Weiterleben ohne Wenn und Aber - Die Shoah-Überlebende Giselle Cycowicz

von: Sabine Adler

Aufbau Verlag, 2018

ISBN: 9783841216403 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 11,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Weiterleben ohne Wenn und Aber - Die Shoah-Überlebende Giselle Cycowicz


 

Rosi


Giselle erscheint um Punkt 10 Uhr in meinem Hotel. Es liegt, wie sie später erklärt, keine zehn Minuten von ihrer Wohnung entfernt.

Giselles Fahrer startet mit uns zu ihrer üblichen Patienten-Runde. Zuerst geht es zu Rosi. In einer Art Briefing erfahre ich, dass Rosi in Auschwitz war, Ungarisch spricht und ein paar Brocken Deutsch, über 90 Jahre alt ist und in einem Nobel-Altersheim wohnt. Der Fahrer setzt uns an einer Schranke ab, hinter der sich eine weitläufige, gepflegte Gartenanlage erstreckt. Nach der Rezeption wie in einem Hotel kommen wir an einem Kiosk mit Lebensmitteln vorbei und durchqueren etliche Räume für Beschäftigungen aller Art. Ein Saal, der kurz vor Rosis Wohnung liegt, ist an diesem Morgen von Hobby-Malerinnen bevölkert. Die betagten Damen tuschen überwiegend farbenprächtige Blumen- oder Landschaftsgemälde. Fröhlich strecken sie uns ihre Arbeiten entgegen. Giselle wird freudig begrüßt, als wir den großen Raum im Souterrain betreten. Immer wieder bleibt sie stehen, tauscht kurz ein paar Neuigkeiten aus, stellt mich vor. Sie kennt jede »Künstlerin« persönlich. Alle wohnen hier im Heim, leben in eigenen vier Wänden mit Küche, Bad, Wohn- und Schlafzimmer und werden von meist asiatischen Pflegekräften rund um die Uhr betreut. Niemand merkt sich deren Vornamen, obwohl die jungen Frauen sehr geschätzt werden, als extrem fleißig und hilfsbereit gelten und oft viele Jahre an der Seite ihrer Patienten verbringen. Auf Giselles Klingeln öffnet eine sympathische Philippina die Tür. Die Patientin, Rosi Mandelbaum, nähert sich mithilfe eines Rollators. Ihr Haar steckt unter einer Strickmütze. Dass sie sie in der Wohnung trägt, jetzt im Sommer, ist ein Hinweis darauf, dass sie sich wie Giselle als orthodoxe Jüdin versteht. Die untersetzte Gestalt kommt nur langsam voran. Sie schenkt uns einen warmen Blick. Zur Begrüßung umarmt sie ihre Therapeutin, gibt mir die Hand und stellt sich vor: Rosi. Sie nennt Giselle bei ihrem deutschen Namen Gisela, wechselt mit mir aus Höflichkeit ein paar Worte Deutsch, doch untereinander sprechen beide Ungarisch. Giselle übersetzt ins Englische, wie immer, wenn ihr für die deutsche Sprache die Geduld fehlt. Anders als Giselle, die ein Sprachtalent ist, neben Englisch, Hebräisch und Ungarisch auch noch Tschechisch, Jiddisch und Deutsch spricht, beherrscht Rosi nur ihre Muttersprache. Trotz der vielen Jahre im Londoner Exil und obwohl sie seit langem in Israel lebt. Rosi Mandelbaum konnte sich außerhalb ihrer Familie kaum verständigen. Jetzt mit Giselle ist alles anders. Von allein wäre Rosi Mandelbaum vermutlich nicht auf die Idee gekommen, sich psychologische Hilfe zu holen. Sie wurde gefragt, ob sie eine Psychotherapie beginnen möchte. Das Angebot machte sie neugierig, vor allem, weil die Sitzungen in ihrer Muttersprache stattfinden sollten. Giselle war die erste Person, mit der sie sich überhaupt über das Vernichtungslager Auschwitz austauschte und über das, was sie seitdem quält. Keines ihrer sechs Kinder weiß mehr, als dass die Nazis dort ihre Eltern, Brüder und Schwestern ermordet haben. Was sie durchlitt, hat sie nur Giselle anvertraut. Es hat mit einer Leibesvisitation auf dem Transport in das Vernichtungslager zu tun, bei der nach Diamanten und anderen Wertgegenständen gesucht wurde, nur so viel deutet sie an. Für die damals 15-jährige Rosi war dieser Eingriff – vorgenommen von einem SS-Mann – schlimmer als alles, was danach geschah. Jedes Betteln der Mutter, die unschuldige Tochter in Ruhe zu lassen, war vergebens. Das Erlebnis erwies sich als traumatisierend. Ein Trauma ist weit mehr als nur ein belastendes Lebensereignis. Es gibt keinen freien Willen mehr, keine freiwilligen Handlungen.

