Hunde im Weltraum - Erzählungen

von: Matthias Amann

Rotpunktverlag, 2018

ISBN: 9783858697912 , 160 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 19,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Hunde im Weltraum - Erzählungen


 

Silberpfeil


Es war ein Diamantstahl-Rennrahmen aus den Achtzigern mit 52/21er-Übersetzung. Er hatte ihn neu lackieren lassen, in Silber, den Rest eigenhändig zusammengebaut. Die Laufräder waren klassisch bestückt mit Speichennaben, Tiefbettfelgen, Mittelzugbremsen und Drahtreifen, der gerade Lenkbügel war auf 300 mm gestutzt. Einzig die ins große Kettenblatt gestanzten Ornamente, die verzierte Sattelstütze und der lederne Rennsattel verströmten einen Hauch von Extravaganz, der Rest war nüchterne Funktionalität. Kurierräder wie seines gehörten längst zum Stadtbild, auch wenn sich die meisten bei genauerem Hinsehen als herausgeputzte Nachahmungen aus minderwertigen Komponenten entlarvten. Die breite Masse fuhr weiterhin Mountainbikes mit Breitbereifung und Gabelfederung, Gebrauchtvelos vom Flohmarkt mit schleifenden Ketten und rostigen Schutzblechen, geschlechtslose Allzweckräder aus der Sportwarenabteilung des Großverteilers.

Ein Freund hatte ihn ins Cyclo mitgenommen, wo er Aerne kennenlernte. Das Geschäft war in einer Garage untergebracht, die auch als Werkstatt diente und in der dicht an dicht die Bahn- und Straßenräder standen, dazwischen einige exotisch anmutende Sonderanfertigungen: ein Kunstrad, ein Wüstenfahrrad, eine Zeitfahrmaschine. An der Decke hingen nackte Einzelrahmen, mit leeren Gabeln und Hinterstreben wie Skelette in der prähistorischen Abteilung des Naturkundemuseums. Aerne schaute von seinem Montageständer auf und streckte ihnen eine von der Arbeit schwarze Hand entgegen. Er trug Radsportmütze und Brille. Philipp erklärte, wonach er suchte. Aerne hörte zu, trat ein paar Schritte zurück, richtete den Blick zum Garagenhimmel und hievte eines der Skelette aus der Aufhängung. Ein Klassiker, sagte er und hielt Philipp den Rahmen hin.

Wochen brauchte er, um das Rad zusammenzubauen. Auf dem asphaltierten Platz hinter dem Haus legte er die Werkteile auf einer Decke aus, überließ sich den Bewegungen seiner Hände, den Gesetzen der Mechanik, die einfach und klar waren: Entweder die Dinge verhielten sich zueinander in der ihnen zugedachten Weise oder sie taten es nicht. Wenn er sich der Montage oder dem Einstellen der Schaltung widmete, der Wahl der Anschläge am Umwerfer, der Zugspannung am Schaltwerk, der Umschlingung der Leitrolle, vergaß er alles, auch die Kälte, die ihm unter den Pullover kroch. Vom Hantieren mit Schraubenziehern, Zangen und Kettenspannern ging eine große Ruhe aus, vom Surren des Drehmomentschlüssels, dem Geruch des Gewindefetts, eine Ruhe, die er in sich aufnahm, die ihn ausfüllte und in ihm weiterklang, wenn er das Werkzeug zusammenpackte und das unfertige Rad in sein Zimmer hochtrug, sich im Badezimmer die Hände mit Kernseife wusch, sich im Baumarkt ein fehlendes Werkzeug oder bei Aerne Rat holte.

Das Studium hatte er abgebrochen. Der Schritt war längst überfällig gewesen. Auch der Wechsel im Hauptfach hatte nichts mehr gebracht. Er fühlte sich von Anfang an nicht wohl im Hochschulgebäude mit den überfüllten Hörsälen und den Mitstudierenden, die genau wussten, was sie werden wollten. Von Semester zu Semester verstärkte sich der Eindruck, dass ihnen dort im Grunde keine Einsichten, sondern bloß Fertigkeiten vermittelt wurden, wie man sich organisierte, zum Beispiel, und mit geringstem Aufwand an Leistungsnachweise herankam, wie man den Stoff danach beurteilte, was prüfungsrelevant war und was nicht. Bei den Eltern konnte er nicht auf Verständnis zählen. Als er ihnen nach einem Jahr, in dem er vorgab, weiterhin zu studieren, endlich reinen Wein einschenkte, schüttelte der Vater nur den Kopf und schaute ihn mit diesem Blick von damals an, als der Vater sonntags auf dem Fußballplatz hinter dem Haus Schuss um Schuss auf ihn abgefeuert hatte, viel zu scharf, und Philipp Ball um Ball passieren lassen musste. Was hast du die ganze Zeit bloß getrieben, wollte er wissen. Die monatlichen Überweisungen blieben seitdem aus.

