Die grüne Fee und das rote Blut - Kriminalroman

von: Nina Röttger

KBV Verlags- & Medien GmbH, 2018

ISBN: 9783954414246 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Die grüne Fee und das rote Blut - Kriminalroman


 

Kapitel 1


DONNERSTAG
Zehn Stunden zuvor.
Noch neunundfünfzig Stunden bis zum Tod
.

Immer wieder schlug die Axt zu. Immer wieder fand sie mit einem hässlichen Knirschen ihr Ziel. Isa versuchte wegzusehen, doch sie konnte es nicht. Eine Stimme in ihrem Inneren schrie sie an, dass sie sich umdrehen und davonlaufen sollte – weit, weit fort –, doch ihr Körper war zu Stein erstarrt.

Hitze und Helligkeit machten das, was sich vor ihren Augen abspielte, nur noch unerträglicher. Erneut ließ der Mann die Axt mit einem Schwung nach unten sausen und lachte, als das Krachen ertönte. Eisen schimmerte im Licht der gleißenden Sonne, und Leinenstoff wurde nass. Färbte sich dunkelrot.

Als sich der Wind drehte, wurde der Geruch bis zu ihrem Versteck getragen, und Isa drehte sich der Magen um. Aber sie war zu dicht dran, als dass sie es wagen konnte, auch nur das leiseste Geräusch zu machen. Wenn sie das tat, würde er sie ganz sicher hören. Er würde wissen, dass sie ihn beobachtete. Und dann würde er die Axt nehmen, langsam auf sie zugehen und sich ihr in aller Ausführlichkeit widmen …

»Isa, was treibst du denn hier? Wir haben gleich einen Auftritt!«

Erschrocken riss die junge Gauklerin den Blick von dem schauderhaften Spektakel los, das sich vor ihr auf der Wiese abspielte.

Neben ihrem grün-schwarz gestreiften Zelt, in dessen Eingang sie gerade verharrte, stand Lena, ihre beste Freundin und Bandkollegin, und schaute sie fragend an.

»Schhh!«, machte Isa und zog Lena an ihrem Rock ein Stück zurück. »Sei leise oder willst du, dass mein neuer Nachbar uns hört und auf ein kleines Schwätzchen vorbeikommt?«

Mit diesen Worten zeigte sie auf den Mann, den sie die ganze Zeit beobachtet hatte. Keine zehn Meter von ihnen entfernt stand er mit freiem Oberkörper zwischen zwei Zelten und hackte Holz für das große Kochfeuer des Heerlagers. Auf seiner roten, viel zu engen Stoffhose breiteten sich großflächig dunkle Schweißflecken aus. Darüber quoll ein gigantischer käsebleicher Bauch aus dem Bund wie ein schottischer Haggis, den man in ein Kindersöckchen gestopft hatte, und schwabbelte rettungslos, wenn das Axtblatt einen Holzscheit traf und der Aufprall den ganzen Körper in Wallung brachte. Auf dem Kopf trug der behaarte Koloss eine speckige Bundhaube, unter der sein Hirn langsam von der Frühlingssonne gebraten wurde.

Lenas Augen weiteten sich entsetzt. »Iiih!«, machte sie. »Das ist ja eklig.«

Eigentlich hatte Isa ihr Zelt rechtzeitig für den Auftritt mit ihrer Band verlassen wollen. Zumindest rechtzeitig für ihre Verhältnisse, denn die junge Spielfrau mit den Dreadlocks, die unter dem Namen »die grüne Fee von Absinth« von Mittelaltermarkt zu Mittelaltermarkt zog, war nicht gerade für ihre Pünktlichkeit bekannt. Doch der Anblick, der sich ihr beim Zurückschlagen der Zeltplane geboten hatte, war einfach zu paradox gewesen, um ihn zu ignorieren: Zu ihrer Linken ragten die runden, gemauerten Eulentürme des Klever Tors ehrwürdig in den strahlend blauen Himmel über Xanten. Von diesem äußeren Teil des Doppel-Stadttors aus führte eine Steinbrücke, auf der sich Besucher in mittelalterlichen und neuzeitlichen Gewändern tummelten, zum zweiten, inneren Tor und zum Nord- und Westwall, die die Grenze zum Stadtkern markierten. Blühende Bäume standen davor, duftend und voller zwitschernder Vögel; das Heerlager, das sich nach rechts über die Wiese hin ausbreitete, sah prachtvoll aus mit all den weißen und bunten Zelten, den Feuerkörben, Wimpeln, Heuballen und geschäftigen Gestalten. Von der anderen Seite der Brücke, die das Gelände wie eine Schwertklinge in zwei Teile spaltete, ging ein geschäftiges Brummen aus. Der Markt des großen Siegfriedspektakels zu Xanten hatte zwar erst vor wenigen Stunden seine Pforten geöffnet, war allerdings schon gut besucht. Donnerstag. Christi Himmelfahrt. Der Beginn eines wundervoll langen, sonnigen und mittelalterlichen Wochenendes im Mai.

Und ausgerechnet vor dieser Kulisse, die Isa seit Jahren liebte, reckte eine Mischung aus Troll und Bierfass voll blindem Vertrauen in die eigene maskuline Ausstrahlung ihre pelzige Wampe in die Sonne. Gnädigerweise änderte der Wind in diesem Moment die Richtung, sodass der Körpergeruch des Axtschwingers, der ein ganzes Heer für Stunden hätte außer Gefecht setzen können, in Richtung Innenstadt davongetragen wurde.

