Leonard Bernstein - Der Charismatiker

von: Sven Oliver Müller

Reclam Verlag, 2018

ISBN: 9783159613154 , 300 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Leonard Bernstein - Der Charismatiker


 

2 Die (Her-)Ausbildung


Zwar scheint es konventionell, doch liegt es auf der Hand, Biographien mit dem Namen und dem Geburtstag der beschriebenen Person zu beginnen. Hier verhält es sich anders. Schon die Wahl seines Vornamens und die damit verbundene Geschichte verweist auf die Vielschichtigkeit von Leonard Bernsteins Leben und dessen ungewöhnlichem Verlauf. Am 25. August 1918 wurde das Kind in Lawrence, Massachusetts, einem kleinen Ort nördlich von Boston geboren. Wie aber sollte der Sohn der Familie heißen? Der Eintrag in das Geburtenregister lautete Louis Eliezer Bernstein. Bereits der früh verstorbene Bruder und der Großvater der Mutter hießen Louis, und seine Eltern wünschten sich diesen Namen. Das Ehepaar Jennie und Samuel (»Sam«) Bernstein nannte seinen Sohn aber in dessen ersten fünf Lebensjahren nicht Louis, sondern Leonard. Und um die Verwirrung noch zu steigern, riefen sie den Kleinen nicht nur Leonard, sondern auch Len oder Lenny.

Leonard spielte schon früh mit dem Gedanken einer Namensänderung. Freunde erinnerten sich, dass er viele Namen durchprobierte, die mit »B« begannen. Als er im Alter von 16 Jahren seinen Führerschein machte, bekam er die Möglichkeit, seinen Namen offiziell in Leonard zu ändern. Sein Vorbild, der Dirigent Serge Koussevitzky, wies ihn später darauf hin, dass »Leonard Bernstein« seiner Karriere schaden könne. Der Name wirke nicht nur jüdisch, sondern sei auch gewöhnlich. Deshalb plädierte er für einen Künstlernamen: Leonard S. Burns. Sein Schüler verbrachte eine schlaflose Nacht, dann ließ er seinen sonst in jeder Hinsicht tonangebenden Lehrer selbstbewusst wissen, dass er nur unter seinem eigenen Namen Erfolg haben könne. Allerdings veröffentlichte der junge Künstler Leonard Bernstein oft eigene Klaviertranskriptionen von Unterhaltungsstücken unter dem Pseudonym »Lenny Amber«. Später nutzte er seinen Nachnamen ausdrücklich und nannte seine eigene Firma »Amberson Enterprises«.

Aufschlussreich ist auch der Blick auf die Aussprache seines Nachnamens in den USA. Zu Beginn seiner Karriere wandten beispielsweise Journalisten die geltenden Regeln der US-amerikanischen Aussprache an und nannten ihn »Mr. Bernstien«. An dieser Stelle unterbrach er sofort und bat darum, seinen Namen deutsch zu betonen: »Mr. Bernstein«. Der heranwachsende Dirigent achtete wohl auch in dieser Hinsicht auf seine europäische Herkunft. Im Namen des Schmucksteins Bernstein liegt ein deutscher Ursprung. Zudem gilt dieses gelbliche Harzfossil als Symbol für Schönheit und Natürlichkeit. Der berühmte Stardirigent wurde später in Österreich Ehrenbürger des kleinen, südlich von Wien gelegenen Ortes Bernstein.

Bereits die Namensfindung zeigt daher, dass große Talente nicht geboren werden, sondern sich entwickeln. Davon handelt dieses Kapitel, es umreißt sozusagen den Bauplan von Bernsteins Biographie. Beleuchtet werden sein Heranwachsen, seine Ausbildung bis in die frühen 1950er Jahre. Wichtig sind die Rolle seiner Eltern und Freunde, die schulische Ausbildung und seine Zeit in Harvard; ebenso der Einfluss von Dirigenten und seine Vernetzung auf dem musikalischen Markt. Skizziert werden auch seine ersten Kompositionen sowie die Suche nach einer festen Anstellung. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Liebe zu seiner Ehefrau Felicia.

Blicken wir zunächst auf Leonard Bernsteins Eltern Samuel und Jennie. Beide stammten aus der Ukraine, die zum russichen Zarenreich gehörte. Zwischen 1881 (der Ermordung des Zaren Alexander II.) und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 wanderte ein Drittel der osteuropäischen Juden aus. Juden wurden oft in den Militärdienst gezwungen, und mit dem Ausbruch des Russisch-Japanischen Kriegs 1904 stand dieses Schicksal vielen jüdischen Familien lebhaft vor Augen. Sam Bernsteins Vater wollte, dass sein Sohn in der Ukraine blieb, um chassidischer Rabbiner zu werden. Ohne sich von seinem Vater auch nur zu verabschieden, wanderte der Sechzehnjährige 1908 in die USA aus und hoffte auf eine erste finanzielle Unterstützung durch seinen Onkel, dem der Sprung dorthin bereits gelungen war.

