Ohne Erfolg. Keine Spur von dem ehemaligen Wolf. Bis Tenshi, kurz bevor er drauf und dran war, seine Suche abzubrechen, auf Kurois Schwester gestoßen war – Kaori Roshi. Nur lebte sie nicht mehr unter diesem Namen, was ihn Etliches an Zeit und Nerven gekostet hatte, bevor er endlich ihre derzeitige Adresse auf einem Zettel in seinen Händen gehalten hatte. Die Chance, dass Kuroi hier war, war winzig, das wusste er, aber … es war sein letzter Strohhalm.

Er klingelte.

Nichts.

Er klingelte erneut.

Wieder nichts.

Tenshi wusste nicht warum, aber insgeheim war er auch ein wenig froh darüber, Kuroi gerade hier nicht anzutreffen. Die Gegend war alles andere als vertrauenswürdig. Und das Haus, in dem Kaori – oder eher Kia, wie sie sich jetzt nannte – lebte, hatte seine besten Tage längst hinter sich.

Gegenüber öffnete sich die Tür und ein Junge von kaum neun Jahren trat heraus. Er trug nichts weiter als ein fleckiges Unterhemd und eine ebenso dreckige Unterhose am dürren Leib. Dreist musterte er Tenshi aus dunkelbraunen Augen.

„Die is’ unterwegs. Kommt sicher erst heut’ Abend wieder.“

Tenshi sah auf seine Uhr. Kurz vor zwei. Er sah wieder zu dem Jungen.

„Weißt du, ob jemand bei ihr wohnt? Ein junger Mann, um die zwanzig?“, fragte er zögerlich, woraufhin der Junge anzüglich grinste.

„Hier renn’n ‘ne Menge Kerle rum …“

„Er ist ihr Bruder!“, unterbrach Tenshi ihn rasch und irritiert. Von was ging dieser Junge denn aus?

Neugierig musterte der Junge ihn jetzt, zuckte dann aber die schmalen Schultern. „Keine Ahnung, aber …“

„Schon gut, ich warte.“

Der Junge schnaubte beleidigt angesichts der Tatsache, dass er mit seinem Wissen nicht weiter prahlen durfte, und schloss missmutig die Tür.

Und einmal mehr befielen Tenshi Zweifel. War es richtig, hierherzukommen? Mit einem tiefen Atemzug ließ er sich auf der morschen Treppe nieder, die daraufhin leise protestierend knarrte.

„Kuroi …“ Wehmütig zog er eine Kette aus seinem Hemd, an der zwei Ringe hingen. Sacht ließ Tenshi sie hin und her schwingen. Er hatte Angst – Angst, dass er Kuroi nicht finden würde. Und wenn, dass Kuroi ihn nicht sehen wollte. Er würde es verstehen. Er wusste, wie sehr er seinen Freund mit seiner Ignoranz verletzt hatte, als Kuroi ihn wohl am dringendsten gebraucht hätte. Wie er ihn. Dennoch klammerte sich Tenshi an einen Hoffnungsschimmer. Den Schimmer, der von Kurois Ring ausging. Viel mehr war ihm von dem charismatischen Mann nicht geblieben, dem er vor gut einem Jahr in Tokyo an einer Shrine-Anlage begegnet war. Doch noch war Tenshi nicht bereit, sich geschlagen zu geben. Nicht bereit, Kuroi aufzugeben.

Die Zeit verging nur schleppend. Einige Male streckte der Junge von gegenüber seinen Kopf heraus, doch sobald Tenshi aufsah, schlug er ohne ein Wort zu verlieren die Tür rasch wieder zu. Eine alte Frau kam gegen halb fünf die Treppe hochgeschlurft. Mürrisch starrte sie Tenshi an, brummte etwas kaum Verständliches vor sich hin und schlurfte dann mit einem verächtlichen Zischen weiter. Tenshi warf einen weiteren Blick auf die Uhr. Kurz vor sieben öffnete sich abermals unten die Haustür.

Eine schlanke, ausgemergelte Frau kam herauf. Als sie vor der Tür links von ihm stehen blieb, erhob sich Tenshi zögerlich. Sollte das Kaori sein? Kurois Schwester? Die Frau warf ihm einen kurzen Blick zu und suchte stumm ihren Schlüssel aus der kleinen pastellfarbenen Handtasche, die sie über der rechten Schulter trug. Schweigend beobachtete Tenshi sie. Sie zögerte, als sie die Tür geöffnet hatte. Ohne sich zu ihm umzuwenden, gab sie ihm ein Zeichen, ihr zu folgen.

Mit Unbehagen betrat Tenshi die Wohnung. Sie wirkte kalt und unnahbar, wie die Frau vor ihm. Mit abgehackten Bewegungen streifte sie sich die Schuhe ab, ließ sie einfach liegen und ging in den nächsten Raum. Tenshi folgte ihr wortlos. Auch hier herrschte eine bedrückende Stimmung, was zum größten Teil daran liegen mochte, dass es kaum Möbel gab und allem der Hauch des Verfalls anhaftete.

