Spirit Animals, Band 9: Die Erde bebt

Spirit Animals, Band 9: Die Erde bebt

von: Victoria Schwab

Ravensburger Buchverlag, 2018

ISBN: 9783473479030 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

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Spirit Animals, Band 9: Die Erde bebt


 

AUGEN IM DUNKELN

Ihre Schatten tanzten im Schein der Fackel.

Sie liefen durch die Tunnel unter der Welt und warfen dabei eine Prozession geisterhaft verzerrter Silhouetten an die Höhlenwände. Conor versuchte, sich eher auf die Menschen als ihre monströsen Schatten zu konzentrieren, doch zog es seinen Blick immer wieder an die Felswände, wo verformte Versionen der Gefährten bedrohlich zuckend voranzogen. Meilin, Takoda und Xanthe waren dort nichts als spinnendürre Gestalten; Briggans geduckter Schatten dagegen schien nur aus Ohren und Schwanz zu bestehen.

Kovo machte ihm von allen am meisten Angst.

Der Schatten des Affen reckte sich drohend und mit gebleckten Zähnen über den anderen in die Höhe. Im bedrohlichen, flackernden Licht bildete sich Conor sogar ein, die roten Augen im verzerrten Schatten des Untiers zu sehen.

Conor schluckte und presste die Augen zu, um das, was wirklich war, von dem zu trennen, was er Fieber und Erschöpfung zuschreiben musste. In dem Bild vor seinen Augen vermischte sich beides immer mehr. Die Konturen waren nicht klar, und wenn er den Blick nicht schärfte, dann konnten seine Albträume nur allzu leicht in die Wirklichkeit der dunklen Gänge entwischen, die sie umgaben.

„Und du weißt ganz sicher, wohin wir gehen?“, fragte Meilin – die echte Meilin aus Fleisch und Blut und purer Entschlossenheit und nicht ihr Schatten – von weiter vorn. Sie fasste die Fackel und richtete den Lichtschein auf die blassrosafarbenen Augen des anderen Mädchens, das die Gruppe durch das Wirrwarr der unterirdischen Gänge führte.

„Ganz sicher“, antwortete Xanthe.

„Wie kannst du dir so sicher sein?“, murmelte Meilin. „Es sieht doch alles gleich aus!“

„Für dich vielleicht …“, sagte Xanthe nur und strich mit ihrer zarten Hand über die Felswand.

Auch Conor fand, dass alles gleich aussah. Ab und zu spürte er, dass der Boden ein wenig abfiel, dass es eine Spur wärmer oder kälter wurde oder ein seltsamer Luftstrom sie traf, als wäre es der Atem eines schlafenden Untiers. Ansonsten kamen ihm die verschlungenen Tunnels von Sadre alle gleich vor – eine endlose Reihe von Höhlen, Tunneln und Hohlräumen. Außerdem hatte er den Eindruck, sie bewegten sich im Kreis. In Spiralen.

Wie konnte Xanthe nur wissen, wohin sie gingen? Und doch schien es so zu sein.

Sie gelangten im Tunnel an eine Art Kreuzung. Auch diese drei Wege, einer geradeaus und zwei, die seitlich abzweigten, sahen identisch aus. Xanthe gab mit erhobener Hand Zeichen zum Anhalten, während sie selbst bis in die Mitte der Kreuzung weiterging. Sie rückte das Bündel auf ihrem Rücken zurecht, ging in die Knie, legte die Hände flach auf den Steinboden und schloss die Augen. Conor fragte sich, ob sie wohl lauschte, tastete oder schnupperte – vielleicht spürte sie ja auch mit einem anderen Sinn, den er gar nicht besaß. Wie auch immer – als sie nach einigen Sekunden die Augen aufschlug und sich wieder aufrichtete, deutete sie auf den linken Tunnel.

„Hier geht’s weiter“, sagte sie und marschierte voran, ohne einen Blick zurück zu werfen.

Kovo und Meilin gaben gleichzeitig einen zweifelnden Laut von sich, halb seufzend, halb stöhnend, und warfen sich dann finstere Blicke zu. Takoda kicherte und selbst Conor brachte ein Lächeln zustande. Es war nicht das erste Mal, dass sich die beiden gleich verhielten. Meilin mochte mit der Pandadame Jhi das Sinnbild der Gelassenheit gerufen haben, aber wenn sie wollte, konnte sie ebenso dickköpfig sein wie der Affe.

Meilin stapfte Xanthe hinterher und Takoda und Kovo reihten sich hinter ihr ein.

Sie waren nur kurz stehen geblieben, aber Conor fühlte sich mit einem Mal so träge und unbeteiligt, dass er kaum wieder in Bewegung kam.

Als die anderen schon in den Tunnel abgebogen waren und er immer noch dastand, stupste ihn Briggan mit der Schnauze aufmunternd in den Oberschenkel. Die kleine Geste genügte, um seine Beine wieder in Schwung zu bekommen.

„Danke“, flüsterte er müde und fuhr dem Wolf mit der Hand durchs Nackenfell. Briggan lehnte sich sachte gegen sein Bein – gerade so, dass Conor nicht das Gleichgewicht verlor, sondern spürte, dass er sich auf ihn stützen konnte.

„Mit Magie hat das nichts zu tun“, erklärte Xanthe gerade, als Conor wieder aufschloss.

