Tagebuch eines Depressiven - Ein autobiografischer Ratgeber für Betroffene, Gefährdete und ihre Angehörigen

von: Roland Zingerle

edition zweihorn, 2018

ISBN: 9783963761652 , 168 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Tagebuch eines Depressiven - Ein autobiografischer Ratgeber für Betroffene, Gefährdete und ihre Angehörigen


 

Ein zweites Zuhause


Getragen, wie ein Kind

Die Aufnahmeuntersuchung läuft routiniert und zügig. Eine freundliche junge Ärztin zapft mir Blut ab, führt ein EKG durch, inspiziert meine Augen und Ohren, schaut mir in die Nase und den Rachen und testet meine Reflexe. Dann stellt sie mir eine Menge Fragen und tippt meine Antworten in den Computer ein. Mir wird mulmig bei all den Leiden, nach denen sie mich fragt, weil mir bewusst wird, woran man alles erkranken kann. Gott sei Dank kann ich alle Fragen mit „Nein“ beantworten und im Stillen danke ich meinem Schöpfer für die robuste Gesundheit, die mir trotz allem vergönnt ist.

Danach führt mich eine Krankenschwester in die Station für Psychosomatik. Meine Heimat für die nächsten vier Wochen ist ein Dreibettzimmer mit einem fantastischen Ausblick auf die Stadt, über der das Therapiezentrum liegt, und auf die Bergkette dahinter. Meine Zimmergenossen heißen Herbert und Paul, beide sind um die fünfzig und nehmen mich so herzlich auf, als sei ich ein alter Freund.

Das löst meine innere Anspannung. Wenn man als Neuling in eine bestehende Gemeinschaft kommt, fühlt man sich als Außenseiter und das Zimmer wird zum wichtigen Rückzugsort. Fühlt man sich hier nicht geborgen, führt das zu allgemeinem Unwohlsein. Hier ist das nicht der Fall, Herbert und Paul sind freundlich und sympathisch.

 

Irritierende Herzlichkeit

 

Auch meine anderen Mitpatienten sind in einem Maß zuvorkommend und hilfsbereit, dass ich fast misstrauisch werde. Jeder, der mir auf meinen ersten Wegen durch die Station begegnet, kommt auf mich zu und stellt sich vor, viele Hände strecken sich mir lächelnd zum Gruß entgegen.

Wann immer ich in der Vergangenheit ähnliche Situationen erlebt habe, wenn ich also neu zu einer bestehenden Gruppe hinzustieß, habe ich dieselben Erfahrungen gemacht: Ich wurde förmlich-höflich begrüßt und dann in Ruhe gelassen, während die Anwesenden ihre Alltagsroutine ohne Unterbrechung fortsetzten. In den Pausen oder beim Essen setzten sich die anderen in Grüppchen zusammen und trieben ihre vertrauten Scherze miteinander, während ich mir einen freien Platz suchte und schweigend zusah. Der erste Tag war immer der schlimmste und ich sehnte mich jedes Mal nach Hause. Natürlich lernte ich mit der Zeit die anderen und die anderen mich kennen, aber es dauerte Tage, bis ich ein Teil der Gruppe wurde.

Ich bin also darauf gefasst, mich auf der Station anfangs als Außenseiter zu fühlen.

Doch das ist nicht nötig. Hier werde ich von Beginn an akzeptiert, meine Mitpatienten kommen auf mich zu und suchen das Gespräch. Ich muss mir meinen Platz in der Gruppe nicht erst erarbeiten. Wie sich herausstellt, ist das auf dieser Station ganz selbstverständlich.

Auch die Krankenschwestern behandeln mich freundlich und liebenswürdig, ich fühle mich sofort gut aufgehoben und geborgen.