Schweigend sah sich Tenshi um. Es gab nirgends Anzeichen, dass sich Kuroi hier aufhielt, oder es vor kurzem getan hatte. Diese Tatsache zu erkennen, lähmte seine Gedanken für einige Sekunden. Was sollte er tun, wenn er hier wirklich keine Spur von Kuroi fand? Was noch, das er nicht schon versucht hatte? Er lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Frau vor ihm. Sie beobachtete ihn und irritiert bemerkte Tenshi den lasziven Schimmer in ihre Augen. Als ob … Eine Gänsehaut kroch ihm den Nacken hinauf, eine Ahnung. Er wollte sich kein Urteil über Kurois Schwester erlauben, aber er konnte nichts dagegen tun, dass er sie schnell für eine drogensüchtige … Rasch verbot sich Tenshi weitere Gedanken in diese Richtung, verbannte die Bilder dieser Gegend und der Leute, denen er unten auf der Straße begegnet war, und versuchte sich daran zu erinnern, wen er vor sich hatte.

Doch die Frau grinste ihn plötzlich anzüglich an.

„Ohne Extras 16000 Yen. Alles andere je 8000 Yen zusätzlich.“

Also doch. Nun wusste Tenshi, worauf der Junge gegenüber angespielt hatte. Ein wehmütiges Gefühl beschlich ihn und allmählich verstand er, warum Kuroi nie über seine Schwester hatte sprechen wollen, die nach seinen Worten seine letzte lebende Verwandte war.

„Bist du Kaori?“

Das dreiste Grinsen auf den roten Lippen erstarrte. Ernst musterten ihn die hellen Augen erneut, während ihre Besitzerin sich bedächtig eine Zigarette anzündete.

„Ist schon eine ganze Weile her, dass man mich so genannt hat. Wie hast du mich gefunden?“

„Es hat seine Zeit gebraucht“, wich Tenshi aus. Er wollte sich nicht unbedingt an die zurückliegenden Wochen erinnern. Kuroi hatte mit seiner Vermutung schlussendlich doch Recht behalten, das Leben auf den Straßen war nichts für ihn, auch wenn er bisher überlebt hatte.

„Und was willst du von mir?“ Kaoris kalte Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. Sie war ans Fenster getreten, schob sacht die Gardine beiseite. Unten stand ein älterer Mann, der ihr auffordernd zugrinste. Mit einer lässigen Geste grüßte sie zurück. Einer ihrer Kunden für diesen Abend, und sicher nicht der letzte. Sie wandte sich ihrem Besuch wieder zu, wartete ungeduldig auf dessen Erklärung. Seit über sieben Jahren hatte sie keiner mehr bei ihrem Geburtsnamen genannt. Nachdem ihre Eltern tödlich verunglückt waren und das Jugendamt im Krankenhaus aufgetaucht war, war sie abgehauen. Wohin, das war ihr damals reichlich egal gewesen. Nur weg. Während sie nun an diese Zeit zurückdachte und ihr Leben jetzt betrachtete, beschlich sie ein Hauch von Wehmut, und doch würde sie sich jedes Mal wieder so entscheiden. Sie hatte genug, um über die Runden zu kommen. Freunde an jeder Ecke, und oft genug war sie so high, dass ihr die Realität vollkommen scheißegal war.

„Ich … ich …“

„Junge, ich will Geld verdienen! Also mach jetz’, oder verschwinde!“

„Ich suche Kuroi“, entgegnete Tenshi kühl. Er mochte Kaori definitiv nicht!

Kälte spiegelte sich jetzt auch in Kaoris Augen wider.

„Was willst du von ihm?“

„Ich … suche ihn.“

Kaori zog an ihrer Zigarette, dann fixierte sie ihn. „Bist du etwa dieser Tenshi?“, fragte sie höhnisch.

Es war wie ein purer Adrenalinstoß – Kuroi war also wirklich hier gewesen, hatte sogar von ihm gesprochen. Dennoch zögerte Tenshi einen Moment. Kaoris Tonfall warnte ihn, etwas Falsches zu sagen. Wobei, was war hier das Falsche? Ohne eine Auskunft über Kuroi kam er keinen Schritt weiter!

„Warum?“

„Wenn, würde ich dich auf der Stelle rausschmeißen“, knurrte Kaori und drückte den Zigarettenstummel auf dem Fensterbrett hinter sich aus.

Tenshi wich ihrem forschenden Blick nicht aus, auch wenn er sein Unbehagen verstärkte. Dieser Ablehnung war er in den letzten Wochen auf unterschiedlicher Weise häufiger begegnet.

Kaori nickte kurz und zündete sich eine neue Zigarette an. „Ja, er war hier. Jammerte rum wegen eines Kerls. Gott, wie pervers.“

Nur mühsam verkniff sich Tenshi eine bissige Antwort. Schwule waren doch nicht krank!

„Und wo ist er jetzt?“, fragte er stattdessen beherrscht.

„Hab ihn vor die Tür gesetzt. Mit ‘nem Homo als Bruder leb’ ich nicht zusammen.“

Als ob ihre Moralvorstellung heilig ist, dachte Tenshi wütend. Diese gleiche engstirnige Ansicht kannte er nur zu gut von seinem eigenen Bruder, Akuma.

„Aber er ist dein Bruder!“

„Nich’ mehr seit sieben Jahren“, entgegnete Kaori gleichgültig. Den Gedanken daran, dass sie irgendwo noch einen Bruder hatte, hatte sie seit damals schnell und erfolgreich verdrängt – bis Kuroi plötzlich vor ihr gestanden hatte. Mitten auf der Straße. Für beide Seiten war...