Der Codex Manesse - Geschichte, Bilder, Lieder

von: Anna Kathrin Bleuler

Verlag C.H.Beck, 2018

ISBN: 9783406721359 , 136 Seiten

Format: ePUB, PDF, Online Lesen

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen für: Mac OSX,Linux,Windows PC

Preis: 7,49 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Der Codex Manesse - Geschichte, Bilder, Lieder


 

3. Herstellung und Aufbau des Codex


Es gibt rund 40 mittelhochdeutsche Lyrikhandschriften, von denen über die Hälfte allerdings nur fragmentarisch erhalten ist. Die Überlieferung setzt Ende des 13. Jahrhunderts ein und reicht bis ins 15. Jahrhundert. Bei diesen 40 Überlieferungsträgern handelt es sich um ganz unterschiedliche Handschriftentypen. Neben Handschriften, die – wie der Codex Manesse – die Werke mehrerer Autoren versammeln, gibt es solche, die nur ein Autorcorpus enthalten. Solche Einzelsammlungen sind teilweise zu späteren Zeitpunkten mit anderen Handschriften zusammengebunden worden. Hinzu kommen längere und kürzere Liedeinträge in Handschriften, die im Wesentlichen andere Textsorten enthalten, z.B. in Epik-Handschriften oder in lateinischsprachigen Handschriften.

Mittelalterliche Handschriften werden heute zumeist nach ihrem aktuellen Aufbewahrungsort benannt. Sie sind außerdem mit einer kennzeichnenden Buchstabensigle versehen, wobei Großbuchstaben für Pergament-Handschriften und Kleinbuchstaben für Papierhandschriften stehen. Für den Codex Manesse ergibt sich die Bezeichnung Große Heidelberger Liederhandschrift C daraus, dass die Universitätsbibliothek Heidelberg, in deren Besitz er heute ist, über eine weitere, wesentlich kleinere und bilderlose mittelhochdeutsche Liederhandschrift verfügt, die wohl etwas früher zu datieren ist. Diese vermutlich Ende des 13. Jahrhunderts im Elsass entstandene Handschrift wird als Kleine Heidelberger Liederhandschrift A bezeichnet. Hinzu kommt die sogenannte Stuttgarter Liederhandschrift B (ehemals: Weingartner Liederhandschrift; heute in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart), die ebenfalls um 1300 entstanden ist und aus dem westlichen Bodenseegebiet, eventuell aus Konstanz, stammt. Anders als A sind die Handschriften B und C mit ganzseitigen Autorenbildern versehen.

Bei den Handschriften A, B und C, von denen der Codex Manesse die prachtvollste und umfangreichste ist, handelt es sich um die ältesten deutschsprachigen Lyriksammlungen, die mehr als ein Autorcorpus enthalten. Zum Teil weisen sie inhaltliche Entsprechungen auf, jedoch hat keine der drei Handschriften der anderen als Vorlage gedient. Vergleicht man die gemeinsam überlieferten Texte, zeigt sich allerdings, dass für manche Partien des Codex Manesse dieselben Vorlagen benutzt worden sein müssen wie für Teile der Handschriften A und B. Bei diesen den Handschriften A/C und B/C gemeinsam zugrunde liegenden Vorlagen, die in der Forschung als *AC und *BC bezeichnet werden, handelt es sich nicht um materiell greifbare Größen, sondern um hypothetische Konstrukte. Denn sie sind – genauso wie nahezu alle anderen anzunehmenden Vorlagen von A, B und C – nicht erhalten.

Was den Codex Manesse betrifft, liegen lediglich zwei schlecht erhaltene Pergament-Bruchstücke vor, die in seinem direkten Umfeld zu verorten sind. Beim einen, dem sogenannten Naglerschen Fragment (heute in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau [Berol. mgo 125]), handelt es sich um zwei stark beschnittene Einzelblätter, für die Voetz gezeigt hat, dass sie wohl tatsächlich die spärlichen Überreste einer Lyrikhandschrift darstellen, die dem Codex Manesse als direkte Vorlage gedient hat. Das Graphiesystem dieses Fragments weist auf Zürich und Umgebung als Entstehungsort hin (Voetz 2015, S. 85–91). Beim anderen dagegen, dem aus zwei Pergamentdoppelblättern bestehenden sogenannten Troßschen Fragment (heute in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau [Berol. mgq 519]), handelt es sich nicht um eine Vorlage, sondern um die Überreste einer im 15. Jahrhundert erstellten Abschrift des Codex Manesse, die aus dem württembergischen bzw. fränkischen Raum stammt.

Das weitgehende Fehlen von Vorlagen, nach denen die mittelalterlichen Schreiber gearbeitet haben, macht es schwierig, Aussagen zum Herstellungsprozess und zur Konzeption der heute noch erhaltenen Lyrikhandschriften zu treffen. Alle Befunde, die hierzu vorliegen, wurden indirekt durch die Analyse der Handschriften erschlossen.