Wir sind ungefähr zwanzig Therapie-Patienten auf der Station. Der Großteil sind Frauen, ich zähle nur sechs Männer. Mir fällt auf, dass das Alter meiner Mitpatientinnen und Mitpatienten bunt durchmischt ist: Die Jüngste ist Anfang zwanzig, die Älteste um die siebzig. Depression scheint etwas zu sein, das einen in jedem Lebensabschnitt treffen kann.

 

Einweisung in die Stationsroutine

 

Nachdem ich mein Gepäck verstaut habe, holt mich eine Krankenschwester ab und erklärt mir die Abläufe während meines Therapieaufenthalts. Das betrifft zum einen die Stationsroutine: Frühstück um 7 Uhr, danach Tablettenausgabe und Messung der Vitalwerte – Blutdruck, Gewicht und Körpertemperatur –, wobei jeden Tag etwas anderes drankommt. Täglich um 8.20 Uhr findet eine sogenannte „Morgenrunde“ für alle statt, in der die Krankenschwestern, die gerade im Dienst sind, den Patienten wichtige Informationen für den bevorstehenden Tag mitteilen. Bei dieser Gelegenheit werden auch Probleme oder Wünsche erörtert, die alle betreffen. Danach beginnen die einzelnen Therapieeinheiten. Punkt 12 gibt es Mittagessen, um 17 Uhr Abendessen, jeweils gefolgt von weiteren Tablettenausgaben. Die Schlafmedikamente werden um 20 Uhr verteilt.

Die Krankenschwester weiht mich auch in den Ablauf meiner Therapie ein: Am Schwarzen Brett hängt ein Plan für die laufende Woche, auf dem alle Therapieeinheiten angeführt sind, die jeweils zwischen 8.30 und 17 Uhr abgehalten werden. An welchen ich teilnehmen muss, steht in meinem „Therapiepass“, einem kleinen gelben Büchlein, das mir nun ausgehändigt wird.

Die Zeit zwischen meinen Therapiestunden darf ich für mich verwenden, muss aber auf dem Gelände bleiben. Verlassen darf ich das Areal erst nach dem Ende meines Therapietages, wobei ich mich bei der diensthabenden Krankenschwester ab- und bis spätestens 17 Uhr wieder zurückmelden muss. Längere Ausgänge sind nur am Wochenende erlaubt, samstags von 13 bis 17 Uhr und sonntags von 8.30 bis 17 Uhr. Dabei bin ich verpflichtet, mein Handy mit mir zu führen, ich muss immer erreichbar sein.

Zuletzt führt die Krankenschwester mit mir ein Aufnahmegespräch, wobei sie auf Notizen zurückgreift, die während meines Vorgesprächs angefertigt wurden. Dabei geht es nicht nur um meine Beschwerden, sondern auch um meinen beruflichen und familiären Hintergrund, meine Krankheitsgeschichte, meine Kindheit, die Beziehung zu meinen Eltern und vieles mehr. Die Aufzeichnungen, so bekomme ich erklärt, bilden die Grundlage für meine Behandlung. Ich lege mein gesamtes bisheriges Leben offen, denn irgendwo darin verstecken sich die Ursachen für meine Depression.

 

Die erste Nacht

 

Den Rest des Tages nütze ich, um mich mit meinem vorübergehenden neuen Zuhause vertraut zu machen. Das Therapiezentrum liegt am Waldrand und ist Teil eines größeren Komplexes, zu dem auch ein Altenheim und mehrere Häuser für Betreutes Wohnen gehören. Zur Anlage zählen außerdem ein Park mit hohen Bäumen und eine Wiese mit Aussicht auf die Stadt. Ich fühle mich wohl hier.

Beim Abendessen stellt Herbert mich den Mitpatientinnen an unserem Tisch vor und es fühlt sich an, als setzte ich mich zu einer Runde alter Bekannter.

