Schwarzbuch Migration - Die dunkle Seite unserer Flüchtlingspolitik

von: Karl-Heinz Meier-Braun

Verlag C.H.Beck, 2018

ISBN: 9783406721113 , 193 Seiten

Format: ePUB, PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Schwarzbuch Migration - Die dunkle Seite unserer Flüchtlingspolitik


 

1. Einleitung


Flüchtlinge sind keine anonyme Masse, sondern Menschen wie Doaa aus Syrien. Ihr Schicksal und ihre Flucht über das Mittelmeer hat die UNO-Flüchtlingshilfe dokumentiert. Die 19-Jährige war eine ehrgeizige Schülerin, die vor dem Bürgerkrieg mit ihrer Familie nach Ägypten floh, wo sie ohne Arbeitserlaubnis am Rande der Gesellschaft lebte. Mit ihrem Freund Bassem, der um ihre Hand anhielt, beschloss sie, nach Europa zu fliehen, um dort in Schweden bei Landsleuten eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Bassem übergab sein gesamtes Erspartes – 5000 Dollar – an die Menschenschmuggler, die sie auf ein überfülltes Fischerboot brachten. 500 Menschen waren darauf zusammengepfercht, davon 300 unter Deck.

Nach drei Tagen auf See verlor Doaa den Glauben an eine sichere Ankunft. «Wir werden ertrinken», sagte sie zu Bassem. Ein verrostetes Boot kam am vierten Tag auf sie zu. Die Flüchtlinge weigerten sich, in das neue Gefährt überzuwechseln, die Menschenhändler rammten ein Loch in das Fischerboot und lachten: «Mögen die Fische Euer Fleisch fressen!» Das Boot kenterte innerhalb weniger Minuten. Die 300 Menschen, die unter Deck gefangen waren, hatten keine Chance. Doaa erinnert sich: «Ich hörte, wie Menschen schrien und sah, wie ein Kind vom Propeller in Stücke zerrissen wurde.» Hunderte Leichen schwammen um sie herum. Diejenigen, die überlebt hatten, fanden sich in Gruppen zusammen und beteten. Bassem versorgte seine Verlobte mit einem Rettungsring, weil sie nicht schwimmen konnte. Viele Flüchtlinge verloren in der folgenden Nacht die Kräfte. Doaa schildert, wie Männer ihre Rettungswesten abnahmen und ertranken. Einer von ihnen übergab ihr kurz vor seinem Tod seine neun Monate alte Enkelin Melek. Doaa musste mit ansehen, wie auch Bassem die Kräfte verließen und wie er starb. Trotz ihrer Trauer nahm sie ein weiteres Kind auf. In der Gewissheit, dass sie selbst nicht überleben würde, übergab die Mutter ihr das 18 Monate alte Mädchen, Masa. Nun war Doaa für zwei völlig erschöpfte Kinder verantwortlich, die weinten, vor Hunger und Durst. Sie erzählte ihnen Geschichten und sang für die Mädchen, zwei Tage vergingen. Dann sah Doaa ein Handelsschiff. Zwei Stunden rief sie um Hilfe, bis sie gerettet wurde. Nur 11 von den 500 Flüchtlingen überlebten.

Eine offizielle Untersuchung der Katastrophe hat es nie gegeben. Das Interesse der Medien flaute nach kurzer Zeit ab. Melek starb noch an Bord des Schiffes, das sie gerettet hatte, die kleine Masa überlebte wie durch ein Wunder, nach vier Tagen auf dem Meer, in einem Krankenhaus in Griechenland, wohin sie ein Rettungshubschrauber gebracht hatte. Über Facebook wurde schließlich sogar ein Onkel des kleinen Mädchens gefunden, wie die UNHCR-Pressesprecherin Melissa Fleming berichtete. Doaa hat es inzwischen bis nach Schweden geschafft.

Sobald ein anonymer «Flüchtling» einen Namen, eine Geschichte und ein Gesicht bekommt, fällt es sehr viel schwerer, sein Leid zu ignorieren und sich hartherzig zu zeigen. Es handelt sich um Menschen mit Gefühlen, Hoffnungen und schweren Schicksalen. Das gerät in der aktuellen Debatte leicht in Vergessenheit, wenn in abstrakten Begriffen von «Flüchtlingswellen», «Migrationsströmen» oder gar, auf Seiten der Rechtspopulisten, von «Invasoren» die Rede ist. Was es für die Zuflucht suchenden Menschen ganz konkret bedeutet, wenn sich Europa abschottet, lässt sich hinter solchen Worten gut verbergen. Dann fällt es leichter, das Elend der Flüchtlinge zu verdrängen.

Melissa Fleming, die Doaas Schicksal in einem Buch festgehalten hat, fragt zu Recht, warum die junge Syrerin nicht auf legalem Wege nach Europa kommen durfte und warum sie und viele andere Flüchtlinge solche Tragödien erleiden müssen. Warum gibt es nicht massive Aufnahmeprogramme für syrische Flüchtlinge in Europa? Eine Frage, die sich in der «Flüchtlingskrise» viele stellten. Im Januar 2016 äußerte sich sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel in diese Richtung, zu einer Zeit, als Deutschland weltweit für seine offene Flüchtlingspolitik und Willkommenskultur gelobt wurde: «Dass eine EU mit 500 Millionen Menschen nicht eine Million Syrer aufnehmen kann, das leuchtet mir nicht ein. Das wird kein gutes Bild unseres Kontinents abgeben.»