»Als Gisela das erste Mal kam, saß sie, so wie jetzt hier, bei mir in der Küche«, erzählt die alte Dame, die uns als gute Gastgeberin Kaffee einschenkt und Zucker dazugibt. Der größte Teil landet auf dem Tisch, ihre Hand mit dem Löffel zittert. Giselle übersetzt und übernimmt das Gespräch: »Sie kannte mich nicht, ich war gerade von Amcha geschickt worden.« Amcha ist eine gemeinnützige Institution, die seelische Hilfe für Holocaust-Überlebende organisiert. Denn gerade im Alter werden sie von ihren verdrängten Erinnerungen heimgesucht, fühlen sich einsam und sind mitunter depressiv. Giselle gehört zu den rund 400 Amcha-Psychologen, die diese hochbetagten Menschen in Israel betreuen. Sie ist mit Abstand die älteste Kollegin und zudem die einzige, die selbst den Holocaust überlebt hat. Rund 40 Jahre praktiziert sie nun schon, fast ihr halbes Leben lang, und noch immer denkt sie nicht ans Aufhören. Als müsste sie das früher Versäumte nachholen. Schon als junges Mädchen wollte Giselle Psychologin werden. Sie hat ihren Wunsch lange aufschieben müssen. Erst mit 51 Jahren erfüllte sich ihr Traum. Als ginge es um ausgleichende Gerechtigkeit, wurde ihre Zielstrebigkeit mit einem zwar späten, aber umso längeren Berufsleben belohnt. Als Teenager las Giselle Stefan Zweigs Buch Die Heilung durch den Geist auf Ungarisch, das war 1941. Zweig stellt in den drei Erzählungen drei Psychologen vor, unter anderem Sigmund Freud. Es war Giselles erste Bekanntschaft mit ihm. Eine Offenbarung. Sie war elektrisiert. Der Gedanke ließ sie nicht mehr los, dass man Dinge in Menschen zutage fördern konnte, die sich in ihrem Innersten abspielen und sie hindern können, die zu werden, die sie sein möchten. Sie wollte den Menschen helfen, ihre inneren Widerstände zu erkennen und sich gegen sie durchzusetzen. Zugleich packte die aufgeweckte 14-Jährige Angst, denn zu jener Zeit saß sie in Ungarn fest, das mit Nazi-Deutschland kollaborierte. In Europa tobte der Zweite Weltkrieg.

Geboren wurde Giselle 1927 in der Tschechoslowakei. In Chust, das in einer Gegend lag, in der sich alle paar Jahre die Grenzen verschoben. In ihrer Heimatstadt herrschte ein Vielvölkergemisch. Giselles eingetragener Name in der Geburtsurkunde klingt deutsch: Gisela Friedman. Die Juden in der Stadt und Region waren nicht reich, besaßen und bestellten kein Land, denn das war ihnen verboten. Als Händler dominierten sie das Geschäftsleben. Es ging ihnen gut.

