Fühlen ist Leben - Mit schwierigen Gefühlen umgehen

von: Sylvia Wetzel

Verlag Herder GmbH, 2018

ISBN: 9783451813979 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Fühlen ist Leben - Mit schwierigen Gefühlen umgehen


 

Teil eins:

Wer bin ich und wie fühle ich mich?


Nenn’ es dann, wie du willst,

Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!

Ich habe keinen Namen dafür!

Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch.

Goethe, Faust I, Marthens Garten

1. Was sind Gefühle?


Was sind Gefühle? Ich orientiere mich in diesem Buch vor allem an buddhistischen Ansätzen, denn ich bin keine Psychologin, und die buddhistischen Kategorien und Übungen geben mir eine gute Orientierung. Als Frau aus dem Westen bin ich auch mit christlichen und philosophischen, soziologischen und psychologischen Begriffen vertraut und durch sie geprägt. Da ich in diesen Begriffen denke und dieser Hintergrund in älteren und neueren buddhistischen Übersetzungen aus dem Englischen eine wichtige Rolle spielt, setze ich buddhistische Begriffe immer auch in Beziehung zu westlichen Termini und Kategorien, denn sie sind die Brille, durch die wir Ansätze aus dem Buddhismus sehen und verstehen.

Es geht mir nicht darum, den Buddhismus als optimales System für ein kluges Umgehen mit schwierigen Gefühlen darzustellen, sondern ich verwende die buddhistischen Kategorien als Landkarte im Dschungel vielfältiger Erfahrungen und Erklärungsansätze. Ich halte den Buddhismus nicht primär für eine Religion oder Philosophie, sondern für einen Übungsweg. In diesem Sinn sind für mich alle Aussagen des Buddha und seiner Nachfolger*innen aus den unterschiedlichen Kulturen und Zeiten in Asien, und seit über hundert Jahren auch aus dem Westen, primär Anregungen zum Üben, pragmatische Methoden, um mit bestimmten He­rausforderungen klug und angemessen umzugehen.

Gefühle im Westen


Die westliche Psychologie ist, verglichen mit dem Buddhismus, eine junge Wissenschaft, und es gibt viele unterschiedliche Schulen und Zugänge. Ich nenne hier die zentralen Kategorien aus dem dtv-Atlas zur Psychologie (1984) relativ ausführlich, denn sie entsprechen vermutlich eher unseren Erfahrungen als die traditionellen buddhistischen Kategorien. Allerdings wird darin betont, dass man sich in der Erforschung der Gefühle noch ziemlich am Anfang befinde. Ich werde im dritten Teil Vorschläge zum klugen Umgehen mit häufig vorkommenden schwierigen Gefühlen und Emotionen machen und mich dabei sowohl auf buddhistische als auch auf westliche psychologische Begriffe beziehen.

Unter dem Stichwort Emotionspsychologie werden viele Arten von Gefühlen beziehungsweise Emotionen aufgeführt, die ich zur besseren Übersicht in sieben Gruppen zusammenfasse: 1. Somatische Emotionen wie Antriebe: Hunger, Durst, Schlaf, Sexualtrieb; Stimmungen: lebhaft – schwermütig, Morgenmuffel – Frühaufsteher; Schreck: Flucht – Angriff; Angst: Flucht, Ängstlichkeit, Panik, Pessimismus. 2. Situative Emotionen wie Freude, Humor, Zorn, Sorgen, Besorgnis, Überraschung. 3. Soziale Emotionen wie Liebe, Selbstlosigkeit, Antipathie gegen Dinge, Personen, Tiere, Ideen und so weiter, mit einer großen Spannbreite von Abwehr bis Ekel. Für Aggression werden 37 Theoriegruppen erwähnt, die sich unter anderem mit Aggressionsabbau und dem Einüben sozialen Verhaltens befassen.

Die soziale Emotion der Scham gilt als Hüterin von Selbstrespekt und Selbstschutz und der Achtung fremder Integrität. Schuldgefühle nach Fehlverhalten basieren auf Verantwortungsgefühl und Selbstkritik. Moralische Gefühle entstehen in einem bestimmten sozialen Kontext und folgen einem bestimmen Kodex. 4. Zu den kognitiven Emotionen zählen Interesse, Hoffnung unter anderem. Dann gibt es 5. Ästhetische und religiöse Gefühle und meditative Emotionen, die sich auf das eigene Erleben beziehen. 6. Das Selbstwertgefühl pendelt zwischen Selbstachtung und Fremdwahrnehmung. Als 7. und letzte Kategorie werden unterschiedliche Gefühlstörungen genannt.

Grundgefühle, reaktive Emotionen und himmlische Gefühle


Der Buddhismus beschreibt drei Gruppen von Gefühlen: Grundgefühle, schmerzhafte, verblendete oder reaktive und heilende Gefühle, skrt. vedana, klesha, brahmavihara. Der Begriff Grundgefühl, vedana, bezieht sich auf die einfache Unterscheidung und Bewertung einer Erfahrung als angenehm, unangenehm oder neutral, bezogen auf körperliche und geistige Prozesse. Wir können angenehme oder unangenehme Grundgefühle erleben, wenn wir etwas mit den fünf Sinnen wahrnehmen und wenn wir über etwas oder jemanden nachdenken. Wenn wir auf diese drei Grundgefühle aus Gewohnheit automatisch mit Festhalten, Abwehr oder Gleichgültigkeit reagieren, blockieren wir wichtige Informationen, auf die uns Grundgefühle hinweisen können. Es braucht allerdings viel Übung und eine feines Gespür, wenn wir die subtilen Grundgefühle unmittelbar spüren wollen. Meist können wir nur aus unseren Reaktionen auf sie schließen. Wenn ich noch einen Teller dieser wunderbaren Suppe haben will, dann muss ich den Geschmack zuvor als angenehm bewertet haben, und so weiter.

