Die Madonna der Berge - Roman

von: Elise Valmorbida

Diana Verlag, 2018

ISBN: 9783641220068 , 432 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 17,99 EUR

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Die Madonna der Berge - Roman


 

Schneeschmelze

Ihr Vater hat sich aufgemacht, um ihr einen Ehemann zu suchen. Er hat sein Maultier genommen, eine Fotografie und Proviant eingesteckt: selbst gemachte Sopressa-Wurst, kalte Polenta, eine kleine Flasche Wein, aber kein Wasser, die ganze Welt ist voller Wasser. Es ist Frühling, eine gute Zeit für eine Verlobung, so überraschend wie ein wildes Alpenveilchen auf einem nassen Fels, so süß wie ein winziges Veilchen, das vom schmelzenden Bergschnee getränkt wird.

Maria Vittoria bestickt ein Laken für ihre Aussteuertruhe.

Alle arbeiten emsig, nutzen das Tageslicht. Zwölf Familien, die eng beieinander Holz hacken, Reparaturen erledigen, hämmern, kochen, waschen, Fallen stellen, Weinreben beschneiden, Silberweiden abbeizen und flechten, robustes Saatgut pflanzen, Hafer, Tabak, Kohl, Zwiebeln, Erbsen, und aus den Ställen kommen die üblichen Geräusche – doch in der ganzen Contrà ist spürbar, dass ihr Vater fehlt. Ein Körper ohne Kopf.

In seiner Brusttasche steckt das einzige Bild, das es von ihr gibt, es wurde aufgenommen, als sie siebzehn war, zusammen mit ihren Schwestern, Brüdern, Eltern und Großeltern. Nun, mit fünfundzwanzig, ist sie fast nicht mehr zu verheiraten, doch sie ist stark und gesund, und ihre kleine Schwester Egidia findet sie schön. Es ist einfach Pech, Gottes Wille oder Schicksal, dass in diesem Tal und im nächsten keine heiratsfähigen Männer leben, nur kränkliche, aus Inzucht hervorgegangene Kreaturen, Bucklige und Männer, die von den Österreichern zu Krüppeln gemacht wurden. Es ist nicht zuträglich, dass die Contrà so entlegen und aus den Städten schwer zu erreichen ist. Außerdem würde ihr Vater nicht jeden Dahergelaufenen akzeptieren – er muss an seinen Namen und seinen gesellschaftlichen Stand denken. Ihm gehört ein wenig Land. Er macht Geschäfte. Er hat sogar seinen eigenen Briefkopf.

Bevor das Foto aufgenommen wurde, vor der Evakuierung, hatte Maria einen Heiratsantrag bekommen. Der Mann hatte den weiten Weg von Villafranca auf sich genommen, und in seinen Papieren stand, er müsse nicht mehr kämpfen, er hätte eine ordentliche Pension und besondere Privilegien. Aber er hatte einen Finger und ein Auge verloren.

Wer weiß, was ihm sonst noch fehlt?, fragte ihr Vater, nachdem er das Angebot abgelehnt hatte. Wir finden jemand Besseren.

Und Mama sagte das, was alle sagten, alle Cousinen, alle Frauen: No se rifiuta nessun, gnanca se l’è gobo e storto. Weise niemanden ab, auch wenn er buckelig und krumm ist. Und Papà befahl ihr, mit diesen Binsenweisheiten aufzuhören.

Maria spricht leise mit sich selbst, stellt sich ein Gänseblümchen vor, von dem sie ein Blütenblatt nach dem anderen abreißt.

El me ama

 Er liebt mich

El me abrama

 Er begehrt mich

El me abracia

 Er umarmt mich

El me vol ben

 Er sorgt für mich

El me mantien

 Er unterstützt mich

El me ama

 Er liebt mich

El me abrama

 Er begehrt mich

Nol me vole

 Er will mich nicht

El me dise su.

 Er tadelt mich.

Sie wiederholt Gebete aus Die christliche Braut. Dieses Buch, ihr einziges Buch, ist ihr lieb und teuer. Klein, in blaues Leder gebunden, mit winzigen goldenen Linien um jede Seite, enthält es mehr Gebete, als sie aufsagen kann, und mehr Predigten, als sie auswendig kennt, doch die Anleitung am Anfang – für mein liebes junges Mädchen – hebt ihre Laune und weist ihr den Weg. Während du betest, tust du gut daran, leichte Kasteiungen des Körpers vorzunehmen. Auf diese Weise kannst du Opfer bringen und gleichzeitig deinen Geist von eitlen Reizen ablenken.

Sie sticht sich selbst mit der Nadel in die Fingerspitzen. Blut quillt hervor. Das Nähen muss warten. Sie wischt die Blutstropfen mit ihrem Taschentuch ab.