Die ersten Wochen als Kurier waren hart. Philipp begann im Winter, auf Probe. Der nasse Asphalt schluckte das Licht, überall lagen Schneehaufen. Scheinwerfer blendeten, immer wieder tauchten aus dem Nichts Fußgänger auf. Die Orientierung fiel ihm schwer, er fuhr endlose Umwege. Nachts in seinem schlecht geheizten Zimmer fiel er unter einem Berg von Decken in einen oberflächlichen Schlaf, Stöpsel in den Ohren gegen den Lärm der Rosengartenstrasse. Er träumte von Autos, die ihn über den Asphalt hetzten, tiefer und tiefer in ein Labyrinth hinein, aus dem er nicht mehr herausfand. Morgens nach dem Aufstehen tat ihm alles weh: Beine, Rücken, Schultern, Hintern, sogar die Hände. In der zweiten Woche montierte er ein zweites Kettenblatt für die Aufstiege. Doch irgendwann gewöhnte er sich an die Anstrengung, begann er die Verausgabung zu genießen, die Erschöpfung und den Hunger nach überstandener Schicht, spürte, wie er an Ausdauer und Kraft gewann, fuhr immer seltener an seine Grenzen, nur wenn es regnete zum Beispiel oder wenn er angeschlagen im Sattel saß. Gegen Unfall waren sie versichert, nicht aber gegen Krankheit: Wer nicht fuhr, verdiente nichts. Reparaturen und Ersatzteile musste jeder selbst bezahlen, ein Ritzel hier, einen Bremsklotz da, einen Satz neuer Reifen, Verschleißteile, die ziemlich ins Geld gingen. Um durchzukommen, fuhr er Doppelschichten, die Morgenschicht und abends im Auslieferdienst für das Lily’s. Die Abendschicht war ruhig, auf der Straße wenig los. Für einen Spezialpreis bekam er eine warme Mahlzeit, die er am Personaltisch in der Küche einnahm, umgeben von Angestellten, die mit Messern und Töpfen hantierten, junge Thais, von denen viele schwul waren und die nach ein paar Wochen auf mysteriöse Weise wieder verschwanden.

Die meisten Fahrer waren Gestrandete wie er. Ein Ex-Junkie war dabei. Eine studierte Logopädin. Was zählte, war der Wille rauszugehen, auf die Straße, Kilometer zu fressen. Zu drücken, wie es hieß, und das nicht zu knapp. Wie ein Rennfahrer, der die Tour bereits verloren hatte und trotzdem Etappe für Etappe von Neuem angriff. Jan Ullrich gegen Lance Armstrong. Tony Rominger gegen Miguel Indurain. Gemeinsam schauten sie sich die entscheidenden Etappen im Fernsehen an, beobachteten die Fahrer, wie sie litten am Berg, sich im offenen Trikot über den Lenker beugten, wie sie ausrissen und wieder gestellt wurden, sich Wasser über den Kopf schütteten und aus dem Sattel gingen, im Aufstieg zum Tourmalet, zum Galibier, zur Alpe d’Huez mit den einundzwanzig Haarnadelkurven, zur Südwestflanke des Mont Ventoux, die Tom Simpson 1967 das Leben gekostet hatte. Am meisten mochte Philipp das Mannschaftszeitfahren: die Linien der Athleten, die im Windschatten Ablösungen fuhren, im knallengen Dress und futuristischen Helmen, ihre Hinterteile in Großaufnahme, die rasierten Schenkel zu beiden Seiten des Hinterrads, auf und ab, im runden Tritt, perfekte Symbiose von Mensch und Maschine.

Mehr als dreißig Kilometer fuhr er im Schnitt pro Schicht, sechzig pro Arbeitstag. In knapp drei Jahren als Kurier machte das über vierzigtausend Kilometer. Einmal rund um die Erde. Sein Fahrrad hatte er auf den Namen Silberpfeil getauft. Silberpfeil war der Held seiner Kindheit: der junge Indianerhäuptling aus der gleichnamigen Comicserie. Den Namen behielt er für sich; untereinander sprachen die Kuriere nur abschätzig von ihrem »Bock«, mit einer Grobheit, in der viel Zärtlichkeit lag. Es war eine Art Hassliebe: Heute stand ihnen ihr Gefährt in einem Manöver am Limit bei, morgen ließ es sie im Stich, warf sie ab, ohne Vorwarnung, einfach so.

Und nun war sein Silberpfeil verschwunden. Keine zwei Minuten war Philipp weg gewesen. Gegen seine Gewohnheit hatte er nicht abgeschlossen, hatte das stahlummantelte Kabelschloss nicht geöffnet und mit einem einzigen Handgriff um Vorderrad und Rahmen geschlossen, ein vertrautes Ritual, auf das er verzichtete, aus bloßer Bequemlichkeit. Das Geschäft für Bilderrahmen lag im Erdgeschoss eines Wohnhauses gegenüber vom Irma la Douce. Er lehnte das Rad gegen die steinerne Fassade, direkt neben dem Schaufenster zum Hochparterre. Durch die leere Mitte eines der Bilderrahmen war eine Frau zu sehen, die im Ladeninnern an einer Schneidemaschine hantierte. In einer Minute würde er zurück sein. Er trat hinein. Die Frau schaute auf und grüßte. Er reichte ihr das Versandrohr, den Auftragsblock zur Unterschrift. Sie unterzeichnete, reichte ihm Block und Stift mit einem Lächeln zurück. Er wünschte einen schönen Tag. Im Hinausgehen verstaute er den Auftragsblock in der Hüfttasche und stand vor der leeren Hauswand. Es war nicht die falsche Wand. Nach einem Moment des Innehaltens, der Stille, wie nach einem Sprung ins Wasser, wenn man auftaucht und den Kopf aus dem Wasser hebt, Luft holt, kehrten Bild und Ton mit einem Schlag zurück und damit die Gedanken, die auf einen einzigen Satz zurasten: Das Fahrrad ist weg!

Er lief die Straße hoch zum Ende des Häuserblocks, ohne klare Vorstellung, wonach er Ausschau halten sollte. Vielleicht nach einem Junkie, der mit wehendem Hemd auf seinem Silberpfeil das Weite suchte, einem tamilischen Rotzbengel, der seelenruhig damit über die Straße spazierte, einem Lastwagen der städtischen Dienste mit einem...