Weltgeschichtliche Betrachtungen

von: Jacob Burckhardt

Verlag C.H.Beck, 2018

ISBN: 9783406720550 , 303 Seiten

Format: ePUB, PDF

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Weltgeschichtliche Betrachtungen


 

II.

Von den drei Potenzen.


<371> Unser Thema werden Staat, Religion und Kultur in ihrem gegenseitigen Verhältnisse sein. Hierbei sind wir uns der Willkür unserer Trennung in diese drei Potenzen wohl bewußt. Es ist, als nähme man aus einem Bilde eine Anzahl von Figuren heraus und ließe den Rest stehen. Auch soll die Trennung bloß dazu dienen, uns eine Anschauung zu ermöglichen, und ohnehin muß ja freilich jede fachweise trennende Geschichtsbetrachtung so verfahren (wobei die Fachforschung jedesmal ihr Fach für das wesentlichste hält).

Die drei Potenzen sind unter sich höchst heterogen und nicht koordinierbar, und ließe man auch die beiden stabilen: Staat und Religion, in einer Reihe gehen, so wäre doch die Kultur etwas wesentlich anderes.

Staat und Religion, die der Ausdruck des politischen und des metaphysischen Bedürfnisses sind, beanspruchen wenigstens für das betreffende Volk, ja für die Welt, die universale Geltung.

Die dem materiellen und dem geistigen Bedürfnis im engeren Sinn entsprechende Kultur aber ist für uns hier: der Inbegriff alles dessen, was zur Förderung des materiellen und als Ausdruck des geistig-sittlichen Lebens spontan zustande gekommen ist, alle Geselligkeit, alle Techniken, Künste, Dichtungen und Wissenschaften. Sie ist die Welt des Beweglichen, Freien, nicht notwendig Universalen, desjenigen, was keine Zwangsgeltung in Anspruch nimmt.

Eine unnütze Prioritätsfrage könnte zwischen den dreien aufgeworfen werden; wir sind hier davon wie von aller Spekulation über die Anfänge dispensiert.

Unser Hauptgegenstand wird zunächst ihre kurze Charakteristik und alsdann die Erörterung ihrer gegenseitigen Einwirkung aufeinander sein.

Bisweilen scheinen sie sogar in der Funktion abzuwechseln; es gibt vorzugsweise politische und vorzugsweise religiöse Zeiten oder wenigstens Momente und endlich Zeiten, die vorzugsweise den großen Kulturzwecken zu leben scheinen.

Ferner wechselt ihr Bedingen und Bedingtsein oft in raschem Umschlag; oft täuscht sich der Blick noch lange darüber, welche die aktive und welche die passive ist.

Und jedenfalls existiert in Zeiten hoher Kultur immer alles auf allen Stufen des Bedingens und der Bedingtheit gleichzeitig, zumal, wenn das Erbe vieler Epochen schichtweise übereinander liegt.

1. Der Staat.


<372> Eitel sind alle unsere Konstruktionen von Anfang und Ursprung des Staates, und deshalb werden wir uns hier über diese Primordien nicht wie die Geschichtsphilosophen den Kopf zerbrechen. Nur so viel Licht, daß man sehe, was für ein Abgrund vor uns liegt, sollen die Fragen geben: Wie wird ein Volk zum Volk? und wie zum Staat? Welches sind die Geburtskrisen? Wo liegt die Grenze der politischen Entwickelung, von welcher an wir von einem Staat sprechen können?

Absurd ist die Kontrakthypothese für den zu errichtenden Staat, die bei Rousseau auch nur als ideale hypothetische Aushilfe gemeint ist, indem er nicht zeigen will, wie es gewesen sei, sondern, wie es nach ihm sein sollte. Noch kein Staat ist durch einen wahren, d.h. von allen Seiten freiwilligen Kontrakt (inter volentes) entstanden; denn Abtretungen und Ausgleichungen wie die zwischen zitternden Romanen und siegreichen Germanen sind keine echten Kontrakte. Darum wird auch künftig keiner so entstehen. Und wenn einer so entstände, so wäre es eine schwache Schöpfung, weil man beständig um die Grundlagen rechten könnte.

Die Überlieferung, welche Volk und Staat nicht unterscheidet, bleibt gerne bei der Idee von der Abstammung stehen; das Volk kennt Namensheroen und zum Teil eponyme Archegeten als mythische Repräsentanten seiner Einheit[1], oder es hat eine dunkle Kunde bald von einer Urvielheit (die ägyptischen Nomen), bald von einer Ureinheit, die sich später getrennt habe (der Turm von Babel). Aber alle diese Kunde ist kurz und mythisch.

