Der Kommissar und der Tote von Gonneville - Ein Kriminalroman aus der Normandie

von: Maria Dries

Aufbau Verlag, 2016

ISBN: 9783841211439 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Der Kommissar und der Tote von Gonneville - Ein Kriminalroman aus der Normandie


 

Der Wald von Gonneville


Freitag, 31. Mai

Der Blutmond stand riesig über dem Horizont. Fast berührte er ihn. Die Dunkelheit im Jagdforst war von seinem glutroten Schein geprägt. Der Wald lag in der Nähe von Valognes in der nördlichen Normandie, eingebettet in eine sanfte Hügellandschaft. Zwischen den imponierenden alten Baumbeständen aus Eichen, Buchen und Eschen stieg Nebel auf und verfing sich in den Zweigen. Durch das Hirschtal, das inmitten der weitläufigen Parzelle lag, wand sich ein Bach über glattgeschliffene Steine und eine grüne Moosdecke. Leises Plätschern war zu vernehmen. Auf einem Hang erhob sich düster ein Hochsitz. Ein farbenprächtig gefiederter Fasan ruhte auf seinem Schlafbaum. Er wurde von einem plötzlichen Rascheln geweckt. Hinter einem Mehlbeerstrauch trat eine Person hervor. Langsam und zielstrebig bewegte sie sich durch das Unterholz. Sie trug lodengrüne Kleidung und hatte einen Hut auf, dessen Zierfeder bei jedem Schritt wippte. An ihrem Gürtel, die Füße verschnürt, baumelten kopfüber zwei braunweiß gesprenkelte Rebhühner.

Aimée saß auf dem Beifahrersitz des großen schwarzen Geländewagens und starrte gelangweilt auf die Landschaft, die an ihr vorbeizog. Unter einem hohen, azurblauen, wolkenlosen Himmel erstreckten sich von Hecken umgrenzte Weiden, Gemüseäcker und Marschland. Ab und zu tauchte in der Ferne eine granitsteinerne Ansiedlung mit einem Kirchturm auf. Seit ihrer Abreise in Paris waren bereits mehr als vier Stunden vergangen. Charles hatte nur einmal an einer Autobahnraststätte kurz vor Caen eine Pause eingelegt, um zu tanken und rasch zwei Kaffee aus dem Automaten zu holen. Als sich bei Bayeux der Verkehr wegen eines Unfalls staute, hatte er gereizt reagiert. Er wollte am späten Nachmittag in seiner Jagdhütte eintreffen. Sie lag irgendwo in der Nähe von Valognes mitten im Wald. Aimée hatte bei seiner begeisterten Schilderung des einsam gelegenen Hauses, des ausgedehnten Jagdreviers und der stillen Friedlichkeit nicht richtig zugehört. Es interessierte sie nicht. Nur ihm zuliebe war sie mitgekommen. Sie würde an diesem Wochenende einen glamourösen Sektempfang, eine wilde Party auf einem Hausboot auf der Seine und eine Vernissage in einer angesagten Galerie im Künstlerviertel Belleville verpassen. Stattdessen würde sie in der Pampa festsitzen. Sie unterdrückte einen tiefen Seufzer. Ihr war heiß. Genervt schlüpfte sie aus den hochhackigen goldenen Sandalen und stemmte die bloßen Füße gegen das Armaturenbrett.

