Traumakinder - Warum der Krieg immer noch in unseren Seelen wirkt

von: Jens-Michael Wüstel

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2017

ISBN: 9783732540167 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 15,99 EUR

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Traumakinder - Warum der Krieg immer noch in unseren Seelen wirkt


 

EINE ENTDECKUNGSREISE INS ICH


Wir werden sie nicht mehr fragen können. Die Mehrzahl der Angehörigen der Kriegsgeneration ist heute mindestens neunzig Jahre alt. Nur wenige dieser Menschen werden in der Lage sein, noch zu berichten, was sie erlebt und empfunden haben in der Zeit um 1945. Und wir würden es ihnen auch nicht zumuten wollen, sich den Erinnerungen in vollem Ausmaß nochmals zu stellen. So bleibt nur die indirekte Annäherung an dieses Thema.

Nun mag man einwenden: Warum sollen wir uns überhaupt noch mit dieser leidvollen Zeit beschäftigen? Können wir die Vergangenheit nicht ruhen lassen? Die Antwort lautet: Nein, wir können nicht. Denn die Ereignisse von damals wirken in vielen Kriegskindern und Kriegsenkeln fort. Die Vergangenheit wirkt noch heute, sie ruht eben nicht. Viele von uns tragen ein schweres Erbe in sich. Und dabei ist besonders tragisch, dass die meisten davon nichts wissen. Unklare Gefühlszustände, Ahnungen, Albträume, Ängste, innere Leere und Erschöpfungsgefühle sind die seelischen Plagen unserer Zeit, deren Ursachen die unverarbeiteten Nöte unserer Eltern und Großeltern sein können. Wie können wir uns ihnen annähern, sie verstehen und – hoffentlich – doch noch verarbeiten?

Es heißt: Wer nicht bereit ist, aus der Geschichte zu lernen, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. Zu Recht kann man hier einwenden, dass uns jedes Ereignis verändert. So wird sich nie ein Geschehen exakt wiederholen können. Dennoch macht es einen großen Unterschied, ob wir uns den Gefühlen stellen, sie verarbeiten. Oder ob wir sie leugnen und verdrängen. Nur im ersten Fall können wir im besten Sinne unsere Lehre aus der Geschichte ziehen. Dabei entsteht Geschichte immer durch Geschichten. Auch die große Weltgeschichte ist letztlich die Aneinanderreihung von Milliarden kleiner Einzelgeschichten. Jeder kann versuchen, die eigene Geschichte kennenzulernen. Auch heute noch werden Familiengeschichten erzählt, Erinnerungen – vielleicht nur bruchstückhaft – wachgehalten. Mancher mag der Meinung sein, dies sei wenig wissenschaftlich. Erzählungen sind immer subjektiv gefärbt, Passendes wird ausgeschmückt, Unpassendes weggelassen. Kommt man so der Wahrheit auf die Spur? Nun, Wahrheit an sich ist eine höchst subjektive Angelegenheit. Nur der Erzähler kennt eine Wahrheit, nämlich seine eigene. Der Zuhörer formt über Bewertungen und Urteile bereits eine zweite, wieder sehr subjektive Wahrheit. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, auf die Zwischentöne zu achten. Wie reagiere ich als Zuhörer? Was lösen die Geschichten in mir aus? Welche Gefühle werden in mir wach? Wir haben so die Möglichkeit, unser Erleben und Verhalten intuitiv besser zu verstehen, ohne unbedingt alle Fakten kennen zu müssen. Indem wir Gefühlsarbeit leisten, können wir uns vom Verstand ein Stück weit lösen.

