Das Echo der Bäume - Roman

von: Sara Novi?

btb, 2018

ISBN: 9783641157258 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 17,99 EUR

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Das Echo der Bäume - Roman


 

1

In Zagreb begann der Krieg wegen einer Schachtel Zigaretten. Es hatte schon vorher Spannungen gegeben, Gerüchte über Unruhen in anderen Städten, von denen sie im Flüsterton über meinen Kopf hinweg redeten, doch keine Explosionen, keine Kampfhandlungen. Eingekesselt zwischen den Bergen, war Zagreb im Sommer ein Glutofen, und die meisten Leute verließen während der heißen Monate die Stadt und flohen an die Küste. Solange ich mich erinnern konnte, hatte meine Familie Urlaub bei meinen Pateneltern in einem Fischerdorf im Süden gemacht. Doch die Serben hatten die Straßen zum Meer blockiert, zumindest sagten das alle, und so verbrachten wir zum ersten Mal in meinem Leben den Sommer im Inneren des Landes.

In der Stadt war alles klebrig, die Türklinken und Griffe in der Straßenbahn waren glitschig vom Schweiß anderer Leute, und in der Luft hing der Geruch des letzten Mittagessens. Wir nahmen kalte Duschen und spazierten in Unterwäsche in der Wohnung umher. Wenn ich unter dem kalten Wasserstrahl stand, stellte ich mir vor, wie meine Haut zischte und Dampf aufstieg. Bei Nacht lagen wir auf unseren Laken und warteten auf unruhigen Schlaf und fiebrige Träume.

In der letzten Augustwoche wurde ich zehn, ein Ereignis, das mit einem durchweichten Kuchen gefeiert wurde und von Hitze und Unruhen überschattet war. An jenem Wochenende hatten meine Eltern ihre besten Freunde – meine Pateneltern Petar und Marina – zum Essen eingeladen. Das Haus, wo wir sonst den Sommer verbrachten, gehörte Petars Großvater. Meine Mutter hatte an ihrer Schule drei Monate frei, die wir sonst zu fünft an der Felsenküste der Adria verbracht hatten; mein Vater kam später mit dem Zug nach. Dieses Jahr jedoch saßen wir in der Stadt fest, und das Essen am Wochenende wurde zur Farce, weil wir uns vorgaukelten, alles sei normal.

Bevor Petar und Marina kamen, stritt ich mit meiner Mutter darüber, was ich anziehen sollte.

»Du bist kein Tier, Ana. Entweder du trägst Shorts beim Abendessen, oder dein Teller bleibt leer.«

»Aber in Tiska reicht mein Bikinihöschen«, sagte ich, doch ein Blick meiner Mutter genügte, und ich zog mich an.

An diesem Abend führten die Erwachsenen ihre übliche Diskussion darüber, wie lange genau sie sich schon kannten. Sie seien Freunde, seit sie so alt gewesen waren wie ich, sagten sie dann gern, ganz gleich, wie alt ich zu diesem Zeitpunkt auch sein mochte, und war erst eine Stunde vergangen und eine Flasche Feravino geköpft, beließen sie es meistens auch dabei. Petar und Marina hatten keine Kinder, mit denen ich hätte spielen können, und so saß ich am Tisch, hatte meine kleine Schwester auf dem Schoß und lauschte ihren Versuchen, auch noch die ältesten Erinnerungen auszugraben. Rahela war damals erst acht Monate alt und nie an der Küste gewesen, und so erzählte ich ihr vom Meer und von unserem kleinen Boot, und sie grinste, wenn ich Fischgesichter für sie zog.

Nach dem Essen rief mich Petar zu sich und drückte mir ein paar Dinar in die Hand. »Schauen wir mal, ob du deinen Rekord brechen kannst«, sagte er. Das war ein Spiel zwischen uns – ich lief zum Laden, um ihm Zigaretten zu holen, und er stoppte die Zeit. Wenn ich meinen Rekord brach, durfte ich das Wechselgeld behalten. Ich stopfte das Geld in die Tasche meiner abgeschnittenen Jeans und rannte die neun Stockwerke hinunter.

Ich war mir sicher, dass ich einen neuen Rekord aufstellen würde. Ich hatte meine Route perfektioniert, wusste genau, wo ich bei den Gebäuden die Kurve schneiden konnte und in den Seitenstraßen Stolperstellen vermeiden musste. Ich flitzte an dem Haus mit dem orangeroten WARNUNG VOR DEM HUNDE-Schild vorbei (in dem meines Wissens nie ein Hund gelebt hatte), sprang über ein paar Zementstufen und hielt Abstand vom Müllcontainer. Unter einem Betonbogen, in dem es immer nach Pisse roch, hielt ich die Luft an, dahinter kam die Stadt. Ich wich dem größten Schlagloch vor der Bar mit den Männern aus, die schon tagsüber tranken, und wurde nur ein bisschen langsamer bei dem alten Mann, der auf einem Klapptisch geklaute Schokolade verkaufte. Die rote Markise des Zeitungskiosks, mein Fähnchen auf der Ziellinie, flatterte in einer seltenen Brise.

Ich legte die Ellbogen auf den Tresen, um den Zeitungsmann auf mich aufmerksam zu machen. Herr Petrović kannte mich und wusste, was ich wollte, doch an diesem Tag sah sein Lächeln eher aus wie ein Grinsen.

»Möchtest du serbische Zigaretten oder kroatische?« Es klang irgendwie komisch, wie er die beiden Herkunftsländer aussprach. Ich hatte in den Nachrichten Leute über Serben und Kroaten reden hören, weil in den Dörfern gekämpft wurde, doch nie hatte jemand etwas direkt über den Krieg zu mir gesagt. Und ich wollte nicht die falschen Zigaretten kaufen.