Was für Kunde geht etwa aus dem Nationalcharakter in betreff der Anfänge des Staates hervor? Jedenfalls nur eine sehr bedingte, da er nur in einer unbestimmbaren Quote aus ursprünglicher Anlage besteht, sonst aber aus aufsummierter Vergangenheit, als Konsequenz von Erlebnissen, also zum Teil erst durch die nachherigen Schicksale des Staates und Volkes entstanden ist[2].

Oft widerspricht sich die Physiognomie und das politische Schicksal eines Volkes total durch späte Verschiebung und Vergewaltigung.

Ferner kann der Staat zwar um so viel mächtiger sein, je homogener er einem ganzen Volkstum entspricht; aber er entspricht einem solchen nicht leicht, sondern einem tonangebenden Bestandteil, einer besonderen Gegend, einem besondern Stamm, einer besondern sozialen Schicht.

Oder hätte das Rechtsbedürfnis allein schon den Staat geschaffen? Ach, das hätte noch lange warten müssen! Etwa bis die Gewalt sich selber so <373> lange gereinigt hätte, daß sie zu ihrem eigenen Vorteil und um das Ihrige sicher zu genießen, auch Andere aus der Verzweiflung zur Ruhe zu bringen für gut fände. Auch dieser einladenden optimistischen Ansicht, wonach die Gesellschaft das Prius und der Staat zu ihrem Schutze entstanden wäre, als ihre negative, abwehrende, verteidigende Seite, so daß er und das Strafrecht identischen Ursprung hätten, können wir also nicht beitreten. Die Menschen sind ganz anders.

Welches waren die frühesten Notformen des Staates? Wir möchten dies z.B. gerne für die Pfahlbauleute wissen. Aber die Verweisung auf Neger und Rothäute hilft nicht, so wenig als die auf die Negerreligion bei der Religionsfrage; denn die weiße und gelbe Rasse sind gewiß von Anfang an anders verfahren, die dunkeln können für sie nicht maßgebend sein.

Etwas wesentlich anderes sind ferner die Tierstaaten, bei weitem vollkommener als die Menschenstaaten, aber unfrei. Die einzelne Ameise funktioniert nur als Teil des Ameisenstaates, welcher als ein Leib aufzufassen ist. Das Ganze, was da vorgeht, ist dem einzelnen Individuum ganz unverhältnismäßig überlegen, ein Leben in vielen Atomen; schon die höheren Tierklassen aber leben bloß als Familie, höchstens als Rudel. Nur der Menschenstaat ist eine Gesellschaft, d.h. eine irgendwie freie, auf bewußter Gegenseitigkeit beruhende Vereinigung.

So ist denn nur zweierlei wahrscheinlich: a) Die Gewalt ist wohl immer das Prius. Um ihren Ursprung sind wir nie verlegen, weil sie durch die Ungleichheit der menschlichen Anlagen von selbst entsteht. Oft mag der Staat nichts weiter gewesen sein als ihre Systematisierung. Oder b) wir ahnen sonst einen höchst gewaltsamen Prozeß, zumal der Mischung. Ein Blitzstrahl schmilzt mehreres zu einem neuen Metall zusammen, etwa zwei Stärkere und ein Schwächeres oder umgekehrt. So dürften sich zum Zweck einer Eroberung oder bei Anlaß einer solchen die drei Dorierphylen und die drei Gotenstämme zusammengetan haben[3]. Eine schreckliche Gewalt, an die sich das Vorhandene ansetzte, und die dann zur Kraft wurde, sind auch die Normannen in Unteritalien.

Von den furchtbaren Krisen bei der Entstehung des Staates, von dem, was er ursprünglich gekostet hat, klingt noch etwas nach in dem enormen, absoluten Vorrecht, das man ihm von jeher gewährt hat.

Dies erscheint uns wie eine aprioristische Selbstverständlichkeit, während es wohl zum Teil verhüllte Überlieferung ist, wie dies noch von manchem gilt; denn viele Überlieferung geht unausgesprochen, durch die bloße Zeugung, von Geschlecht zu Geschlecht; wir können dergleichen nicht mehr ausscheiden.

<374> Ist die Krisis eine Eroberung gewesen, so ist der frühste Inhalt des Staates, seine Haltung, seine Aufgabe, ja, sein Pathos wesentlich die Knechtung der Unterworfenen[4].

In den frühesten Bildern vom Staate braucht das älteste Überlieferte nicht gerade das Altertümlichste zu sein. Wüstenvölker, auch von hoher Rasse, von denen das einzelne Individuum, sobald es in eine andere Umgebung kommt, sogleich in das moderne Leben hineinwächst, behaupten bis in unsere Tage hinein einen sehr urtümlichen Zustand: den patriarchalischen, während die ältesten erhaltenen...