Die Reiter der Apokalypse - Geschichte des Dreißigjährigen Krieges

von: Georg Schmidt

Verlag C.H.Beck, 2018

ISBN: 9783406723391 , 813 Seiten

Format: ePUB, PDF

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Preis: 24,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Die Reiter der Apokalypse - Geschichte des Dreißigjährigen Krieges


 

1. Ungewissheiten oder warum die Freiheit ängstigte


Die humanistische Öffnung


Im 14. Jahrhundert entdeckten Francesco Petrarca und die Humanisten die antiken Texte neu. Sie waren begeistert, weil diese, anders als die christliche Überlieferung, den einzelnen Menschen mit seinen Sorgen und Nöten ins Zentrum rückten und die vollständige Entfaltung seiner Anlagen propagierten. Es schien sich zu lohnen, die alten Sprachen und Kulturen, ihre Werte und Sitten in Form einer Renaissance, einer Wiedergeburt, verfügbar zu machen und zu neuem Leben zu erwecken. Die Sorge galt der Natur und der Würde des unvollkommenen Menschen,[1] dem Gott jedoch die Gabe und die Freiheit verliehen hatte, sich selbst zu formen und zu verbessern. Die Humanisten kämpften für ein ideales Menschentum nach klassisch-antikem Vorbild und gegen die geistige Bevormundung durch die Kirche und ihre allein auf das Jenseits gerichtete Botschaft. In heidnischen Schriften fand sich ihres Erachtens ebenfalls die eine göttliche Wahrheit. Sie musste ergänzend herangezogen werden, um dem Wesen und den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden.

Die Humanisten wollten die Menschen nicht nur gelehrter, sondern auch sittlich und moralisch besser machen.[2] Ihnen schien das während des Mittelalters verlorene Wissen der Griechen und Römer unverzichtbar zu sein, zumal es den wichtigen Gedanken in die Welt zurückbrachte, dass das Individuum für sein Tun und Lassen verantwortlich sei. Die antiken Schriften forderten eigene Aktivität, um die Zukunft und ein künftig besseres Leben selbst zu gestalten. Darüber hinaus erklärten sie das eigene Gewissen zur letzten Reflexions- und Entscheidungsinstanz. Die volle Tragweite dieses geistig-kulturellen Umbruchs wurde zwar erst in der Zeit der Aufklärung deutlich, doch schon vorher lastete die Diskrepanz zwischen der biblischen Heilsordnung und den Zwängen des diesseitigen Lebens schwer auf den Gläubigen. Die Humanisten hatten jedenfalls das Deutungsmonopol der Bibel gebrochen und eine den irdischen Sorgen und Nöten zugewandte Alternative erschlossen. Die antiken Einsichten wurden allerdings zum Problem, wenn sie mit den offenbarten göttlichen Vorgaben kollidierten.

Aus Sicht der Humanisten war der Mensch durch Erziehung und Bildung in jede Richtung entwicklungsfähig und sollte über seine Kräfte und seinen Willen frei verfügen. Dieser Säkularisierungsschub weckte an den Höfen und in reichen bürgerlichen Milieus ein zuvor unbekanntes diesseitiges Lebensgefühl. Für religiöse Eiferer und den gemeinen Mann war vieles von dem, was er aus den elitären Milieus hörte, schlicht und einfach Sünde. Gott werde die Betreffenden strafen. Das der Verfügungsgewalt der Kirche entwundene, humanistisch justierte Wissen ermöglichte fatale Irrwege wie Hexenglauben, esoterische Geheimlehren oder ein lasterhaftes Leben. Es führte aber auch zu den Entdeckungen bisher unbekannter Naturgesetze und Gebiete der Erde, und es brachte Europa an die Spitze aller Kontinente. Die effektive Nutzung des Schießpulvers, die technischen Verbesserungen der Waffen und Befestigungsanlagen sowie die Kenntnis antiker Taktiken und Strategien ermöglichten darüber hinaus auch die gewaltige Kriegsfurie, die Deutschland im 17. Jahrhundert heimsuchte.

Die scheinbar statische Welt des Mittelalters war freilich schon vor dem Auftreten der Humanisten in Bewegung geraten. Thomas von Aquin hatte den Menschen, um ihre Sünden zu bändigen, eine von Gott gewollte Gemeinschaftsordnung zugebilligt.[3] Marsilius von Padua lehnte den Vorrang der geistlichen Gewalt vor einer weltlich-bürgerlichen Friedensordnung ab, die über das «Mittel zwingender Gewaltsamkeit» verfügte.[4] Das Volk gebe sich seine Gesetze und Herrscher selbst und benötige weder eine göttliche noch eine naturrechtliche Autorität. Marsilius deutete zudem an, dass der Mensch für sich, seine Welt und den Frieden selbst verantwortlich sein könne. Das römische Kaiserreich war für ihn die politische Form, in der die gottgewollte, vom Papst nur vollzogene Herrschaftsübertragung (translatio imperii) an die Franken und danach an die Deutschen stattgefunden habe, um bis zur Endzeit fortzubestehen. Das Heilige Römische Reich verkörperte demnach die letzte Ordnung dieser Welt.