Diese drei grundlegenden reaktiven Emotionen, Festhalten, Abwehr oder Gleichgültigkeit, werden Klesha genannt, wörtlich Fleck oder Befleckung. Sie gelten als Geistesgifte, weil sie den Frieden des Herzens zerstören. Ich nenne sie auch reaktive Emotionen, denn sie laufen aus Gewohnheit automatisch ab, vor allem dann, wenn wir unsicher und ängstlich, aufgeregt oder wütend und so weiter sind.

Häufig reagieren wir aus Gewohnheit und Unsicherheit ungeschickt auf unsere schlichten und einfachen Grundgefühle. Auf angenehme Gefühle mit dem Wunsch nach mehr, mit Festhalten an Dingen, Menschen und Umständen; oder wir bedauern, dass wir diese angenehmen Gefühle nicht häufiger erleben. Auf unangenehme Gefühle reagieren wir häufig mit Abwehr oder Ärger oder ignorieren das Gefühl und lenken uns ab. Damit verpassen wir eine gute Gelegenheit, die Stimme der Weisheit zu hören, die uns etwas über unser körperliches Befinden oder unsere Grundstimmung, über unsere Gedanken oder emotionalen Einstellungen sagen will. Wenn wir neutrale Gefühle gewohnheitsmäßig ignorieren, halten wir unspektakuläre Umstände für uninteressant oder unwichtig, statt sie als Hinweis zur Entspannung zu nehmen; oder wir finden das Leben zu langweilig und stürzen uns auf den nächsten Sinnenreiz.

Nehmen wir die drei Grundgefühle mit liebevoller Achtsamkeit zur Kenntnis, können sie uns zu einer freundlichen oder freudigen, mitfühlenden oder gelassenen Haltung und einem konstruktiven Umgehen mit ihnen inspirieren. Diese vier Haltungen werden »himmlische Verweilungen« genannt, brahmavihara. Wörtlich ist das der Ort, vihara, an dem der indische Gott Brahma verweilt. Dazu gehören Freundlichkeit und dankbare Freude sowie Mitfreude als Antwort auf angenehme Erfahrungen und Mitgefühl sowie Gelassenheit oder Gleichmut als Antwort auf unangenehme Erfahrungen, Pali metta, mudita, karuna, upekkha.

Da ich den Begriff »himmlische Verweilungen« sperrig und unklar finde, spreche ich meist von den vier »himmlischen« Gefühlen beziehungsweise Haltungen, auch wenn der Begriff Gefühl für die Haltung des Gleichmuts nicht zu passen scheint. Wenn wir ihn als ausgeglichenen Gefühlszustand verstehen, kann man Gleichmut oder Gelassenheit mit etwas Großzügigkeit auch Gefühl nennen.

Es geht also um dreierlei: Um Grundgefühle, reaktive Emotionen und heilende Gefühle. Das ist die buddhistische Lehre von den Gefühlen in der Nussschale. Es werden viele weitere Varianten reaktiver Emotionen und heilender Gefühle beschrieben. Auf sie gehe ich ebenfalls im dritten Teil ein, in dem ich konkrete Übungen zum Umgehen mit schwierigen Gefühlen vorstelle. Denn die Pflege heilender Gefühle ist das Tor zu tiefem Vertrauen ins Leben, und das wiederum fördert Entspannung und Zuversicht. Und je entspannter und zuversichtlicher wir sind, desto besser können wir mit schwierigen Erfahrungen umgehen.

Ich werde im Folgenden meist die allgemein üblichen und sehr weit gefassten Begriffe Gefühl und Gefühle verwenden und nur soweit notwendig zwischen Grundgefühlen, reaktiven Emotionen und heilenden Gefühlen unterscheiden.

Merksätze

  • Die drei Grundgefühle, die Unterscheidung von angenehm, unangenehm und neutral, brauchen wir zum Überleben und als erste Orientierung. Reagieren wir automatisch mit den drei Geistesgiften oder Kleshas, mit Festhalten, Abwehr oder Ignorieren, stören wir den Frieden des Herzens.
  • Antworten wir auf angenehme Grundgefühle mit Freundlichkeit und Wohlwollen, Freude und Dankbarkeit, vergrößern wir das Wohlbefinden bei uns und anderen. Antworten wir auf unangenehme Grundgefühle mit Mitgefühl und Gleichmut, verringern wir Unwohlsein und Schmerz bei allen Beteiligten. Antworten wir mit Gelassenheit oder Inte­resse auf neutrale Gefühle, bleiben wir im Gleichgewicht oder erweitern unseren Horizont und damit auch unser Wohlbefinden.

2. Wer bin ich?


Wir erleben mehr, als wir begreifen.

Hans-Peter Dürr

Das Ich ist eine bloße Benennung

auf der Basis der fünf Skandhas....