»Kann ich bitte die haben, die ich immer kaufe?«

»Serbische oder kroatische?«

»Sie wissen schon, die in der goldenen Hülle.« Ich versuchte, um ihn herumzusehen, und zeigte auf das Regal hinter ihm. Doch er lachte nur und winkte einem anderen Kunden zu, der mich höhnisch angrinste.

»He!«, versuchte ich, die Aufmerksamkeit des Kioskmanns wieder auf mich zu lenken, doch er beachtete mich nicht und nahm den nächsten Mann in der Schlange dran. Die Wette hatte ich bereits verloren, doch ich rannte trotzdem so schnell heim, wie ich konnte.

»Herr Petrović wollte, dass ich mich zwischen serbischen und kroatischen Zigaretten entscheide«, sagte ich zu Petar. »Ich wusste keine Antwort, und da hat er mir gar keine gegeben. Tut mir leid.«

Meine Eltern tauschten Blicke, und Petar bedeutete mir, ich solle mich auf seinen Schoß setzen. Er war groß – größer als mein Vater – und erhitzt von der Wärme und vom Wein. Ich kletterte auf seinen breiten Oberschenkel.

»Ist schon okay«, sagte er und tätschelte seinen Bauch. »Ich bin sowieso zu voll für Zigaretten.« Ich zog das Geld aus meinen Shorts und gab es ihm zurück. Er drückte mir ein paar Dinar in die Hand.

»Aber ich hab doch nicht gewonnen.«

»Stimmt«, sagte er. »Aber heute ist das nicht deine Schuld.«

In jener Nacht kam mein Vater ins Wohnzimmer, wo ich schlief, und setzte sich auf die Bank vor unserem alten Klavier. Das Klavier hatten wir von einer Tante von Petar geerbt – er und Marina hatten keinen Platz dafür –, doch wir konnten uns nicht leisten, es stimmen zu lassen, und die unterste Oktave klang so dumpf, dass alle Tasten den gleichen, müden Ton erzeugten. Ich hörte, wie mein Vater rhythmisch auf die Pedale trat und dabei – wie immer, wenn er nervös war – mit dem Bein zappelte, doch die Tasten berührte er nicht. Nach einer Weile stand er auf und hockte sich auf die Armlehne der Couch, wo ich lag. Bald würden wir eine Matratze kaufen.

»Ana? Bist du wach?«

Ich versuchte, die Augen zu öffnen, spürte, wie sie hinter den Lidern zuckten.

»Hm«, stieß ich hervor.

»Filter 160. Die sind kroatisch. Damit du das nächste Mal Bescheid weißt.«

»Filter 160«, murmelte ich, um es mir einzuprägen.

Mein Vater gab mir einen Kuss auf die Stirn und sagte gute Nacht, doch einen Augenblick später spürte ich, dass er immer noch in der Tür stand und mit seinem Körper das Licht aus der Küche abschirmte.

»Wäre ich bloß dagewesen«, flüsterte er, doch ich war mir nicht sicher, ob er mit mir redete, und so war ich still, und er sagte nichts mehr.

Am Morgen hielt Milošević eine Fernsehansprache, und als ich ihn sah, musste ich lachen. Er hatte große Ohren und sah mit seinem fetten roten Gesicht und den Hängebäckchen aus wie eine schwermütige Bulldogge. Er näselte, ganz anders als die sanfte, kehlige Stimme meines Vaters, sah wütend aus und schlug bei seiner Rede immer wieder mit der Faust auf den Tisch. Er sagte etwas von einer Säuberung im Land, das wiederholte er immer wieder. Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete, doch während er sprach und hämmerte, wurde sein Gesicht röter und röter. Deshalb lachte ich, und meine Mutter streckte den Kopf um die Ecke, um zu schauen, was so lustig war.

»Schalt das aus.« Ich spürte, wie meine Wangen ganz heiß wurden, denn ich dachte, sie sei böse auf mich, weil ich bei einer offenbar wichtigen Ansprache gelacht hatte. Doch ihre Züge wurden schnell wieder milde. »Geh spielen«, sagte sie. »Bestimmt wartet Luka schon auf dem Trg auf dich.«

Mein bester Freund Luka und ich radelten den ganzen Sommer lang rund um den großen Stadtplatz oder trafen uns mit Klassenkameraden irgendwo zum Fußballspielen. Wir waren sommersprossig und braungebrannt und unsere Kleidung ständig voller Grasflecken, und jetzt, wo nur noch ein paar Wochen Freiheit vor uns lagen, bis die Schule wieder anfing, trafen wir uns sogar noch früher und blieben länger draußen, entschlossen, keine Ferienminute zu verpassen. Gewöhnlich fand ich ihn irgendwo auf unserer Radroute. Wir radelten Seite an Seite, ab und zu lenkte Luka seinen Vorderreifen direkt gegen meinen, sodass wir fast zusammenstießen. Das war sein liebster Spaß, und er lachte den ganzen Weg, doch ich dachte immer noch an Herrn Petrović. In der Schule hatte man uns beigebracht, auf ethnische Unterschiede nicht zu achten, obwohl es ganz leicht war, die Herkunft von jemandem am Nachnamen zu erkennen. Stattdessen drillte man uns darauf, bis zum Erbrechen die panslawischen Slogans aufzusagen: »Brastvo i Jedinstvo!«, Brüderlichkeit und Einheit. Doch auf einmal sah es so aus, als könnten die Unterschiede zwischen uns doch wichtig sein. Lukas Familie stammte aus Bosnien, einem Vielvölkerstaat und damit einer verwirrenden dritten...