Charles, der den Wagen lässig mit einer Hand steuerte, drehte kurz den Kopf und blickte voller Besitzerstolz auf seine jüngste Eroberung. Seit drei Wochen waren sie verlobt. Seine Anwälte regelten die Scheidung von seiner dritten Ehefrau Caroline, die aufgrund beiderseitigen Einvernehmens in einigen Monaten rechtskräftig werden würde. Die fünfundzwanzigjährige Aimée war eine Schönheit, die vollkommen seinem Beuteschema entsprach. Sie hatte glatte rötliche Haare, die im Licht golden schimmerten. Auf seinen Wunsch hin trug sie die volle Mähne jetzt kinnlang geschnitten. Ihre Nase war fein, gerade und ein wenig breit. Die Augen groß und bernsteinfarben. Die vollen Lippen verlockend. An ihrem Finger funkelte der Ring, den er ihr zur Verlobung geschenkt hatte. Er war aus Platin gefertigt, mit fünf Diamanten besetzt und hatte ein kleines Vermögen gekostet. Aimée trug ein kurzes salbeigrünes Sommerkleid, dessen Ausschnitt ihre großen Brüste betonte. Die schlanken langen Beine schienen kein Ende zu nehmen.

»Wir sind bald da, mein Liebling«, sagte er. »Du wirst staunen, wie schön es an der Nordküste der Halbinsel Cotentin ist. Freust du dich auf unser Wochenende?«

Seine Verlobte strahlte ihn an. »Ja, sehr, Charles. Es wird bestimmt wunderschön.«

»Das glaube ich auch. Die Woche war anstrengend. Ich hatte viel Stress in der Firma. Wir machen es uns richtig gemütlich und entspannen uns.«

»Das machen wir, Chéri.«

Charles fuhr von der Nationalstraße, die über Quettehou nach Barfleur führte, ab und bog links in eine schmale Landstraße ein. Sie folgten ihr einige Kilometer durch Wiesen und Lauchfelder. Dann begann das große Waldgebiet von Gonneville. Auf einem Forstweg fuhren sie durch einen dichter werdenden Laubwald über lichte Anhöhen und durch dunkle Täler. Aimée wähnte sich am Ende der Welt. Die einsame düstere Landschaft kam ihr unheimlich vor. Warum hatte sie sich nur auf diesen Ausflug eingelassen? Endlich gelangten sie auf eine Lichtung. Auf einer saftig grünen Wiese stand eine Blockhütte, umsäumt von hohen Ahornbäumen und Kastanien. Davor gab es einen alten Brunnen mit einer Pumpe. Sonnenstrahlen drangen durch das Laub und tauchten die malerische Kulisse in warmes gelbes Licht. Charles parkte den Mercedes Benz GL 350 direkt vor dem Haus, stellte den Motor ab und zeigte stolz auf die Behausung.

»Das ist sie«, erklärte er. »Meine Jagdhütte. Mein Refugium. Ist es nicht bezaubernd?«

Aimée versuchte verzweifelt, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Sie wollte ihren enthusiastischen Verlobten nicht enttäuschen. Allerdings wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte ein nobles Jagdschlösschen erwartet, das über jeden Komfort verfügte. Keine Blockhütte mit geschnitzten Herzen in den Fensterläden. Keinen Bretterverhau ohne beflissenes Dienstpersonal. Keine hölzerne Behausung mit einem roten Tongockel auf dem Kamin. Charles sprang aus dem Wagen, baute sich vor der Hütte auf und streckte die Arme aus.

»Willkommen, Aimée.«

Langsam stieg seine Verlobte aus dem Wagen und lief lächelnd auf ihn zu. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Er umarmte sie mit einem strahlenden Lächeln und küsste sie auf den Mund. Seine haselnussbraunen Augen blitzten.

»Gefällt es dir hier?« fragte er.

»Ja, Charles. Es ist wirklich schön hier. So still und … grün.«

»Genau so ist es. Und es ist ein Liebesnest. Wir werden viel Spaß haben.«

»Ja, bestimmt. Gibt es hier Strom, Charles?«

»Natürlich gibt es Strom. Ich habe extra eine Leitung legen lassen. Ins Internet kann man auch.«

Er zog einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und sperrte die Eingangstür auf.

