Blutroter Sonntag - Thriller Bd. 7

von: Nicci French

C. Bertelsmann, 2017

ISBN: 9783641199203 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Blutroter Sonntag - Thriller Bd. 7


 

1

Auf einmal war die Wohnung von Geräuschen erfüllt. Das Telefon läutete, verstummte, läutete erneut. Auf dem Tisch vibrierte das Handy. Die Türklingel ging – einmal, zweimal –, und gleichzeitig klopfte jemand heftig. Detective Chief Inspector Karlsson hievte sich aus seinem Sessel auf die Krücken, humpelte zur Tür und öffnete sie.

Eine sehr kleine und dünne Frau starrte ihm stirnrunzelnd entgegen. Ihr rotblondes Haar war im Nacken fast stoppelkurz, der schräg geschnittene Pony aber auf einer Seite so lang, dass er ein Auge verdeckte. Sie hatte ein schmales, blasses, leicht asymmetrisch wirkendes Gesicht mit farblosen Brauen und zimtbraunen Augen. Bekleidet war sie mit einem schwarzen Anorak, einem weiten grauen Pulli, einer dunklen Hose und orangeroten Turnschuhen. Hinter ihr regnete es in Strömen. Sowohl ihr Gesicht als auch ihr Haar waren vom Regen ganz nass. Über ihr knarrten die Äste einer Platane.

»Ich bin Chief Inspector Petra Burge.«

Karlsson fand, dass sie dafür zu jung aussah. Dann aber entdeckte er die Fältchen rund um ihre Augen. Außerdem hatte sie an der linken Kopfseite eine Narbe, die sich vom Ohr bis zum Hals hinunterzog.

»Ich habe schon von Ihnen gehört.«

Burge wirkte weder überrascht noch geschmeichelt.

»Ich muss Sie bitten, mich zu einem Tatort zu begleiten.«

Karlsson deutete auf seine Krücken.

»Ich bin krankgeschrieben.«

»Auf Weisung des Polizeipräsidenten.«

»Crawford schickt Sie?«

»Ich soll Ihnen sagen, dass es in den Saffron Mews eine Leiche gibt.«

»In den Saffron Mews?«

Plötzlich fühlte er sich, als hätte ihm jemand einen Magenschwinger verpasst. Er streckte eine Hand aus, um sich abzustützen. »Was ist passiert?«

»Wir fahren da jetzt hin. Ich habe einen Wagen.«

Burge wandte sich zum Gehen, doch Karlsson hielt sie am Ärmel fest.

»Ist sie tot?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Es handelt sich um einen Mann.«

Einen Mann, dachte Karlsson. Was für einen Mann? Er hatte das Gefühl, sich selbst zu beobachten. Er hörte sich sagen, er komme gleich, während er sich benommen nach seinem Mantel umwandte, mit einem raschen Griff sicherstellte, dass sein Dienstausweis in der Tasche steckte, sich dann die Krücken unter die Achseln schob und die Tür zuzog. In dem Moment roch er die Kartoffel im Ofen. Sie würde zu Ruß verkokeln. Und wenn schon.

Er ließ sich auf den Rücksitz sinken und zog die Krücken nach. Erst dann merkte er, dass neben ihm jemand im Wagen saß.

»Es tut mir so leid!«

In der Dunkelheit brauchte er ein paar Augenblicke, um Detective Constable Yvette Long auszumachen. Sie lehnte sich zu ihm herüber, als wollte sie nach seinen Händen greifen. Ihr sonst streng nach hinten gebundenes Haar fiel ihr offen über die Schultern. Sie trug einen unförmigen Pullover und eine alte Jeans.

Ihre Stimme klang nach unterdrücktem Schluchzen. Mit einer Handbewegung brachte er sie zum Schweigen. Sein Bein schmerzte, und seine Augen brannten. Er saß ganz still und aufrecht, während er auf den Verkehr starrte, der ihnen aus der regennassen Dunkelheit entgegenkam.

»Immerhin lebt sie«, sagte er schließlich.

Burge stieg auf der Beifahrerseite ein. Neben ihr blickte ein Fahrer starr geradeaus. Von hinten sah Karlsson nur sein geschorenes Haar, seinen ordentlich getrimmten Bart. Burge wandte sich den beiden Fahrgästen auf dem Rücksitz zu.

»Fahren wir nicht gleich los?«, fragte Karlsson.

»Noch nicht. Was soll das alles?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Polizeipräsident Crawford ruft mich zu Hause an. Der Polizeipräsident. Ich bin ihm nie begegnet, kenne ihn nicht mal vom Sehen. Trotzdem ruft er bei mir zu Hause an und fordert mich auf, alles liegen und stehen zu lassen, um an einen Tatort zu eilen und die Ermittlungen in einem Fall zu leiten, von dem ich noch gar nichts gehört habe. Und nicht nur das. Unterwegs soll ich außerdem eine Kollegin auflesen, die ich nicht kenne, und dann auch noch einen Kollegen, der eigentlich gerade krankgeschrieben ist. Es geht um Frieda Klein, hat er gesagt. Sie müssen aufpassen, hat er gesagt, es geht um Frieda Klein.«

Sie legte eine Pause ein.

»Was genau wollen Sie wissen?«, fragte Karlsson, der es vor Ungeduld kaum noch aushielt.

»Worauf lasse ich mich da ein?«

»Wenn Crawford Sie persönlich mit der Leitung beauftragt, dann muss das bedeuten, dass er Gutes über Sie gehört hat. Sollten wir also nicht zu diesem Tatort aufbrechen?«

»Wer ist Frieda Klein?«

Karlsson und Yvette Long sahen sich an.