Doch ist Deutschland wirklich so viel besser als der Rest Europas? Fühlen wir uns zu Recht als «Weltmeister der Menschlichkeit»? Tatsächlich gab es die «offenen Grenzen» des Herbstes 2015 nur wenige Wochen und sie waren in Sachen Zuwanderung die absolute Ausnahme in Deutschland. Ihren Ursprung hatte die «Willkommenskultur» in der Zivilgesellschaft, die die Flüchtlinge mit offenen Armen aufnahm. Zehn Prozent der deutschen Bevölkerung haben aktiv geholfen, 30 Prozent gespendet. Eine bisher nie da gewesene Hilfsbereitschaft, die bis heute anhält. Allzu schnell geriet darüber in Vergessenheit, wie sehr die deutsche Migrationspolitik zuvor und unmittelbar danach darauf abzielte, die Grenzen abzuschotten und ihre Sicherung auf andere Staaten abzuwälzen.

Während die deutsche Politik offiziell lange an der «Willkommenskultur» festhielt, und die deutsche Öffentlichkeit den Rest Europas für hartherzig erklärte, begannen schon im Herbst 2015 die Versuche, die Zahl der Flüchtlinge wieder zu reduzieren und die Außengrenzen Europas besser zu sichern: durch fragwürdige Deals mit problematischen Regimen in der Türkei und in Afrika, durch Verlagerung des Problems auf Südeuropa und durch eine aktive Bekämpfung der Fluchtursachen. Zudem erlebte das Land eine zuvor ungeahnte Verschärfung des Asylrechts – was allerdings die rechten Kritiker der Flüchtlingspolitik nicht davon abhielt, weiterhin von unkontrollierter Zuwanderung zu reden.

Der Journalist Johannes Simon stellte im November 2017 in den «Blättern für deutsche und internationale Politik» fest, die ganze deutsche Debatte um die «Flüchtlingskrise» sei von einer «grundlegenden Unehrlichkeit» geprägt. Viele wünschten sich die Abschottung, scheuten sich aber zu benennen, was das konkret heiße. Die Politik verpacke ihre Handlungen in der Flüchtlingsfrage in «euphemistische Watte». Diesen Schleier wegzuziehen und zu zeigen, welche Flüchtlingspolitik Deutschland und Europa tatsächlich verfolgen, ist das Anliegen dieses Buches. Denn sie wird auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen. Nach den harten Debatten der letzten Jahre sind viele nur allzu froh wegschauen zu können. Und die Bundesregierung setzte im Vorfeld der Wahlen – wenn auch vergeblich – alles daran, das Thema aus der Diskussion zu halten. Es gab eine Art unausgesprochenen Konsens: Wenn es wieder gelang, Deutschland die Flüchtlinge vom Leib zu halten, dann wollten viele nicht zu genau wissen, auf welche Weise das erreicht wurde.

Doch das Wegschauen ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Die globalen Fluchtbewegungen hören nicht auf, wenn wir uns für die Vogel-Strauß-Politik entscheiden. Und die europäische Abschottungspolitik führt dazu, dass ganz konkreten Menschen unfassbares Leid zugefügt wird, nicht nur, aber vor allem in Libyen. Würde diese Politik auch eine Mehrheit finden, wenn diese Konsequenzen allen plastisch vor Augen stünden? Vielleicht ja, vielleicht auch nicht. Aber zumindest sollten sie allen bewusst sein, die für diese Politik Verantwortung tragen – und das sind in letzter Konsequenz alle Staatsbürger unserer Demokratie.

Fast 40 Jahre lang habe ich mich als Redaktionsleiter und Integrationsbeauftragter des Südwestrundfunks (SWR) bzw. seines Vorläufers, dem Süddeutschen Rundfunk (SDR), als Wissenschaftler und ehrenamtlich Engagierter mit dem Thema Flucht und Migration beschäftigt. Wenn ich heute auf die eigenen Beiträge und Veröffentlichungen schaue, dann muss ich mir an vielen Stellen die Augen reiben. Denn es gibt in der Ausländerpolitik so gut wie nichts, was es nicht schon einmal gegeben hätte. «Gefährlicher Sommer. Italien in Bedrängnis. Zum zweiten Mal seit dem Frühjahr ist das Land von einer Flüchtlingswelle … überrascht worden.» Dieser Zeitungsausschnitt aus dem «SPIEGEL» stammt nicht vom Sommer 2015, vom Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise, sondern aus dem Sommer 1991. Damals erreichten über Nacht 15.000 irreguläre Migranten aus Albanien mit ihrem schrottreifen Schiff Vlora den italienischen Hafen Bari. Kurze Zeit später landeten an einem Tag rund 27.000 Albaner in Brindisi, bis heute das größte Ereignis dieser Art in der Geschichte der Flüchtlingszuwanderung im Mittelmeer. An die Bilder von den überfüllten Booten schien sich nach 24 Jahren aber kaum noch jemand zu erinnern, als die «Krise» erneut ausbrach.

Wer sich noch an die Debatten voriger Jahrzehnte erinnern konnte, erlebte ein Déjà-vu. ...