Der Wind war es (eBook)

von: Nata?a Dragni?

ars vivendi, 2016

ISBN: 9783869136967 , 216 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Der Wind war es (eBook)


 

 

1.

»Wahnsinn!«

Zu sechst standen sie auf dem Felsplateau, hinter ihnen der alte VW-Kombi, vor ihnen der Abgrund, der in einem endlosen, für das Auge fast unerträglich silbrig-, beinahe platinglitzernden Blau endete. Die frische Luft, der Nordwind im Rücken, das stechende Licht in den Augen ließen sie alle sprachlos. Minuten vergingen, Minuten, getarnt als Stunden. Viel gab es nicht zu sehen: eine größere Bucht, an deren beiden Spitzen jeweils ein Haus stand, ein Haus wie ein Leuchtturm. Oberhalb der Bucht weitere Häuser, eher Hütten aus Stein oder lediglich mit Steinplatten bedeckt. Darüber Weinberge an den steilen Hängen. Auf der rechten Seite unzählige kleinere Becken, mehr oder weniger tief, mehr oder weniger felsig, dazwischen größere und kleinere Kiesstrände, alles menschenleer und verlassen. Ein paar durch die Luft segelnde, lautlose Möwen auf der Suche, der Sonne entgegen. Auf der linken Seite ein Hügel, der alles verdeckte, was dahinter lag. Nichts war zu hören außer dem Brausen der Wellen und dem Pfeifen des Windes. Und dann, als hätten sie sich abgesprochen, als hätten sie wieder angefangen zu atmen:

»Ich liebe diesen ersten Anblick, den ersten Eindruck …«

»Wisst ihr, wie der Originaltitel von Jane Austens Stolz und Vorurteil war? First Impression

»Ich bin so aufgeregt!«

»Ich hab noch nie so was gesehen!«

»Es ist kälter, als ich dachte …«

»Ich hab Hunger, ihr nicht?«

»Ich hab das Gefühl, ich könnte fliegen.«

»Wieso ist alles so gelb?«

»Das wird ganz toll hier, ich sage es euch, Leute.«

»Das ist Ginster, ich liebe Ginster.«

»Als könnte ich fliegen, wirklich fliegen …«

»Ich rieche Abenteuer, große Abenteuer, boys and girls!«

»Da links, hinter dem Hügel, liegt Bol mit dem berühmten Strand am Goldenen Horn, der sich mit der Strömung bewegt, kann man auf jeder kroatischen Ansichtskarte sehen.«

»Aber wir sind nicht zum Vergnügen hier, ist klar.«

»Da will ich unbedingt hin!«

»Alles ist möglich, spürt ihr das auch? Das Gesetz der Wildnis …«

»Wir wollen ja unser Stück vorbereiten, denkt dran!«

»So stelle ich mir das Leben nach dem Tod vor.«

Alle drehten sich zu Katrin um, sahen sie an, als hätten sie sie nie gesehen oder als hätten sie vergessen, dass sie dabei war. Ihr langes blondes Haar flog um ihr Gesicht wie ein Schleier, verdeckte ihre bebrillten Augen.

»Das ist nur die frische Luft und das Meer und die Sonne. Wenn man aus dem Grau des hohen Nordens kommt … Lasst uns weiterfahren, den besten Teil haben wir noch vor uns«, sagte Barbara und schritt entschlossen Richtung Kombi. Obwohl sie nicht zu der Theatergruppe gehörte – sie war weder eine Schauspielerin noch die Regisseurin noch die Autorin des Stückes –, fühlte sie sich für das ganze Unternehmen verantwortlich, da das Haus ihrer Tante der Ort war, wo die kleine Theaterwahlfamilie in den kommenden Maiwochen das neue Stück von Stefan, ihrem Freund, auf die Beine stellen wollte.

Unwillig, sich von diesem Ausblick loszureißen, und durcheinander redend folgten ihr alle. Anton, der Regisseur, setzte sich hinters Steuer und Barbara neben ihn, um ihm den Weg zu zeigen. Man nannte die beiden »the croatian connection«, weil Antons Eltern aus Split stammten und er selbst auch dort geboren war, erst mit sechs Jahren war er nach Deutschland gekommen; und weil Barbaras Tante Julia, eine echte Münchnerin, einen Kroaten geheiratet hatte, zu ihm auf die Südseite der Insel Brac ˇ gezogen war, in dieses winzige Dorf, das nicht einmal einen Lebensmittelladen oder einen Kirchturm vorweisen konnte, und dort blieb, auch nachdem er vor einigen Jahren zu unerwartet, zu jung, zu lebendig, zu gesund an einem Herzinfarkt gestorben war. Nach einem Jahr Schockzustand hatte Julia, verliebt in diesen Ort, ein Traumhäuschen aus Stein – drei Zimmer, fünf Betten – unter dem ihren bauen lassen, auf einem Felsen direkt am Meer, auf der Westspitze der großen Bucht, und vermietete es von Juni bis Oktober.

»Vorsicht!«, schrie Barbara, als ein großer Stein mitten im Weg erschien. Die enge, steil abfallende Straße war nicht asphaltiert und durch wuchernde Ginsterbüsche unübersichtlich. Anton bremste, alle flogen aus den Sitzen. »Soll ich fahren?«, fragte Barbara.

Anton würdigte sie keiner Antwort.

»Und was passiert, wenn uns jemand entgegenkommt?«, fragte Michael, Germanistikstudent und einer der Schauspieler in Stefans Stück.

