Jeder Kuss ein Volltreffer

von: Katie MacAlister

LYX, 2017

ISBN: 9783736303676 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Jeder Kuss ein Volltreffer


 

2


»Halleluja, du fährst endlich! Oh, meine Liebe, so habe ich es nicht gemeint. Du liebe Güte, nein. Ich meinte halleluja, also ein schwächeres Halleluja. Ein Halleluja ohne Ausrufezeichen, wenn du so willst. Äh. Also, so.«

Ich lächelte und stopfte den Rest meiner Kleidung in die Reisetasche, die mich schon seit vielen Jahren begleitete. Sie war an manchen Stellen abgetragen, an den Außenklappen zerrissen und wies zahlreiche Flecken auf, die daher rührten, dass man auf beengtem Raum mit vielen Leuten zusammen war. Mit anderen Worten, sie war eine gute visuelle Repräsentation meiner selbst: ein bisschen abgeschabt, hatte viel vom Leben gesehen und war definitiv nicht stylisch und attraktiv. »Ist schon okay, Kim. Ich weiß, was du meinst. Es war sehr nett von dir, mich bei dir und Rafe wohnen zu lassen. Ich weiß doch, dass ihr lieber allein gewesen wärt.«

»Es ist ja nicht, dass wir dich nicht schrecklich gern hierhaben – du liebe Güte, du hast die meiste Hausarbeit gemacht, und es wird ein Albtraum werden, das alles wieder alleine machen zu müssen –, aber ich denke auch an dich. Wirklich. Du musst dich selbst finden. Herausfinden, was dich glücklich macht, und was du mit deinem Leben anfangen willst.«

»Na ja, das ist die große Frage, oder?« Ich lächelte meine Freundin an. Ich kannte sie erst seit einem Jahr. Wir hatten uns bei einem Strafrechtsseminar an einer Londoner Universität kennengelernt.

Sie verzog das Gesicht. »Du warst auf so vielen Universitäten … Kannst du dich nicht zu irgendeinem Abschluss entschließen und damit einen Job finden?«

»Was denn zum Beispiel?«

»Was weiß ich. Irgendeiner.« Sie seufzte und machte eine frustrierte Geste. »Irgendein Job, der zu dem Abschluss passt, den du zwar noch nicht hast, aber dann machen müsstest.«

»So einfach ist es nie«, sagte ich und stopfte die wenigen kostbaren Bücher, die ich noch besaß, in die Tasche. Dann machte ich mich grunzend vor Anstrengung daran, den Reißverschluss zu schließen. »Theoretisch kann ich zu vielen Themen etwas beisteuern, alles Mögliche von Englisch über mittelalterliche Geschichte, Sport und natürlich Strafrecht. Aber das bedeutet leider nicht, dass ich damit einen Job bekomme, von dem ich leben kann.«

Kim zog eine Augenbraue hoch und blickte mich zweifelnd an.

»Okay, okay, einen Job könnte ich wahrscheinlich schon bekommen, aber keinen, der mir gefällt«, sagte ich. Ich hasste die Tatsache, dass niemand mein Bedürfnis, zu lernen, was es zu lernen gab, verstand. »Wenn ich eure Universitäten dazu bringen könnte, mich finanziell besser zu unterstützen, dann wäre alles in Butter.«

»In Butter?«, schnaubte Kim. »Was stellst du dir vor? Denkst du, du brauchst wirklich noch mehr Zeit auf der Uni? Dieser zeitweilige Tutorenjob, den du gefunden hast, ist nicht gerade das Gelbe vom Ei.«

»Ich habe ihn eigentlich nicht gefunden – das war eine alte Freundin«, unterbrach ich Kim. »Sie wusste, dass ich einen Job brauchte, und die andere Option, die sie mir vorschlug, gefiel mir nicht.«

»Du könntest Lehrerin werden, eine richtige Lehrerin, nicht nur eine Sommertutorin.«

Ich schauderte. »Diese Kinder … oh, Kim, diese Kinder! Ihre Mutter war schon schlimm genug mit ihrem gewollt spöttischen Gesichtsausdruck! Die ganze Zeit über hat sie versucht, mich mit dem Geld ihres Gatten zu beeindrucken. Aber ihre Kinder! Die Kinder waren die reinste Höllenbrut!«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie gar nicht so schlimm sind«, schalt Kim mich sanft.

»Du hast sie nicht gesehen. Natalia, die Siebenjährige, raste die ganze Zeit, als ihre Mutter und ich uns unterhalten haben, auf ihren Rollerblades herum und schrie jeden im Park an. Und sie schrie nicht vor Lachen – dieses Kind kennt schlimmere Schimpfwörter als mein Vater. Und der neunjährige Jocelyn war sogar noch schlimmer. Er bekam einen heftigen Wutanfall, als ein anderes Kind es wagte, irgendeinen tollen Skateboard-Sprung zu machen, den er nicht beherrschte. Das Kind gehört wirklich in Therapie. Beide gehören sie dahin, und diese kleinen Monster soll ich drei Monate lang unterrichten. Und weißt du, warum sie unterrichtet werden sollen? Weil sie so außer Rand und Band sind, dass sie noch nicht einmal auf ihren teuren Privatschulen etwas in ihre vernagelten Köpfe hineinbekommen.«

»Autsch«, sagte Kim und zuckte zusammen, aber ich war mir nicht sicher, ob das die Reaktion auf meine Tirade über die Kinder, die ich unterrichten sollte, war, oder ob es sich auf meine Lage bezog. Ich hoffte, dass Letzteres der Fall war. »Es ist doch nur ein Job, und du weißt nie, was für Türen er dir öffnet. Wenn die Eltern so reich sind, wie du sagst …«