»Wenn der Kerl abends rüberkommen sollte, um mich zu fragen, ob ich seinen Spießbraten probieren will, muss ich ihn vermutlich mit einer Silberkugel erlegen«, murmelte Isa, drehte sich um und fing an, im Inneren ihres Zelts nach ihrer Trommel zu suchen.

Lena – auch »die wilde Helena« genannt – kicherte, wurde aber schnell wieder ernst. »Apropos, du und die Männer.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und hob die Augenbrauen, ihre typische Körperhaltung bei Standpauken oder Krisengesprächen. Schnell versuchte Isa abzuschätzen, zu welcher Kategorie der nächste Satz gehören würde.

»Ich habe gesehen, wie du Lennox vorhin begrüßt hast.«

Die grüne Fee seufzte innerlich. Eindeutig eine – ach was, die Standpauke. »Und?«, fragte sie betont unschuldig.

»Nichts ›und‹. Ich wollte nur anmerken, dass wir seit nicht einmal vier Stunden in Xanten sind und du dir schon wieder einen neuen Kerl geangelt hast. Das ist neuer Rekord.«

Wenn sie nicht gewusst hätte, dass ihre beste Freundin es im Grunde gut mit ihr meinte, wäre Isa in diesem Moment vermutlich ziemlich beleidigt gewesen. Seit sie sich ein halbes Jahr zuvor auf dem mittelalterlichen Weihnachtsmarkt zu Siegburg als Hobbydetektivin betätigt und dabei ihren eigenen Freund als Mörder entlarvt hatte, war die grüne Fee zugegebenermaßen nicht besonders scharf darauf gewesen, sich wieder auf eine ernsthafte Beziehung einzulassen. Ihrer Meinung nach hatte sie nach Marek und der Nacht, in der er ihr ein Messer an die Kehle gehalten hatte, durchaus ein bisschen Spaß verdient. Lena sah das allerdings anders und schwadronierte bei jeder sich bietenden Gelegenheit über Verdrängung, Bindungsängste und andere, ähnlich furchterregende Fachbegriffe.

»Was spricht dagegen?«, fragte Isa und zog die Trommel und eine grüne Umhängetasche aus dem Chaos, das sie beim Auspacken im Zelt veranstaltet hatte. »Lennox ist süß.«

»Er verkauft an seinem Stand LARP-Waffen für einen Großunternehmer! Du kannst weder Schaumstoff-Schwerter noch diese Mittelalter-Kaufhausketten leiden!«

»Ja und? Er soll nur gut aussehen und nett sein, nicht für die nächsten sechzig Jahre unser gemeinsames Reihenhäuschen finanzieren. Sei nicht so spießig.«

Lena legte ihr eine Hand auf den Arm. »Isa, ich mache mir Sorgen um dich. Du bist ja mittlerweile fast so schlimm wie Alex.«

Wie aufs Stichwort ertönte von der Brücke her ein langgezogenes Tuten, das jeden hochnäsigen Engländer bis in die letzte Ahnenreihe schmerzen musste und über das gesamte Marktgelände schallte. Auf der brusthohen Mauer, die die erhöhte Brücke zwischen den Stadttoren zum Heerlager hin absicherte, stand ein großer, gut gebauter Kerl mit langem Haar und blies kräftig in einen Dudelsack. Alexander Grün alias Alec MacPipe vom Clan der MacPipes, selbsternannter Highlander und Frauenversteher, hatte an diesem heißen Tag ebenfalls auf sein Oberteil verzichtet und trug nichts weiter als einen rot karierten Kilt. Im Gegensatz zu dem axtschwingenden Werwolf stand ihm dieser Look aber, was ihm leider nur zu bewusst war. Breitbeinig wie ein Krieger kurz vor der Schlacht stand er da, wo ihn alle Maiden im Umkreis von einem Kilometer hören und sehen konnten, ließ den Ton langsam ausklingen und gab dann seinen beiden Bandkolleginnen mit einem auffordernden Winken zu verstehen, dass sie sich ein bisschen beeilen sollten. Dann grinste er, hüpfte von der Mauer zurück auf die Brücke und verschwand außer Sicht.

Isa schulterte ihre Tasche und tätschelte Lena beruhigend den Arm. »Wenn ich eines Tages auch oben ohne auf dieser Mauer stehe, um potenzielle Partner anzulocken, dann darfst du dir Sorgen machen. Vorher nicht.«

Die große Wiese, auf der das Siegfriedspektakel jedes Jahr seine Zelte aufschlägt, schmiegt sich an Xantens Nordwall wie ein Kätzchen an einen warmen Ofen. Sie erstreckt sich abseits der beschaulichen Innenstadt vom Klever Tor aus fast bis zu den Ausläufern des Archäologischen Parks.

Als die beiden Gauklerinnen die Mauern der Eulentürme umrundeten, wuselten bereits unzählige Besucher zwischen den verschiedenen Buden hin und her. Bärtige Metalheads schlürften Undefinierbares aus riesigen Trinkhörnern, während weißer Rauch unter der Zeltdecke des...