»Sieh dich schon mal um. Ich hole unser Gepäck aus dem Wagen.«

Voller Elan machte er sich an die Arbeit. Aimée stand unschlüssig auf der hölzernen überdachten Veranda und musste achtgeben, dass keiner ihrer hohen Absätze in einem Dielenspalt versank. Sie roch nicht den erdigen Duft des Waldes, sie hörte nicht den fröhlichen Gesang eines Pirols und sie nahm die Schönheit der Landschaft nicht wahr. Missmutig verscheuchte sie eine aufdringliche Biene und musterte ihren Verlobten, der gerade ihren überdimensionalen Koffer aus dem Laderaum hievte. Munter rief er ihr die Frage zu, ob sie plane, vier Wochen zu bleiben. Gott bewahre. Charles war einen Kopf kleiner als sie. Über dem Jeansbund wölbte sich ein dicker Bauch. Die enge Hose betonte seine o-förmigen Beine. Aus dem Sporthemdausschnitt kräuselten sich weiße borstige Brusthaare. Sein Gesicht war rund und von Lachfältchen durchzogen. Er hatte eine Knollennase wie ein Gnom. Die beginnende Glatze glänzte vom Schweiß. Am liebsten mochte sie seine lustigen warmen Augen. Sie hatten sich vor zwei Monaten an dem Crêpesstand kennengelernt, wo sie als Verkäuferin angestellt gewesen war. Sie hatte ihren Job gehasst. Die eintönige, schlecht bezahlte Arbeit war ihr zuwider gewesen. Dann war er plötzlich aufgetaucht. Am meisten hatten sein charmantes, unaufdringliches Werben und sein Humor sie beeindruckt. Und vor allem seine Großzügigkeit und sein offensichtlicher Reichtum. Ihr neuer Liebhaber war als erfolgreicher Unternehmer tätig und führte eine Firma, die Autoreifen herstellte.

Charles trug das Gepäck in das Jagdhaus und stellte es mitten im Salon ab. Einen Korridor gab es nicht. Das Wohnzimmer wurde von einem großen gemauerten Kamin dominiert. Auf den Holzdielen lagen bunte Läufer. Die rau verputzten weißen Wände waren mit Jagdtrophäen geschmückt. Wildschweinköpfe, die dicken Rüssel vorgeschoben, glotzten mit Glasaugen in den Raum. Hirschgeweihe prangten dazwischen. Ein ausgestopfter Fasan sah aus, als lebe er noch und würde Aimée beobachten. Es gab einen Essplatz mit grob geschreinerten Eichenmöbeln und eine Sitzecke. Sie bestand aus einem ausladenden braunen Ledersofa und zwei Sesseln. Ein halbierter Baumstamm diente als Tisch. Zwischen zwei Fenstern reichte ein Regal bis zur Decke. Darin standen aufgereiht französische Klassiker, Sachbücher über die Jagd, Reiseberichte und Kriminalromane. Bildbände, Landkarten und Yachtbroschüren stapelten sich auf den Buchreihen. Einen Fernseher konnte Aimée nirgends entdecken. Sie hoffte, dass wenigstens ein Apparat im Schlafzimmer stand.

»Es gibt in der Hütte noch zwei Schlafzimmer, eine kleine Küche und ein Bad«, erklärte Charles eifrig. »Im Anbau befindet sich die Waschküche. Dort wird auch das erlegte Wild ausgenommen. Ich zeige ihn dir später. Schauen wir doch mal, ob Beatrice für unser leibliches Wohl gesorgt hat.«

Beatrice war seine erste Ehefrau gewesen und genauso alt wie er. Sechzig Jahre. Sie wohnte nicht weit vom Jagdhaus entfernt in einem kleinen Schloss auf den Klippen. Mit unbeirrbarer Fürsorge kümmerte sie sich darum, dass der Kühlschrank und die Vorratskammer gut gefüllt waren, wenn Charles sich ankündigte.

Er öffnete den Kühlschrank und spähte hinein.

»Frische Goldbrassen, Steaks, Salat, verschiedene...