»Bitte, Herr, gib mir die Frömmigkeit, die heiligen Ehesakramente anzunehmen«, flüstert sie, obwohl niemand da ist, der sie hören könnte. »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte Ihn, mir einen Mann zu geben, der mich beschützen und mir eine ergebene christliche Familie schenken wird …«

Aber insgeheim denkt sie daran, wie gut aussehend ihr Liebster sein wird, mit einem Gesicht so gütig wie Jesus, so aufrecht wie der Pfarrer, so groß wie ihr Vater und mit dem süßen Duft einer Frau. Wird er einen dicken, buschigen Schnurrbart haben wie ihr Papà? Oder einen Bart wie ihr Großvater: das ganze Gesicht und der Hals wie von altem Tabak überwuchert? Oder einen Schnurrbart wie ihr Bruder: zwei dünne, nach oben geschwungene Linien. Sie stellt sich vor, wie die Barthaare seines hübschen Gesichts ihre Wange kitzeln. Ihr Herz schlägt wie die Flügel eines Vogels. Sie verbannt ihre wilden Gedanken und sticht sich selbst ein Mal in jede Fingerspitze, ordentlich wie beim Beten eines Rosenkranzes. Bei der Hochzeit zu Kana, wo Jesus Wasser in Wein verwandelt hat, gelüstete es Braut und Bräutigam nicht nach blinder Leidenschaft: Sie wussten, dass sie Gott sonst am Tag des Jüngsten Gerichts Rechenschaft würden ablegen müssen.

Maria sticht sich nun, wo sie alle zehn Fingerspitzen durch hat, in beide Handgelenke. Wieder wischt sie das Blut mit dem Taschentuch ab. Die Laken für die Hochzeitsnacht müssen sauber und weiß bleiben, wie ihre Seele, wie ihr Körper, unbefleckt und rein. Doch sie ist alt. Fünfundzwanzig Jahre alt und unberührt von einem Ehemann. Sie näht ohne Fingerhüte. Ihre Hände können einem Tier den Hals umdrehen. Die Arme einen Topf mit kochender Polenta umrühren. Sie ist eine gute Partie für jeden Mann, wenn er nur über ihr Alter hinwegsehen kann.

Sie schaut aus dem Fenster. Von Regenrinnen und Simsen tröpfelt Wasser, die Welt da draußen tröpfelt, während sie taut. Auf einigen Bäumen liegt immer noch Schnee, der sie niederdrückt und bedeckt. Sie hört die klagenden Laute eines Maultiers. Und dann die Kirchenglocken, klar und deutlich trotz der Entfernung. Sie läuten eine Minute lang. Einzelne Töne. Sie klingen melancholisch, nicht fröhlich wie bei einer Taufe. Dann eine Pause: Jemand ist gestorben. Dann wieder eine Minute Glockengeläute. Wenn es nun aufhört, ist eine Frau gestorben, vielleicht die alte Hexe, die wie eine Verrückte in ihrem Nachthemd herumläuft. Dann eine Pause und wieder eine Minute Geläut. Ein Mann ist gestorben. Noch ein toter Mann auf der Welt. Bei einem Mann wird drei Minuten lang geläutet, bei einer Frau zwei Minuten, weil ein Mann wichtiger ist, weil Adam der erste Mann war und Jesus ein Mann war und seine Jünger Männer waren und Priester Männer sind und der Papst ein Mann ist.

Ihr Vater reist durch die Dörfer in den Tälern, bahnt sich den Weg durch steile Hänge mit schmelzendem Schnee, nimmt Lawinen und vielleicht sogar Wölfe in Kauf, wer weiß, welchen Gefahren er trotzen muss?

Menschen wandern, Berge aber bleiben an Ort und Stelle. Und dennoch sind die Berge launisch – ein Abgrund kann sich plötzlich auftun, in den man hineinrutschen kann, ein sonniger Himmel lockt den Jäger, sich zu weit vorzuwagen wie ein Kind, ein eisiger Nebel hüllt die Welt im Nu ein, hinterhältige Luft kriecht in die Lungen und kann zu einer Lungenentzündung werden.

Sie näht und näht. Eine Wellenlinie aus weißen Blüten. Das Leinen ist nicht das teuerste, doch die Qualität ist anständig und fest – es wird Jahre halten, bevor sie es ausbessern oder stopfen muss. Ihr Verlobter wird ihre Handarbeiten bewundern. Er wird über die gestickten Blumen fahren und ihr dann über die Wange streichen, als wäre sie eine Blume. Und sie werden sich fest umarmen wie die beiden Hälften einer Walnuss, und schließlich werden Kinder kommen, mit Gottes Hilfe, weil Blumen und Kinder aus einem Haus ein Zuhause machen.

Fioi e fiori i fà la casa.

Die Umrandung ihres Bettlakens ist fast fertig. Das muss ein Zeichen sein. Nur noch drei Blüten mit gewundenen Stängeln und Sträußen mit winzigen Knospen. Plattstich und Kettenstich und Stielstich. Alles weiß. Sie ist sich sicher: Wenn sie den Saum erreicht, wird ihr Vater mit ihrem Liebsten erscheinen. Er ist schon seit über zwei Tagen fort. Sie wird sich hinter der Tür verstecken, einen Blick auf ihren duftenden Verlobten mit dem lieblichen Gesicht werfen, und er wird sie erkennen, weil er das alte Foto von ihr gesehen hat.

Sie legt ihre...