Herstellungsprozess


Mittelalterliche Pergamenthandschriften wurden lagenweise verfasst. Eine Lage besteht aus einer bestimmten Anzahl an Pergamentblättern, die in der Mitte gefaltet wurden, sodass Doppelblätter mit jeweils vier Seiten entstanden. Diese Doppelblätter wurden dann wie bei einem Heft ineinandergelegt. Wenn die Seiten fertig beschriftet und bebildert waren, wurden die Lagen mit einem in der Mitte an der Faltstelle verlaufenden Faden zusammengenäht, wobei die Zahl der Doppelblätter, die zu einer Lage vereint wurden, variieren konnte und auch innerhalb eines Buches nicht einheitlich sein musste. Wenn alle Lagen dann fertiggestellt waren, wurden sie aufeinandergelegt und mit einem Einband, der zumeist aus zwei mit Leder überzogenen Holzdeckeln bestand, versehen. Die Bezeichnung Codex für das mittelalterliche Buch verweist (von lat. caudex: Holzklotz) auf seine Herstellung mit Holz.

Der großformatige und auf Repräsentation angelegte Codex Manesse (35 × 25 Zentimeter) umfasst 38 Lagen, von denen die meisten ursprünglich Senionen waren, das heißt, aus sechs Doppelblättern bestanden haben. Durch Umarbeitungen bei der Herstellung des Buches, aber auch durch spätere Blattverluste, ist die Sechserzahl nur bei etwa der Hälfte der Lagen erhalten. Die Handschrift umfasst heute 426 Blätter, deren Pergamentqualität nicht immer die beste ist. Die Kostspieligkeit des Buches zeigt sich vielmehr darin, dass bei seiner Herstellung äußerst großzügig mit dem Pergament, das auch in minderer Qualität teuer war, umgegangen wurde. So finden sich – und das ist absolut unüblich für Pergamenthandschriften dieser Zeit – etliche für Nachträge freigelassene leere und halbleere Seiten. Ein üppiger Umgang mit dem Pergament zeigt sich ferner am großzügig gestalteten Schriftspiegel (26 × 17,5 Zentimeter, der zweispaltig mit je 46 Zeilen gefüllt ist). Schätzungen gehen davon aus, dass das Buch ursprünglich einmal stattliche sieben Kilogramm gewogen hat.

Als Vorlage für die Abschrift diente, das gilt heute als gesichert, nicht eine Handschrift, sondern eine Vielzahl an kleineren Heftchen und Einzelbögen, die mit Liedtexten einzelner Dichter beschriftet waren, sowie größere und kleinere Liederbücher, die mehrere Autorcorpora umfassten. Mindestens in einem Fall muss eine illuminierte Handschrift als Vorlage gedient haben. Das entnehmen wir dem Umstand, dass der Codex Manesse und die Stuttgarter Liederhandschrift B einige sehr ähnliche Autorenbilder aufweisen, was darauf hinweist, dass die oben vorgestellte Quelle *BC bebildert war (Schiendorfer 1986, S. 192). Wie bereits gesagt, gehörten diese Vorlagen höchstwahrscheinlich nicht zum Besitz der Familie Manesse, sondern haben temporär als Leihgaben in deren Schreibstube gelagert. Der Grund dafür, dass – bis auf das oben erwähnte Fragment – keine dieser Vorlagen erhalten ist, könnte darin bestehen, dass diese den Handschriften A, B und C vorausgehende Überlieferungsstufe der mittelhochdeutschen Lyrik weniger repräsentativ war und deshalb die Jahrhunderte in den Bibliotheken nicht überdauert hat. Hinweise darauf liefern jüngere Fragmentfunde. Bei der Restaurierung alter Bücher sind wiederholt Pergamentseiten bescheiden ausgestatteter mittelhochdeutscher Liedersammlungen zum Vorschein gekommen, die in späterer Zeit zur Herstellung von Bucheinbänden verwendet worden waren (vgl. z.B. das Budapester-Fragment: Széchény-Nationalbibliothek Cod. Germ. 92).

Diese kleineren und größeren Lyriksammlungen, die als Vorlagen für den Codex Manesse dienten, wurden von mehreren Schreibern, zum Teil wohl über den Zwischenschritt von Vorabschriften auf Wachstafeln, abgeschrieben. Die für Nachträge freigelassenen leeren und halbleeren Seiten wurden zum Teil gefüllt. Solche nachträglich integrierten Textpassagen sind optisch an Veränderungen im Schriftbild zumeist gut erkennbar (z.B. plötzlicher Wechsel der Tintenfarbe, sprunghafter Anstieg der Abbreviaturen, Wechsel der Schreiberhand).

Der Herstellungsprozess der Handschrift lässt sich in unterschiedliche Entstehungsphasen einteilen, wobei gemeinhin zwischen einem Grundstock und mehreren Nachtragsschichten unterschieden wird. Der Grundstock umfasst 110 Autorcorpora und damit ca. 80 Prozent des Gesamtbestands der Handschrift. Die Miniaturen zu diesen 110 Autorcorpora wurden von einem Maler erstellt, dem sich mindestens drei Gehilfen zuordnen lassen, mit denen er zusammenarbeitete. Die Bilder dieses als ‹Grundstockmaler› bezeichneten Malers lassen sich am einfachsten daran erkennen, dass sie (bis auf eine Ausnahme:...