Wir werden sie also doch noch fragen können, unsere Mütter, Großmütter, Urgroßmütter. Unsere Väter, Großväter und Urgroßväter. Denn deren Nöte und Ängste, ihre Kraft und ihr Wille, ihre – noch so tief verschüttete – Liebe wirken als Gefühlserbe in uns weiter. Wir tragen als Nachkommen dieses Erbe der Erinnerung. Um mit Gefühlen umzugehen, um sie deuten und annehmen zu können, brauchen wir keine exakten biografischen Daten. Wir müssen nicht wissen, wann genau eine Flucht stattfand, wann die Bomben fielen oder ob es tatsächlich zu einer Vergewaltigung kam. Vielmehr müssen wir für diese Generation eine Integrationsarbeit leisten, die sie selbst damals nicht bewältigen konnte. Unklare, nebulöse Gefühle und Seins-Zustände müssen benannt und verstanden werden. Sie sind wie freie Seelenanteile, die kein Zuhause gefunden haben. Sie flattern als Geister – und manchmal als Dämonen – in unserem Unterbewusstsein umher. Und rauben uns unseren inneren Frieden. Dabei dürfen wir sie nicht bekämpfen, denn das wäre ein Kampf mit dem eigenen Schatten. Vielmehr sollte man sich ihnen behutsam nähern. Verstehen, zulassen, integrieren. So entsteht innerer Frieden. So können wir uns einlassen auf die Gegenwart und die Vergangenheit tatsächlich ruhen lassen.

Dieses Buch möchte Ihnen helfen, sich dem zunächst unüberschaubar wirkenden Thema anzunähern. Gehen wir gemeinsam auf eine Reise, die uns der Geschichte – und unserer ganz eigenen persönlichen Geschichte – näher bringt. Vielleicht vermuten Sie traumatische Anteile in sich selbst. Oder Sie kennen Menschen, denen Sie Ihre Hilfe anbieten wollen. In jedem Fall ist hier ein tieferes Verständnis wichtig. Sie erfahren, wie Sie klären, ob Sie (oder Angehörige) Kriegskind oder Kriegsenkel sind und ob die Trauma-Folgen in Ihnen weiterwirken. Und wie Sie mit diesen Folgen umgehen können. Was Sie konkret tun können, um die vererbten Gefühle und Muster ablegen zu können. Das – teils unbewusste – Erinnerungserbe ist Herausforderung und Chance zugleich. Wir stellen uns dem bisher Unbekannten und lernen mit dem umzugehen, was uns begegnet. Was könnte das sein? Die Erklärung für immer wiederkehrende Ahnungen? Für unseren Umgang mit Problemen? Für unsere Erwartungen an andere Menschen? Für immer wiederkehrende Konflikte? Für die Partnerwahl oder Nicht-Wahl? Für dieses unheimliche Gefühl der Leere? Für Aktivitätsdrang oder Leistungsdruck? Jeder mag darauf eine eigene Antwort finden. So wird unser Erinnerungserbe zu einer ganz persönlichen Aufgabe.

Ein Schwerpunkt dieses Buchs ist die Arbeit und Auseinandersetzung mit unseren Elternbildern. Dabei geht es nicht um die Festlegung auf – vage – Geschlechterrollen, sondern gerade um das Hinterfragen derselben. »Die Mutter« ist als Urbild in uns angelegt. Und wie mit allen Bildern sollten wir kritisch damit umgehen. Liebe, Fürsorge, Einfühlungsvermögen, Schutzinstinkt, Selbstlosigkeit, Opferbereitschaft mögen als mütterlich gelten, aber sie sind allgemeine Werte, die unabhängig von Geschlecht und Familienrolle gelebt werden.

Ähnliches gilt für »den Vater«. Auch hier haben wir es mit einem Urtypus zu tun. Dabei sind die Rollen oftmals gesellschaftlich genau festgelegt, ähnlich einem Drehbuch, das den Schauspielern ihren Part zuweist. Rollen werden quasi in einer Art Konsens durch Personen besetzt und bilden die Realität nur teilweise ab. Wir können nämlich auch den Vater als mütterlich erleben. Oder den größeren Bruder oder die Tante. Selbst Nicht-Verwandte können diese Funktionen für uns erfüllen, also die Mutterrolle einnehmen.