„Aber wie machst du es dann?“, fragte Meilin. „Wie weißt du, wo es weitergeht?“

„Ich lausche auf die Gänge“, antwortete Xanthe, als würde das alles erklären.

„Kannst du mir das auch beibringen?“, drängte Meilin und Conor fragte sich, ob sie das wohl tat, weil sie glaubte, dass Xanthe den Weg eigentlich gar nicht kannte, oder ob sie sich einfach nicht gern auf jemand anderen verließ. Möglicherweise beides.

Xanthe kaute auf ihrer Unterlippe. „Ich weiß nicht, ob das geht“, sagte sie. „Ich kann das, weil ich es schon immer gekonnt habe. Und ich habe es schon immer gekonnt, weil ich es musste.“

Meilin runzelte die Stirn. „Klingt ganz schön mysteriös und hilft mir überhaupt nicht weiter.“

„Tut mir leid.“

Takoda, der gerade versucht hatte, Kovo beizubringen, mit Handzeichen statt Feststellungen auch einmal Fragen zu signalisieren, blickte auf. „Dann kann sich hier unten also jeder orientieren?“

„Nicht jeder“, sagte Xanthe, kam näher, stieg über einen flachen Stein und schob ein paar bemooste, zerfaserte Seilenden zur Seite, sodass die anderen leichter passieren konnten. „Sobald die Kinder in Sadre laufen können – konnten –, haben uns unsere Mütter und Väter an eine Stelle in den Höhlen geführt, nicht weit entfernt von zu Hause, und uns dort zurückgelassen.“

Meilin stockte hörbar der Atem. „Das ist ja entsetzlich!“

Xanthe zuckte mit den Schultern. „Es war nicht weit entfernt und fast alle Kinder fanden den Weg zurück.“

Fast alle, dachte Conor finster. Und was war mit den anderen? Er hatte beobachtet, dass Wildtiere manche ihrer Jungen verließen, um ihre Kraft und Zeit auf diejenigen zu konzentrieren, die zum Überleben stark genug waren.

„Im folgenden Jahr“, fuhr Xanthe fort und umging einen eingestürzten Abschnitt der Tunnelwand, „brachten die Eltern ihre Kinder ein Stück weiter fort, mit ein paar Abzweigungen und Biegungen, aber nicht allzu vielen Gefahren. Dann gingen sie nach Hause und warteten. Jedes Jahr mussten die Kinder von einer anderen Stelle nach Hause finden und jedes Jahr wurde der Weg schwieriger und gefährlicher. Das ganze Jahr über schulten die Eltern ihre Kinder über das Leben in Höhlen – wie man Licht machte und Nahrung fand, welches Wasser man trinken konnte, wie man essbare von giftigen Pilzen unterschied und wie man aus den Spuren, die das Wasser an den Felsen hinterließ, lesen konnte, wo man war – damit sie diesen einen Tag überleben konnten. Jedes Jahr …“ Xanthe verstummte und schien ihren Gedanken nachzuhängen. Vielleicht waren es Erinnerungen an Phos Astos und an die Familie, die sie verloren hatte.

Als Xanthe weitersprach, lächelte sie, aber ihre Stimme klang traurig. „Und deshalb“, sagte sie voller Bedauern, „glaube ich nicht, dass ich euch das beibringen kann.“

Meilin blickte das Mädchen auf eine Weise an, wie es Conor bei der Kriegerin aus Zhong kaum je beobachtet hatte. Er las Respekt daraus. Oder Ehrfurcht. Takoda stand der Mund offen. Selbst Kovo verharrte still und nachdenklich.

Abermals änderte sich der Charakter der Gänge: Jetzt wanden sie sich hin und her, auch hoben und senkten sie sich, dass Conor ganz wirr im Kopf wurde. Er kam auf losem Geröll ins Stolpern und gleich darauf ein zweites Mal. Er konnte sich gerade noch mit der Hand abfangen, an seltsam geformten Felsen, die sich wie Kreide anfühlten.

Das Gestein war hier dunkler, es blätterte beim Berühren ab wie verbrannte Kohle und hinterließ dunkle Striche auf der Haut. Ein Schweißtropfen, der ihm von der Wange in die Hand fiel, verwandelte die Asche in Tinte. Conor schauderte und fühlte sich unbehaglich, aber dann riss er sich zusammen und zwang sich, den anderen zu folgen.

„Vorsicht hier!“, rief Xanthe und ging behutsam um ein Loch in der Mitte der Tunnelsohle herum.

Conor wäre es nicht aufgefallen. Selbst jetzt, wo er Bescheid wusste, stürzte er beinahe, und dann begriff er – zu spät –, dass ihm nicht Tollpatschigkeit oder Müdigkeit zu schaffen machten und seinen Gleichgewichtssinn verwirrten, sodass er immer wieder zurückfiel.

Es war der Parasit, der sich in seinem Körper voranarbeitete.

Der Schreck fuhr ihm durch alle Glieder. Er hatte sich so sehr gewünscht, dies alles vergessen zu können, dass es ihm fast gelungen wäre. Nun traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Seine Haut brannte, aber das Blut in seinen Adern fühlte sich eiskalt an. Die Schauder, die er anfangs nur gelegentlich gespürt hatte, waren zu einem beständigen Beben geworden, das ihn tagein, tagaus verfolgte – wenn man an einem Ort ohne Sonne überhaupt von Tagen sprechen konnte – und bis in den fiebrigen Schlaf.

Briggan trottete...