Die erste Nacht wird zur Herausforderung. Paul leidet unter Schlafapnoe, deswegen hat er ein Sauerstoffgerät mit zwei Düsen, die er sich vor dem Einschlafen in die Nase steckt. Das Gerät verursacht eine ganze Sinfonie von Zischlauten, die sich je nach Schlafphase – und damit Pauls wechselnder Atmung – ändern. Herbert wiederum beginnt gegen Mitternacht laut zu schnarchen, was nur kurz abflaut, wenn Paul aufschnarcht; es wirkt, als unterhielten sich die beiden in einer Schnarchsprache.

Gegen 1.30 Uhr flüchte ich hinaus zur Nachtschwester und frage, ob sie nicht irgendwo ein Feldbett hätte, auf dem ich provisorisch schlafen könne. Sie fasst es als Scherz auf, obwohl es mein Ernst ist, und gibt mir stattdessen Ohrenpfropfen aus Wachs.

Wenig begeistert kehre ich in unser Dreibettzimmer zurück. Vor langer Zeit habe ich einmal versucht, mit Ohrenpfropfen zu schlafen, was daran scheiterte, dass die Pfropfen zu weit aus den Ohren heraus ragten. Dadurch dämpften sie die Geräusche kaum und drückten mir noch dazu schmerzhaft in den Gehörgang, wenn ich in Seitenlage schlief.

Diesmal funktioniert es besser. Nach einigem Kneten wird die Wachsmischung weich, sodass die Pfropfen sich lückenlos in den äußeren Gehörgang einpassen und kaum hervorstehen. Sie dichten so gut ab, dass ich beinahe das Gefühl habe, taub zu sein.

Tatsächlich schlafe ich gleich darauf ein.

 

Einstieg in die Therapie

 

Am nächsten Morgen geht es gleich nach der Morgenrunde los mit meiner Therapie. Zunächst empfängt mich mein behandelnder Arzt, ein Psychiater, zum Erstgespräch. Es ist im Grunde nur ein kurzes Kennenlernen, er kennt alle Daten zu meiner Vorgeschichte aus den gestrigen Aufzeichnungen der Krankenschwester. Alles Weitere, meint er, werde sich zeigen, es komme drauf an, wie ich auf die Therapie anspreche.

Die erste therapeutische Einheit, der ich zugeteilt bin, nennt sich „Ergotherapeutische Gruppe“. Hier sind wir nur zu sechst. Wir liegen rücklings auf Bodenmatten, schließen die Augen und lassen uns von der Stimme der Leiterin führen. Es geht um Körperwahrnehmung, um das Erfühlen, in welcher Lage sich unsere Körperteile zum gegenwärtigen Zeitpunkt befinden.

Mit geschlossenen Augen stellen wir uns Fragen wie: An welchen Stellen berühren meine Beine den Boden? Wie weit sind meine großen Zehen voneinander entfernt? Wie groß ist der Abstand zwischen meiner Rückenwirbelsäule und der Unterlage?

Ich entspanne mich und finde die hypnotische Stimme der Leiterin sehr angenehm. Sie rät uns, diese Übung regelmäßig abends im Bett durchzuführen, mit etwas Training könne man so garantiert leichter einschlafen.

 

„Genussvoll essen“

 

An der nächsten Therapieeinheit nehmen alle Patienten der Station teil, sie nennt sich „Genussvoll essen“. Die Ernährungsberaterin, die diese Einheit leitet, setzt leicht verständliche Richtlinien. Sie verrät uns, welche Nahrungsmittel in welchen Kombinationen langfristig die Gesundheit fördern und wie wichtig regelmäßige Essenszeiten sind.

In dieser Stunde geschieht etwas Eigenartiges mit mir. Obwohl ich diese Inhalte schon x-mal in meinem Leben gehört habe, schenke ich ihnen heute zum ersten Mal Glauben! Bisher habe ich solche Weisheiten mit einer abfälligen Handbewegung weggewischt, aus irgendwelchen Gründen sind sie mir stets weltfremd erschienen oder zumindest wenig alltagstauglich.

Doch heute wird mir klar,...