Sam entschied sich für einen steinigen Weg, hatte aber Erfolg. Zunächst verdingte er sich als Hilfsarbeiter im New Yorker Hafen. Schon kurz darauf gelang ihm jedoch der Eintritt in die Firma Frankel & Smith und dort ein schneller Aufstieg. Bald gründete er eine eigene Firma für Schönheitsprodukte. Das Risiko zahlte sich aus. 1927 erwarb er Lizenzen für einen Dauerwellenapparat und wurde schließlich zum größten Zulieferer für Schönheitssalons in Neuengland. Für Sam Bernstein erfüllte sich der amerikanische Traum. Gleichsam über Nacht wurde der jüdische Immigrant zum Firmenchef mit 50 Angestellten, dessen Geschäft selbst während der Depressionsjahre expandierte.

Auch Jennie Resnick stammte aus einer Familie ukrainischer Auswanderer. 1917 gab sie im Alter von 19 Jahren den Avancen des 25-jährigen Sam nach und heiratete ihn. Sam gewann in ihr eine Frau, die ihn auch deshalb geheiratet hatte, um ihrer ungeliebten Arbeit zu entkommen. Die Ehe der beiden jungen jüdischen Einwanderer war selten glücklich. Oft stritten sie sich, trennten sich für eine gewisse Zeit und kamen dann wieder zusammen. Dass Sam der Sohn eines Rabbiners war, belastete die Ehe mit Jennie zusätzlich. Denn er befolgte streng die Regeln und Rituale der jüdischen Religion. Jennie war die Lebenslustige in der Beziehung. Sie legte Wert auf Kleidung und Aussehen, war charmant, ging gerne aus und las Liebesromane. Auch Sams beruflicher Erfolg brachte keine Ruhe in das Leben der jungen Familie. In den zwanziger und frühen dreißiger Jahren zog man immer wieder um, allein in der Stadt Roxbury fünfmal, um durch neue Wohnungen und Häuser den sozialen Aufstieg zu demonstrieren.

Nach Lawrence in Massachusetts zog Jennie im Streit, kurz vor der Geburt ihres Sohnes Leonard Bernstein am 25. August 1918. Er wurde von seiner Mutter vergöttert, blieb als Kind wie als Erwachsener der Mittelpunkt ihres Lebens. Die Ehe mit Sam indessen verlief so unglücklich, dass Jennie von ihrem Ersparten eine heimliche Abtreibung vornahm, um nicht erneut ein Kind von diesem Mann auf die Welt zu bringen. Gleichwohl entwickelte sich in den folgenden Jahren ein etwas harmonischeres Verhältnis. Jennie entschied sich letztlich dazu, Sam nicht zu verlassen, seine Stärken und Schwächen zu akzeptieren. Das Paar bekam später noch zwei weitere Kinder, Shirley (1923) und Burton (1932). Leonard Bernstein litt als Kind nicht nur an Asthma, sondern auch an Allergien wie Heuschnupfen. Er blieb meist zu Hause, scheute Kontakt und wirkte auf seine Eltern introvertiert und melancholisch.

Von klein auf prägten die jüdische Kultur und Religion Leonards Leben. Mit acht Jahren kam er auf die Hebrew School, studierte unter anderem die Tora und lernte täglich zwei Stunden Hebräisch. Beim Besuch der Synagoge hörte Bernstein chassidische Melodien, beobachtete den Gesang und die Bewegungen der Gläubigen. Später begleitete er seinen Vater am Klavier, während dieser sang und die Geschichte gläubiger jüdischer Pilger vorspielte. In der Synagoge kam Leonard auch mit klassischer Musik in Berührung, da der Organist und Chorleiter hebräische Texte mit der Musik von Schubert, Mendelssohn Bartholdy und Verdi unterlegte. Als junger Komponist schrieb Bernstein 1945 ein Stück namens Hashkiveinu, in dem Tenor und Chor, begleitet von der Orgel, den hebräischen Gebetstext des Sabbat-Gottesdienstes wiedergeben. Bald darauf komponierte er auch eine Reihe jüdischer Tänze für Klavier und mehrere Lieder mit jiddischen Texten (vier Sabras, Yigdal).

Leonard Bernstein reizte die musikalische Ausformung jüdischer Kultur. Was sich eben nicht nur in seiner späteren 1. Sinfonie, »Jeremiah« oder der 3. Sinfonie, »Kaddish«, dem Ballett Dybbuk und manchen Chorwerken ausdrückte, sondern...