»Sie hatten zumindest einen eigenen Fahrer.«

»… wenn sie wohlhabend sind, können sie dir vielleicht dabei helfen, einen Job zu finden, der dir besser gefällt. Ich gebe ja zu, dass die Kinder nicht besonders angenehm klingen, aber möglicherweise brauchen sie nur eine feste Hand. Sie brauchen eine Art Mary Poppins, die in ihr Leben kommt und sie in angenehme kleine Menschen verwandelt.«

»Ich bin nicht Mary Poppins, aber danke, dass du mich aufmuntern willst.« Ich blickte mich in dem kleinen Gästezimmer um, das ich in den letzten drei Monaten bewohnt hatte – Kims Freund Rafe war alles andere als glücklich darüber gewesen –, und ergriff meine Tasche. »Und danke, dass ich hier wohnen durfte, bis ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Es war ein Albtraum, dass dieser Betrüger mein Bankkonto leer geräumt hat. Wenn ich dich nicht gehabt hätte …«

Kim warf mir einen wissenden Blick zu. »Fall bitte beim nächsten Mal nicht auf die Geschichte mit der Pechsträhne herein und gib niemandem deine Bankinformationen preis, damit er dein Konto leer räumen kann.«

»Nein, ich habe meine Lektion gelernt, das kannst du mir glauben.« Ich umarmte sie, was mühsam war, da ich die schwere Reisetasche bereits über die Schulter geschlungen hatte.

»Obwohl es für dich sicher einfacher gewesen wäre, nach Hause zu telefonieren …«

Ich hob grüßend die Hand und stolperte aus dem Zimmer, die Treppe herunter zur Haustür. Kim begleitete mich bis zur Straße. »Das ist keine Option. Eine schöne Zeit für euch zu zweit, Kim. Und sag Rafe noch einmal Danke von mir – ich bin euch wirklich dankbar, dass ihr mich ausgehalten habt.«

»Das haben wir doch gern getan. Und jetzt geh und stell das Leben dieser armen Kinder auf den Kopf. Genieß es, dass du nicht noch mehr lernen musst.« Lächelnd winkte sie mir nach, als ich mich auf den Weg zur nächsten U-Bahn-Station machte. »Und unterhalte dich mit deinen neuen Chefs. Vielleicht können sie dir ja dabei helfen, den perfekten Job zu finden. Du musst etwas mehr mit deinem Leben anfangen, als nur zur Schule zu gehen!«

Ihre Worte begleiteten mich die nächste Stunde, als ich im Zug zur Küste nach Cornwall saß, wo mich mein gefürchteter Sommerjob erwartete.

»Das Problem ist«, sagte ich laut und blickte aus dem Fenster des Zuges, der am belebten Bahnsteig stand. Der Lärm unzähliger Menschen im Bahnhof drang gedämpft durch die Scheiben. »Ich lerne gerne.«

»Oh, Entschuldigung, ist hier besetzt?« Eine Frau blieb an der offenen Tür des Abteils stehen, in dem ich saß.

Ich blickte auf die braunen Plüschsitze und sagte: »Nein, keineswegs, ich habe nur gerade mit mir selbst geredet.«

»Das mache ich auch oft«, sagte die Frau und wuchtete zwei Koffer auf die weißen Metallablagen über den Sitzen. Sie blickte sich im Abteil um und fügte hinzu: »Einen solchen Zug habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen.«

»Der Mann am Fahrkartenschalter hat gesagt, es habe mechanische Probleme gegeben, und deshalb mussten sie ein paar alte Waggons wieder einsetzen. Ich finde es eigentlich lustig. Es ist sehr Agatha Christie, finden Sie nicht auch? Ich habe halbwegs erwartet, eine Leiche unter dem Sitz zu finden oder eine Schachtel mit gestohlenem Schmuck in der Gepäckablage.«

Sie schenkte mir ein kurzes Lächeln und setzte sich mir gegenüber. Dann zog sie ihr Handy heraus, betrachtete es missmutig und legte es auf den Platz neben sich. Von Ferne war eine total unverständliche metallische Stimme zu hören, die Anweisungen oder Informationen von sich gab. »Diese alten Abteile sind ganz anders, oder? Wahrscheinlich haben die Leute viel mehr miteinander geredet, weil die Sitzreihen sich gegenüberliegen und nicht hintereinander wie heutzutage.«

»Genau. Ich bin übrigens Mercy. Eigentlich Mercedes, aber alle nennen mich Mercy.« Ich reichte ihr nicht die Hand, nicht weil ich das Gefühl hatte, sie würde sie ablehnen, sondern weil sie schon wieder mit ihrem Handy beschäftigt war.

»Janna«, sagte sie abrupt. Dann blickte sie auf und runzelte die Stirn. »Entschuldigung, das ist mein Name. Sind Sie Kanadierin oder Amerikanerin?«

»Eigentlich beides. Meine Mutter war aus British Columbia, aber mein Dad kommt aus Kalifornien. Ich habe in London Rechtsgeschichte studiert, aber mir ist das Geld ausgegangen, und deshalb fahre ich jetzt nach Cornwall, um eine Stelle anzutreten.« Ich hielt inne, da mir klar wurde, dass ich mich zur Zielscheibe der üblichen Witze über Amerikaner machte, die Fremden gerne viel zu bereitwillig ihr gesamtes Leben anvertrauen.

»Oh?« Sie blickte von ihrem Telefon auf. Ihre Miene wirkte angespannt. »Entschuldigung, ich bin heute ein wenig zerstreut. Geoff, mein Partner – nun ja, eigentlich mein...