Die Stürme der Zeit - Roman

von: Penny Vincenzi

Goldmann, 2018

ISBN: 9783641217075 , 816 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Die Stürme der Zeit - Roman


 

KAPITEL 1

Venetia Lytton erzählte allen mit Begeisterung, am Tag ihrer Geburt sei das ganze Land in Trauer gestürzt.

Das war zwar historisch korrekt und verschaffte ihr garantiert Aufmerksamkeit, vermittelte aber einen falschen Eindruck; ihre Zwillingsschwester Adele, die das Leben etwas nüchterner betrachtete, erklärte daraufhin üblicherweise, ihre Geburt sei fast auf die Stunde genau mit dem Tod von Edward VII. zusammengefallen.

»Ja, das stimmt«, räumte Venetia dann widerstrebend ein. »Aber es war auf jeden Fall ein furchtbar trauriger Tag. Mummy sagte, dass die Schwestern bei jedem Blumenstrauß, den sie hereinbrachten, immer heftiger schluchzten, und als Daddy kam, trug der Arzt tatsächlich eine schwarze Krawatte. Also ist er natürlich davon ausgegangen, dass etwas Schreckliches passiert war.«

Woraufhin fast immer jemand, meist einer der zwei Brüder der Zwillinge, falls sie dabei waren, anmerkte, dass das tatsächlich der Fall gewesen sei; schließlich seien sie und Adele an diesem Tag auf die arglose Menschheit losgelassen worden. Venetia gab dann vor zu schmollen, Adele lächelte gelassen und irgendjemand (für gewöhnlich eine andere junge Frau, die versuchte, ein wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen) bemühte sich, das Thema zu wechseln.

Es war nicht leicht, von den Lytton-Zwillingen abzulenken, weil sie nicht nur außerordentlich hübsch und unterhaltsam waren, sondern sich auch verblüffend ähnlich sahen. Es hieß, dass man die berühmten Morgan-Zwillinge Thelma und Gloria (besser bekannt als Lady Furness und Mrs Reginald Vanderbilt) nur voneinander unterscheiden konnte, wenn man nah genug vor ihnen stand, um die kleine Narbe unter Thelmas Kinn zu sehen, die Folge eines Rollschuh-Unfalls während ihrer Kindheit. Bei den Lytton-Zwillingen gab es jedoch keinen solchen hilfreichen Hinweis. Venetia hatte zwar ein kleines Muttermal auf ihrer rechten Pobacke, aber da diese in gesellschaftlichen Situationen üblicherweise bedeckt blieb, hatten die meisten Leute keine Ahnung, mit welchem der Zwillinge sie gerade sprachen, neben wem sie saßen oder mit wem sie tanzten.

Und die Zwillinge liebten es, diese Verwirrung noch weiter zu fördern. In der Schule hatten sie es genossen, sich ständig für die andere auszugeben, und ihre Lehrer damit zur Verzweiflung getrieben, bis ihre Mutter dahinterkam und ihnen aus großer Sorge um ihre Bildung – was für ihre Klasse und ihr Alter sehr ungewöhnlich war – androhte, sie in verschiedene Internate zu stecken. Die Angst vor einer Trennung war so groß, dass die beiden schließlich gehorsam folgten.

Bei ihrem Debütantinnenball trugen sie identische weiße Satinkleider und große weiße Rosen im schimmernden, kurz geschnittenen Haar und sorgten für so große Konfusion, dass einige Anwesende der älteren Generation das Gefühl hatten, betrunkener zu sein, als sie es tatsächlich waren.

Sie genossen ihre Einführung in die Gesellschaft sehr; ihre Mutter hatte ganz bewusst einen der Bälle in der frühen Osterzeit ausgesucht, da sie diese für bedeutender und einprägsamer hielt: »Im Juni ist so viel los – da besteht die Gefahr, dass man diesen Ball nur noch als einen von vielen im Gedächtnis behält.«

Nicht dass die Sorge bei diesem Ball, der in Celias Elternhaus in der Londoner Curzon Street abgehalten wurde, begründet gewesen wäre. Selbst wenn das Haus nicht ganz so prächtig, der Champagner nicht ganz so edel und die Musik nicht ganz so modern gewesen wäre, hätte allein die Tatsache, dass es sich um einen Ball für die Zwillinge handelte, das Fest beachtenswert gemacht. Sie gehörten unbestritten zu den beliebtesten und brillantesten Debütantinnen des Jahres, gefangen in einem Rausch von Bällen, Partys und Wochenenden auf dem Land, und all die aufregenden Ereignisse der Saison – das Derby, Ascot, Henley und noch einiges mehr – lagen noch vor ihnen. In der Regenbogenpresse erschienen regelmäßig Fotos von ihnen, und die Vogue hatte ihnen sogar ehrenvollerweise eine ganze Seite gewidmet, auf der sie ihre Ballkleider von Vionnet trugen. Ihre Mutter war über ihren Erfolg sehr erfreut. Es wäre schon eine Freude gewesen, auch nur eine hübsche und beliebte Tochter in die Gesellschaft einzuführen, aber gleich zwei solche Töchter vorzustellen kam einem Triumphzug gleich.

Heute, an ihrem achtzehnten Geburtstag, war noch öfter als sonst über die Trauer im Land bei ihrer Geburt gesprochen worden, sodass Giles, ihr um fünf Jahre älterer Bruder, beim Frühstück damit gedroht hatte, abends nicht zu der Party zu erscheinen, wenn er noch ein weiteres Wort darüber hören würde.

