Alles was glänzt - Roman

von: Marie Gamillscheg

Luchterhand Literaturverlag, 2018

ISBN: 9783641215590 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Alles was glänzt - Roman


 

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Alles schläft. Nicht die Nacht, der Tag höhlt die Häuser aus. Tagsüber schwarze, leere Löcher. Manche sind ausgebrannt. Da hat wer randaliert. Da hat wer die alten Matratzen verbrannt, und jetzt liegen nur mehr Drahtgestelle herum. Nachts kann man glauben, dass hier Menschen schlafen, dass hier am nächsten Morgen Menschen aufstehen, in Autos steigen und zur Arbeit fahren. Aber seit der Journalist hier war, sind viele in die Stadt gezogen, und Susa vermietet ihre Zimmer dauerhaft zum Nebensaisonpreis. Man klopft noch immer auf die Plakette am Boden vor der Kirche: ZUR STADT ERHOBEN 1857, wie um zu überprüfen, ob sie noch immer da ist, eingelassen in den Boden. Die Plakette bleibt. Man darf sich offiziell Stadt nennen. Nur die Katzen bleiben über, wenn es Abend wird. Sie haben sich das alte Tourismusbüro ausgesucht; das ist ihr Revier. Sie legen sich in die Regale, rollen sich eng ein, erbrechen Gras zwischen den Altpapierstapeln. Sie zerren tote Maulwürfe durch den offenen Türspalt.

Der rote Knopf im Schaubergwerk funktioniert nicht mehr, und niemand repariert ihn. Wenn man ihn jetzt drückt, gehen die blauen und violetten und weißen Lichter nicht an, die den Fels bestrahlen, geht die Stimme nicht an, die die Sage vom Blintelmann erzählt, und in der Höhle ist es immer nur dunkel. Der Bürgermeister sagt: Wer weiß, ob sich das lohnt. Damit der rote Knopf wieder funktioniert, damit der Blintelmann wieder spricht und die Lichter leuchten, müssen alle elektrischen Leitungen getauscht werden und wer weiß, ob sich das lohnt. Man muss sich vorstellen, sagt der Bürgermeister: Man tauscht die Leitungen und dann auf einmal, genau dann, natürlich genau dann, wird eine tragende Stollenwand gesprengt, oder sie löst sich durch die Erschütterung und ein Stollen klappt in sich zusammen, in einen anderen Stollen, und der in einen weiteren Stollen, und das Geröll aller Stollenwände bricht auf den Ort, die Häuser brechen ineinander, Staub in Staub, wie der Journalist geschrieben hat, dass es passieren wird.

Man denkt an die Zeitung damals. Auf dem Titelblatt war der Umriss des Berges abgebildet, in eine Holzscheibe geritzt, zersetzt von Nagekäfern. Wie ihn die Kinder in der Schule früher in die Kartoffeln geschnitzt und auf Tischdecken gedruckt haben: Auf der einen Seite ein steiler glatter Hang, auf der anderen führt die Flanke etwas länger ins Tal, am Fuße des Berges drängen sich Bäume und Häuser.

Überall Gänge, Löcher. Höhlen.

Stollen und Schächte.

Schon jetzt brechen bei den Sprengungen kleinere Schächte zusammen, stand in der Zeitung. Schon jetzt brechen die Böden ein, die Steine rieseln die Etagen hinunter, und wenn es so weitergeht, ist der Berg irgendwann einfach hohl. Jahrhundertelang grub man von unterschiedlichen Etagen und Seiten Stollen in den Berg, man grub einfach drauflos, den Erzspuren hinterher. Erst im Nachhinein hat man versucht Pläne anzufertigen, aber zu groß, zu verworren das Netz an Stollen. Immer wieder neue Abzweigungen, neue Höhlen und Luftlöcher in der Erde, von denen niemand weiß, zu welchem Schacht sie gehören.

Ob man von dem Grubenunglück in Lengede gehört hat?

Von der Gasexplosion in dem Bergwerk in Donezk?

Warum sind Chinas Kohlegruben so gefährlich?

Manchmal läuft was im Fernsehen.

Man stellt sich einen großen Knall vor. Oder es passiert ganz leise. Ein Rauschen, wie eine Welle, die ins Tal schlägt. Das man zuerst hört, dann sieht.

Ein Rauschen, das man sehen kann!

So denkt man es sich zurecht. Wenn man in der Kirche am Weihwasserbecken steht. Wenn man im ESPRESSO an der Bar sitzt und Susa beim Gläserputzen zusieht, oder wenn man die Hand ins Brunnenwasser streckt, wenn man sich eigentlich gerade die Zierleiste der Häuser auf dem Hauptplatz näher anschauen will.

Der Journalist hat unrecht, da sind sich alle im Ort einig. Der Bürgermeister weiß das auch. Aber trotzdem, sagt er. Man denkt natürlich daran. Susas Katze hat einmal ein neues Hüftgelenk bekommen, und in der Woche darauf fand Susa die Katze mit dem steifen Bein angelehnt an der Hauswand. Jemand hat sie überfahren, und der Tierarzt hat das Hüftgelenk noch bei einer anderen Katze einbauen können, Susa hat ein bisschen Geld zurückbekommen, aber nicht viel. Susa denkt daran.