Die von der Renaissance geleiteten Menschen stießen soziokulturell in neue Dimensionen vor. Die humanistische Fokussierung auf den Menschen ermöglichte jedoch auch einen von allen christlichen Schranken befreiten Egoismus. Dieser entfaltete unter dem Deckmantel von Fortschritt, Gemeinwohl oder Staatsräson sein ordnungspolitisches Potential, aber auch seine zerstörerische Kraft. Humanisten waren Berater von Republiken, Monarchen und Despoten.[5] An Höfen und in den Ämtern des werdenden Staates konkurrierten sie mit der adligen Elite. Die über die lateinische Sprache vermittelte Deutungskultur stellte Verschiedenes nebeneinander und verknüpfte rhetorisch sich Widersprechendes. Dies erschien der humanistischen Avantgarde als zukunftsträchtiges entwicklungsoffenes Konzept. Die Gegenwart war nicht mehr ein bloßes Durchgangsstadium auf dem Weg zum Jüngsten Gericht, sondern die gestaltbare Folge unterschiedlicher Traditionen.[6] Dieser Gewinn an innerweltlicher Zukunft wies sowohl den Weg in den Dreißigjährigen Krieg als auch aus ihm heraus.

Es waren Humanisten, die im 15. Jahrhundert kommunale und nationale Traditionen in identitätsstiftender Absicht erfanden und so die politische und kulturelle Differenzierung Staateneuropas beschleunigten.[7] Dazu griffen sie auf antike Völker- und Stammesbezeichnungen – Germanen, Bataver, Gallier, Sarmaten, Britannier etc. – zurück, um auf dieser Basis Traditions-, Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaften zu konstruieren. Die Sprachen, Gründungslegenden und Mythen sorgten ebenso wie homogenisierende Tugenden, Rechte und Pflichten für ethnisch-kulturelle und politisch-organisatorische Zuordnungen. Die universale, durch Papst und Kaiser repräsentierte Ordnung wurde von staatlich-nationalen Einheiten abgelöst, die im Zusammenspiel mit den neuen Konfessionen und der alten Ständeordnung jedem seinen Platz zuwiesen. Die Nationen versprachen als Vaterländer emotionale Geborgenheit in einer unübersichtlich und vielgestaltig gewordenen Welt. Der «Wettkampf der Nationen»[8], ihrer Gelehrten, Baumeister und Dichter, ihrer Kulturen und ihrer Machtpotentiale, begann im späten Mittelalter. Die im Idealfall friedliche Rivalität, die Fortschritt generierte, mündete häufig in Kriege, weil die politischen Akteure dort keine tragfähigen Kompromisse fanden, wo das herrschaftliche oder staatliche Gewaltmonopol versagte.

Erasmus von Rotterdam, der führende Humanist nördlich der Alpen, war um 1466 als illegitimer Sohn eines Geistlichen geboren worden. Er wurde bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben im Geist der Erneuerungsbewegung Devotio moderna erzogen, einer Synthese aus christlichem und antikem Denken. Sein Ideal war eine harmonische und friedliche Gesellschaft. Seine Schriften richteten sich gegen kirchliche und machtpolitische Fehlentwicklungen. Erasmus war 1515 zum Erzieher und Ratgeber des späteren Kaisers Karl V. ernannt worden. Er wollte sich mit den ständigen Kriegen nicht abfinden und die Menschen, die aus seiner Sicht über einen freien Willen verfügten, vom Aberglauben, von sinnlosen Ritualen und von barbarischen Handlungsweisen befreien. Trotz seiner Kritik an der Kirche, mit der er auch der Reformation den Weg bahnte, betonte er die christliche Heilslehre als Voraussetzung sittlichen Handelns. Als Christ lehnte Erasmus Kriege prinzipiell ab, insbesondere jedoch solche aus religiösen Motiven. Sähen Christen sich durch ihren Glauben gezwungen, Argumente für den Krieg zu sammeln, der dem menschlichen Wesen widerspreche, führe dies zu Entartungen und vernichte die ihnen eigene Freiheit. Kriege brächten keine Lösungen, sondern förderten lediglich Gewalt und Unterdrückung.[9]

Der Heilige Krieg, die Verbreitung der christlichen Erlösungsbotschaft durch Gewalt, erschien Erasmus als absurd. In seiner Friedensklage Querela Pacis[10] bezweifelte er die Lehre vom gerechten Krieg und forderte die Kirchenvertreter auf, Gewalt abzulehnen und nur den Frieden zu preisen. Während die christliche Lehre vom gerechten Krieg die in der Bibel genannten...