»Und dann wird es dir leidtun, Venetia. Denn ich werde Boy Warwick sagen, dass er ebenfalls nicht kommen soll.«

»Das ist mir völlig gleichgültig«, erwiderte Venetia unbekümmert, zog eine Puderdose aus ihrer Tasche und tupfte ein wenig Puder auf ihre perfekt gerade Nase. »Schließlich hast du ihn eingeladen, nicht ich. Er ist dein Freund.«

»Venetia, bitte nicht bei Tisch, das ist so schrecklich gewöhnlich«, wies ihre Mutter sie scharf zurecht. »Und natürlich wird Boy kommen – ich kann jetzt unmöglich die Tischordnung noch einmal ändern. Ich werde mich gleich bei der Köchin vergewissern, dass alles für das Dinner vorbereitet ist. Da Barty nicht kommen kann, sind wir nur neunzehn.«

»Wie schade«, flüsterte Venetia Adele zu. Als sie sah, dass ihre Mutter den Blick auf sie richtete, lächelte sie fröhlich. »Ich habe nur gesagt, wie schade ich das finde. Aber es ist ja auch ein weiter Weg von Oxford. Nur für ein Dinner.«

»Nun, sie wäre einige Tage geblieben«, sagte Celia. »Aber die Abschlussprüfungen stehen bevor, und sie sind ihr sehr wichtig. Das sollten wir respektieren, findet ihr nicht?«

»Natürlich«, erwiderte Adele.

»Absolut«, stimmte Venetia ihr zu.

Sie tauschten einen Blick und sahen dann ihre Mutter unschuldig an.

»Wir werden sie vermissen.« Adele seufzte. »Sie ist so klug. Ich bin sicher, sie wird mit Auszeichnung abschließen.«

»Mit Sicherheit«, warf Venetia ein.

»Sicher ist nichts«, widersprach Celia. »Kein Erfolg stellt sich automatisch ein, vor allem nicht im akademischen Bereich. Euer Vater hat sein Studium mit Bestnote abgeschlossen, aber dafür hat er auch unglaublich hart gearbeitet. Stimmt doch, Oliver?«

»Was meinst du, meine Liebe?« Oliver Lytton schaute von der Times auf, die Stirn leicht gerunzelt.

»Du hast für deinen Abschluss mit Auszeichnung offensichtlich sehr hart gearbeitet, Daddy«, erklärte Venetia.

»Das nehme ich an. So genau kann ich mich daran nicht mehr erinnern.«

»Mummy ist davon überzeugt.«

»Da ich eure Mutter damals noch nicht kannte, ist es schwer für sie, das zu beurteilen.«

»Für Mummy ist nichts schwer zu beurteilen.« Adele kicherte.

Celia warf ihr einen strafenden Blick zu. »Ich habe wichtigere Dinge zu tun, als dermaßen dumme Gespräche zu führen. Und wenn ich rechtzeitig zu eurer Geburtsparty wieder zu Hause sein will, muss ich in einer halben Stunde ins Büro fahren. Giles, möchtest du mich begleiten?«

»Ich … ich werde jetzt schon fahren«, erwiderte Giles rasch. »Wenn es dir recht ist.«

»Natürlich, Giles, warum sollte mir das nicht recht sein? Ich bin froh, dass du deine Arbeit so ernst nimmst. Was genau hast du heute Morgen vor? Es muss etwas sehr Dringendes sein, wenn es nicht noch dreißig Minuten warten kann. Ich hoffe, es liegt nichts im Argen?«

Gott, sie ist so unfair, dachte Giles. Selbst beim Familienfrühstück wies sie ihn in seine Schranken und betonte seine niedrige Position bei Lyttons.

»Alles in Ordnung, Mutter, aber ich muss einige Seiten des neuen Buchanan-Buchs Korrektur lesen und Änderungen vornehmen, und …«

»Ich hoffe, wir sind damit nicht zu spät dran«, unterbrach Celia ihn. »Es muss unbedingt im Juli in den Verkauf gehen. Es würde mir große Sorgen bereiten, wenn …«

»Mutter, wir liegen damit genau im Zeitplan.«

»Warum dann die Eile?«

»Celia, lass den Jungen in Ruhe«, mischte sich Oliver sanft ein. »Er möchte einfach nur seinen Job machen, bevor die Telefone zu klingeln beginnen. Korrekturlesen erfordert viel Sorgfalt; ich habe es auch immer am liebsten früh am Morgen erledigt.«

»Ich weiß darüber bestens Bescheid – schließlich habe ich selbst einige Erfahrung damit«, entgegnete Celia. »Ich wollte einfach nur …«

»Celia«, mahnte Oliver leise. Sie starrte ihn einen Moment lang an, stand dann auf, rückte geräuschvoll ihren Stuhl zurück und warf ihre Serviette auf den Tisch.

»Nun, da Giles ein so gutes Beispiel gibt, sollte ich selbst so rasch wie möglich in die Firma fahren. Wenn ihr mich entschuldigt.«

Giles wartete einen Augenblick, schaute kläglich auf seinen Teller und hastete dann seiner Mutter hinterher.

»Armer alter Giles«, sagte Venetia.

»Armer alter Junge«, sagte Adele.

»Ich verstehe nicht ganz, womit Giles so viel Mitleid verdient hat«, meinte Oliver.

»Daddy! Das ist doch vollkommen offensichtlich. Mummy lässt keine Gelegenheit aus, um ihn zurechtzuweisen und ihm klarzumachen, dass sie der Boss ist – sowohl im Büro als auch hier.«

»Adele! Das war unangebracht. Ich finde, du solltest dich entschuldigen.«

Sie sah ihn einen Augenblick lang erschrocken an, dann erschien auf ihrem hübschen kleinen Gesicht ein süßes, kokettes...