Von ihrem Elternhaus hätte Giselle jede Unterstützung bekommen, erzählt sie. Ihr Vater las, wo er ging und stand. Er sorgte dafür, dass seine drei Töchter Hebräisch-Unterricht bekamen. Die Mutter redete mit ihnen Ungarisch. Ihr Mann bevorzugte Jiddisch. Wilhelm und Johanna Friedman, wie beide Eltern mit offiziellem Namen hießen, wären die Letzten gewesen, die ihren Mädchen Steine in den Weg gelegt hätten. Sie hätten Giselle auch das Studium finanziert. Die Familie lebte von den Erlösen ihrer Weinhandlung und dem Vertrieb von Mineral- und Heilwassern und gehörte zur Mittelschicht in Chust. Von den 20000 Einwohnern waren 8000 Juden. Der Rest bestand zur einen Hälfte aus Ungarn, zur anderen aus Ukrainern sowie einer kleinen deutschen Minderheit, Umsiedlern aus Schwaben, denen zu Ehren es eine Schwab-Straße gab. Das Gebiet heißt Karpaten-Ukraine oder Karpato-Rus. Bis zum Ersten Weltkrieg war die Region erst Teil der Habsburger Monarchie, danach der Tschechoslowakei, später gehörte es zur Sowjetunion, heute zur Ukraine.

Die Eltern Hannah und Wolf Friedman. Der Vater war Inhaber einer Heilwasser- und Weinhandlung in Chust. Die heutige ukrainische Stadt gehörte bis 1938 zur Tschechoslowakei.

Die kleine Gisela und ihre beiden älteren Schwestern wuchsen überaus behütet auf. Der Laden des Vaters lag im Erdgeschoss des Elternhauses, oben wohnte die Familie. Sie hatten einen Obst- und einen Ziergarten. Im Sommer unternahmen sie Ausflüge zur nahegelegenen Festung auf dem Berg.

Das Einzige, was Giselle damals Sorgen machte, war ihre Bildung. Wenn sie nicht bald richtig lernen durfte, würde die Psychologie für sie unerreichbar bleiben.

So begeistert sie von der ersten Bekanntschaft mit Sigmund Freud war, geht Giselle Cycowicz heute nach anderen Methoden vor. Vor allem, weil sie es inzwischen fast nur mit Patienten in ihrer letzten Lebensphase zu tun hat. Ein Mensch in so fortgeschrittenem Alter hat ihrer Meinung nach kaum noch etwas gemein mit dem drei- bis vierjährigen Kind vor Jahrzehnten. Und schon bei deutlich jüngeren Personen dauere es Jahre, mithilfe der Freud’schen Analyse das wirkliche Problem eines Patienten herauszufinden. Sie sagt: »So viel Zeit haben wir nicht.«

Als frühere Familientherapeutin schaut sich Giselle wenn möglich das Umfeld der Patienten an. Auch Rosi Mandelbaum bat sie um ein Treffen mit allen Kindern, Schwiegertöchtern und -söhnen und Enkeln. Giselle wollte die Familie beisammen erleben, Jung und Alt. Die Verwandten kamen, waren aber misstrauisch und nervös, sie fühlten sich beobachtet, vor allem bewertet, wussten nicht, was für die Therapeutin von Interesse war. Giselle wollte sehen, welchen Platz ihre Patientin im Kreis ihrer Angehörigen einnimmt, wie sie mit ihr umgehen, ob sie Rücksicht auf ihre Bedürfnisse nehmen. Gelingt es ihr, sich Gehör zu verschaffen? Wird sie mit Respekt behandelt? Nimmt sie eine lenkende oder dienende Rolle ein? Steht ihr jemand besonders nahe? Fühlt sich die Patientin in der Nähe einer bestimmten Person besonders unwohl? Geht sie ihr aus dem Weg, vermeidet sie den Kontakt? Wer hat das Sagen? Rosis Mann ist vor Jahren gestorben, zu keinem Familienmitglied hatte sie ein so enges Vertrauensverhältnis wie zu ihm. Er fehlt ihr. Aber selbst er kannte nicht ihre ganze Geschichte.

Inzwischen gehörte Giselle zu ihrer Familie, sagt Rosi. Weshalb fasste Rosi so schnell Vertrauen zu Giselle? Weil sie wie sie in Auschwitz war? »Ja. Da muss man...