Früher ist man abends oft bei Susa im ESPRESSO zusammengesessen, die Alten und manchmal auch die Jungen. Damals ist man um die kleinen Tische gesessen und nicht alle an der Bar. Auch der Journalist hat sich dazugesetzt, als er im Ort war, damals, vor zehn, fünfzehn Jahren. In Pantoffeln ist er hinunter in den Gastraum. Die Alten haben sich nichts dabei gedacht. Er hat nach dem Leben im Ort gefragt, nach Plänen von den Schächten, nach den Archiven, er hat Schnaps getrunken und Bier und wieder Schnaps, er hat immer mitgetrunken und verstanden, wie das funktioniert: wann der Zeitpunkt ist, aufzustehen und an der Bar noch eine Runde für alle zu holen. Er hat auch erzählt, von sich, dass er eine Tochter hat und dass er gern wandern geht, aber die Tochter nicht und deshalb sei alles schwierig, mit dem Sommerurlaub, weil die Mutter wolle auch lieber in den Süden oder nach New York, das sei schwierig.

Ihr wäre er immer unsympathisch gewesen, sagt Susa. Er habe jeden Tag die Handtücher im Zimmer auf dem Boden liegen lassen, und er wäre nie wirklich betrunken gewesen, immer noch kontrolliert, und immer hätte er nach dem Essen den Teller von sich geschoben, als würde er sich davor ekeln. Sie hätte es gleich gewusst, sagt Susa. Das sagt Susa erst später.

Wer durch den Ort geht, der weiß: Hier passiert etwas. Oder eher: Hier ist etwas passiert. Man grüßt sich nicht auf der Straße. Der rote Knopf ist kaputt. Seit der Journalist hier war, kommen keine Touristen mehr, und der rote Knopf im Schaubergwerk wird nicht repariert. Man weiß nicht mehr, wie das war: ob der rote Knopf kaputtging, als der Journalist hier war, oder ob der rote Knopf schon vorher nicht mehr funktionierte und nicht mehr repariert wurde, weil der Journalist hier war. Auf jeden Fall hat der was damit zu tun. Jetzt ist es immer dunkel in der Höhle, und man sieht nicht, wie die Wände glänzen, wie alles, was glänzt, so viele Farben hat, und man kann sich nicht mehr fragen, ob zuerst das Glänzen oder die Farben waren.

***

Das Glänzen! Teresa sitzt vor der Zimmertür und hält ihre Hände ganz nah an die Augen. Beim Zeigefinger hat sie nicht ruhig gehalten und den silbernen Lack über den Nagel hinaus aufgetragen. Sie muss wieder an die eineiigen Zwillinge aus der Doku denken, die gleichzeitig sterben. Die auch zur gleichen Zeit Kinder bekommen oder große Entscheidungen treffen, obwohl sie auf unterschiedlichen Kontinenten leben. Teresa sagt: Es soll eineiige Zwillinge geben, denen es gleichzeitig gut oder schlecht geht, obwohl sie nicht wissen, was der andere macht oder wo er wohnt, das sagt sie zu ihrer Schwester Esther, das sagt sie zur Tür, sagt es in die Tür, hinter der Esther noch immer die weiße Decke anstarrt. Sie liegt rücklings auf dem Bett, noch immer die Hände zu Fäusten verkrampft.

Später wird sich kaum jemand dafür interessieren, wie es genau passiert ist. Ob Martin in der zweiten oder dritten Serpentine aus der Kurve geflogen ist. Ob es sich einen Moment für ihn so angefühlt hat, als ob er abhebt, ob es diesen Moment vor dem Aufprall überhaupt gibt. Ob sich das Auto mehrfach überschlagen hat, oder ob es nur einmal aufgeschlagen ist. Ob er sofort tot oder noch kurz bei Bewusstsein war. Ob er noch einmal gesehen hat, wie der Ort vor ihm auf dem Kopf steht. Ist hinter den Bergen schon die Sonne aufgegangen?

***

Der Lastwagenfahrer, der Martins Auto findet, hört vor allem: den Motor des Lastwagens, den er lenkt, wie er lauter wird, als er Gas gibt, dann leiser, als er schaltet. Das Gebläse der Lüftung, nachdem er den Motor ausgemacht hat, das Geräusch, als er die Handbremse zieht, wie dann etwas knackt im Auto; das warm gewordene Plastik der Armatur vielleicht. Er erkennt überhaupt erst spät, dass es ein Auto ist, das da vor ihm auf der Straße liegt.

Das Öffnen der Tür, wie der Innentürgriff wieder zurückschnappt, das Zuschlagen der Tür, dann nur die Vögel, der Wind, die Schritte am Schotter. Es ist noch früh am Morgen, so früh, dass alles noch in ein grelles graublaues Licht getaucht ist, die Konturen zu scharf, weil es so früh am Morgen noch keine Farben gibt, die sie weicher zeichnen. Es ist so früh, dass er einen Moment braucht, um zu verstehen, dass noch jemand im Auto sein könnte. Er probiert das Auto selbst umzudrehen, schafft es aber nur zu schaukeln. Dann ruft er die Polizei an.

Er stellt sich an den Straßenrand, wo es bis zur nächsten Serpentine, zur nächsten Etage des Berges, beinahe senkrecht hinuntergeht, schaut ins Tal und dreht sich nicht um, bis er die Polizei kommen hört.

Dem Polizisten erzählt er zuerst vom Hören: der Motor, das Knacksen, die Tür, das Schaukeln des Autos, die Stille danach. Die Feuerwehrmänner heben das Auto mithilfe eines ausfahrbaren Krans an und drehen es um. Die Windschutzscheibe ist zerborsten, und ein Feuerwehrmann schneidet die Fahrertür mit einer Bergeschere auf. Den Lastwagenfahrer überkommt eine Gänsehaut, das Metall, der Lack, das Plastik der Innenausstattung, alles nur ein Knacksen. Das Dach ist eingedellt, die Seite aufgeschnitten und der Lack zerkratzt, trotzdem sieht man, dass jemand gut auf das Auto aufgepasst haben muss.

Jemand hat das Nummernschild und die Felgen geputzt.

Jemand hat nichts auf der...