»Ist das eine schwierige Frage?«, hakte Burge nach.

»Sie ist Psychotherapeutin«, antwortete Karlsson zögernd.

»Und in welcher Verbindung stehen Sie zu ihr?«

Karlsson holte tief Luft.

»Sie war in diverse polizeiliche Ermittlungen involviert.«

»Als Ermittlerin oder als Verdächtige?«

»Im Grunde ein wenig von beidem«, warf Yvette ein.

»Das ist nicht fair«, meinte Karlsson.

»Na ja, es stimmt aber, denken Sie doch nur an …«

»Halt«, fiel ihr Burge ins Wort. »Ich will nur eines wissen: Wieso mischt sich der Polizeipräsident da persönlich ein? So läuft das normalerweise nicht. Und warum warnt er mich?«

Karlsson und Yvette wechselten erneut einen Blick.

»Ich habe schon mehrfach mit Frieda zusammengearbeitet«, begann er.

»Wir beide«, wandte Yvette ein.

»Ja, wir beide. Sie besitzt gewisse Fähigkeiten. Ganz besondere Fähigkeiten. Aber manche Leute finden Frieda …«, er machte eine Pause. Was war das richtige Wort?

»Unglaublich schwierig«, schlug Yvette vor.

»Das ist jetzt ein bisschen heftig formuliert«, entgegnete Karlsson.

»Sie bringt die Leute gegen sich auf«, versuchte Yvette es erneut.

»Sie kann nichts dafür«, kommentierte Karlsson, an Burge gewandt. »Jedenfalls nicht viel. Reicht Ihnen das?«

Burge nickte dem Fahrer zu, woraufhin sich der Wagen in Bewegung setzte.

»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«, fragte sie.

Karlsson warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Vor etwa drei Stunden.«

Burge drehte sich abrupt um.

»Wie bitte?«

»Sie war an einer Ermittlung beteiligt.«

»Was für einer Ermittlung?«

»Sie hat versucht, eine Unschuldige aus dem Gefängnis zu bekommen.«

»Welche Unschuldige?«

»Es handelte sich um den Hannah-Docherty-Fall.«

»Den Docherty-Fall? Das war Frieda Klein?«

»Ja.«

»Das ist aber nicht gut gelaufen.«

»Nein.« Es herrschte einen Moment Schweigen. Karlsson schwirrte der Kopf. Es gab so viele Fragen.

»Die Leiche«, begann er. »Ist es jemand aus Friedas Bekanntenkreis?«

»Warum wollen Sie das wissen?«, fragte Burge. »Haben Sie einen Verdacht?«

»Eigentlich nicht.«

Es wurden keine weiteren Worte gewechselt, bis der Wagen von der belebten Euston Road abbog und sie sich einer Art Dunstglocke aus blitzendem Blaulicht näherten. Der Wagen hielt am Straßenrand. Als Karlsson die Tür öffnete, drehte Burge sich noch einmal zu ihm um.

»Sind Sie beide hier, um mir zu helfen oder ihr

»Geht nicht beides?«

»Wir werden sehen. Vielleicht können Sie mir bei Gelegenheit mal erklären, warum Sie eine Psychotherapeutin für kriminalistische Ermittlungen engagieren.«

»Ich habe sie nicht direkt engagiert.«

»Sie sollten sie nicht nach Ihrem ersten Eindruck beurteilen«, warf Yvette ein, »und nach dem zweiten eigentlich auch nicht.«

Mit einem irritierten Kopfschütteln öffnete Burge ihre Tür und eilte voraus. Karlsson brauchte länger, um sich nach draußen und auf seine Krücken zu hieven. Yvette folgte ihm. Er hörte sie hinter sich schwer atmen. Auf dem Gehsteig hatte sich bereits eine Schar Schaulustiger versammelt, zurückgehalten vom Absperrband und etlichen uniformierten Beamten. Es stimmte also. Schlagartig überkam ihn ein Gefühl von Ruhe und Distanz. Das war seine Welt. Er fand sein Gleichgewicht auf den Krücken und humpelte in schnellem Tempo auf den Tatort zu. Blitzlichter flammten auf. Die Medien waren bereits vor Ort. Wie hatten sie davon Wind bekommen? Einer der Fotografen war auf eine Mauer geklettert und hockte nun dort oben.

Ein junger Beamter kontrollierte den Zutritt hinter die Absperrung. Burge zückte nur rasch ihren Ausweis und stürmte an ihm vorbei. Karlsson kam sich vor wie ein alter, kranker Mann, während er, auf eine seiner Krücken gestützt, seinen eigenen Ausweis herausfischte. Der Mann griff danach und begann mit großem Brimborium, Karlssons Namen in sein Protokollbuch zu schreiben.

»Warum haben Sie sie nicht aufgehalten?«, fragte Karlsson und deutete dabei auf Burge.

»Sie leitet die Ermittlungen«, erwiderte der Mann. »Wir haben schon auf sie gewartet.« Nach einem hastigen Blick auf seine Armbanduhr notierte er auch noch die Zeit, ehe er Karlsson seinen Ausweis zurückgab. Bei Yvette verfuhr er ebenso. Karlsson hatte plötzlich das Gefühl, irgendwie wieder im Dienst zu sein, aber doch nicht richtig.

Mittlerweile befand er sich in der kleinen Gasse, wo seine Krücken auf den nassen Pflastersteinen rutschten. Vor den Garagen stand ein Krankenwagen mit geöffneten Türen. In seinem Inneren beugte sich ein Sanitäter über irgendetwas. Während sie auf das Haus zustrebten, traf ein...