Wir werden in diesem Buch mehr dem »Prinzip Mutter« (aber auch dem »Prinzip Vater«) begegnen (und damit arbeiten) als der traditionellen Rolle von Frau und Mann. Dabei ist es äußerst tragisch, dass vor allem das Mutterbild – oder -klischee – in erheblichem Maße durch ebenjene Zeit geprägt wurde, in der dann die Traumatisierung sehr vieler Deutscher stattfand: während des Nationalsozialismus. Es ist deshalb sinnvoll, sich mit dem NS-Mutterideal zu beschäftigen, das erschreckenden Einfluss auf die heute quälende Frage hat: Wie sollte eine gute Mutter sein? Oder, bezogen auf unser Thema: Wie hätte sie sein sollen? Auch hier eröffnen sich Chancen, wenn wir uns von den falschen Idealen lösen.

Es darf uns wütend machen, wenn unsere Kindheit nicht so war, wie wir es uns gewünscht hätten. Wir dürfen trauern um dieses Kindheitsbild. Wir müssen auch nicht alles verzeihen, was uns angetan wurde. Und wir dürfen Angst davor haben, als Eltern selbst zu versagen. Diese Gefühle sind normal. Wir sollten sie zulassen. Es kann dann ungemein erleichtern, wenn uns klar ist, dass diese Gefühle aus einem Rollenverständnis heraus entstehen. Für die Eltern bedeutet dies, auf natürliche und ungezwungene Weise das Beste zu geben – und Fehler als menschlich und unvermeidlich anzunehmen. Und für die Kinder? Sie dürfen das Beste erwarten. Ihnen gebühren Zuneigung und Respekt. Wo die Eltern (teilweise) versagen, dürfen Kinder ihre Bedürfnisse nachholen. Ich gehe dabei von einem positiven Menschenbild aus, nämlich der Vorstellung, dass das Gute in jedem Menschen angelegt ist. Es ist uns also möglich, die unerfüllten Bedürfnisse aus uns selbst heraus zu befriedigen. Wir können uns selbst die guten Eltern sein, die wir unserem Empfinden nach nie gehabt haben. Diesen inneren Weg zu einer Auflösung der transgenerationalen Schuldverstrickungen aufzuzeigen ist ebenfalls ein Anliegen dieses Buches.

Es teilt sich dabei in mehrere Abschnitte, die das Erkennen eigener Reaktionsmuster erleichtern und Hintergründe vermitteln sollen. Es ist als »Lesebuch« angelegt, das Ihnen eine intuitive und schrittweise Annäherung an das Thema ermöglicht. So werden Sie schließlich in der Lage sein, die in den Porträts beschriebenen Lebensgeschichten und Gefühlswelten der Betroffenen besser zu verstehen und einzuordnen. Gerade durch diese Porträts können Sie Ihre Sensibilität für das Thema erweitern und Ihre eigene Sichtweise entwickeln. Dabei ist das Verständnis der Gefühlswelt eine wichtige Schlüsselkompetenz im Umgang mit Traumatisierten und sich selbst. Somit ist es auch ein Ziel dieses Buchs, sich dem Thema vor allem auf emotionaler Ebene zu nähern. Eine trocken-rationale Betrachtung mit wissenschaftlicher Überfrachtung wird den Betroffenen nicht gerecht.

Schließlich möchte ich auch Wege aufzeigen, die aus der Trauma-Verstrickung herausführen. Deshalb ist das letzte Kapitel eher als »Arbeitsbuch« gedacht, das Ihnen konkrete Konzepte an die Hand gibt. Bei dieser Arbeit ist es wichtig, zunächst festzulegen: Was will ich erreichen? Und: Was darf ich erwarten (und was nicht)? Nun können Sie aus einer Vielzahl von Methoden, die sich in der Trauma-Arbeit bewährt haben, auswählen. Ein...