»Wir sollten alle beten, dass das nicht passiert«, sagte Barbara und meinte es auch so.

Anton schimpfte vor sich hin, seine Gesichtszüge angespannt, seine Hände verschwitzt und am Lenkrad verkrampft. »Ich brauche eine Zigarette«, sagte er leise. »Gibt es denn keinen andern Weg?«

»Aber klar doch, eine vierspurige Autobahn, aber ich wollte euch ein wenig Abenteuer bieten.« Barbara drehte sich um und lächelte die nervösen Gesichter im hinteren Teil des Kombis affektiert an.

»Schau besser nach vorne!«

»Sollen wir aussteigen und runterlaufen?«

»Könnt ihr machen, aber der Kombi muss trotzdem runter, das Gepäck auch«, meinte Barbara.

»Das ist keine Straße, das ist nichts als Löcher und Steine!«, regte Anton sich auf.

»Und es ist steil, Leute, sehr steil«, fügte Stefan hinzu und schaute aus dem Fenster. »Man sieht die Küste gar nicht, man landet direkt im Meer.«

Katrin schloss fest die Augen und umklammerte Stefans Arm. Ihre Lippen bewegten sich fast unmerklich.

»Hast du Angst, Katrinchen?«, scherzte der Autor und zog an Katrins Haaren.

»Lass das«, flüsterte sie.

»Wie alt seid ihr denn?«, empörte sich Barbara und bedachte ihren Freund mit einem bösen Blick.

»Seid doch alle still, Anton muss sich konzentrieren!«, schrie plötzlich Lisa, Medizinstudentin und die zweite Schauspielerin. Alle sahen sie ­erstaunt an, denn Lisa, die Jüngste unter ihnen, war für ihre Schweigsamkeit und Zurückhaltung berühmt und berüchtigt.

»Wenn du auch Angst hast, Hase, kannst du meine andere Hand halten, Katrin wird sicher nichts dagegen haben«, bot Stefan an.

»Aber ich vielleicht«, beeilte Barbara sich zu sagen.

»In solchen lebensgefährlichen Situationen ist Eifersucht völlig fehl am Platz, meine Liebe.« Dass Blicke ohrfeigen konnten, machte Stefan deutlich, indem er sich an die Wange fasste. »Autsch! Das hat aber wehgetan!«

Barbara hatte sich umgedreht, sie war wieder bei Anton, unterstützte ihn, wo es Sinn und wo es keinen Sinn machte. So schafften sie ein paar Kurven, als das Vorderrad plötzlich wegrutschte. Anton bremste hart, der Wagen blieb am äußersten Rand vor dem Abgrund stehen. Lisa, die am Fenster saß, schrie auf, legte aber gleich eine Hand auf den Mund. Ka­trin ließ die Augen lieber zu, ihre Brille rutschte zur Nasenspitze. Michael fasste sich an den Kopf, und hätte er keine Glatze gehabt, hätte man denken können, er wolle sich die Haare ausreißen. Stefan beugte sich zu Lisa hinüber, wollte sehen, was zu sehen war, und man hörte Steine den Hang hinunterrollen. Stefan schnellte zurück.

»Keiner bewegt sich«, sagte Anton leise, vollkommen ruhig. »Ich brauche eine Zigarette, verdammt.« Er zog die Handbremse an. »In keinem Stück von Shakespeare wird geraucht«, flüsterte Stefan in Katrins Ohr, alle hörten es, aber erstaunlicherweise erwiderte keiner etwas. Es wurde so still, dass man die Windböen deutlich hören konnte. Dann fiel aus dem Nichts ein Vogel auf die Motorhaube, blieb dort unbeweglich liegen. Alle schrien auf. »Ruhe! Genug jetzt!« Antons Gelassenheit war verflogen, tot wie der Vogel vor ihnen.

»Das ist kein gutes Zeichen, oder?«, murmelte Michael, vor sich starrend. Niemand antwortete. Nur flaches Atmen war zu hören.

So saßen sie. Bis Michael sagte: »Was für eine Scheißidee.«

»Eine langsame Höllenfahrt, würde ich sagen.« Stefan behielt sein tückisches Lächeln bei.

»Ich will nicht sterben«, flüsterte Katrin.

»Niemand wird hier sterben!«, schrie Barbara und schlug gegen die Tür. Wieder hörte man Steine hinunterrollen.

»Bist du wahnsinnig?!«, kam es aus mehreren Mündern.

»Im Jahr 1500 verbot Queen Elizabeth I. das Schlagen von Frauen nach zehn Uhr abends … wie spät ist es jetzt?«

Barbara sah Stefan nicht einmal an.

»Der Tag ist zum Sterben zu schön«, meinte Anton und stieg sehr langsam und sehr vorsichtig aus.

Sofort biss ihm der Wind ins Gesicht. Er duckte sich, drehte sich hin und her, um ihm zu entwischen: seine große, magere Gestalt wie ein Spielzeug. Er ging um den Kombi herum und untersuchte die Lage, dann schaute er zu den angespannten Gesichtern hinter den Scheiben. Daumen hoch, es sah nicht so schlecht aus. Er bedeutete ihnen, sie sollten langsam aussteigen. Katrin und Michael jammerten: der Wind, der Wind, der scharfzahnige Wind! Der plötzlich den leblosen Vogel erfasste und mitnahm, einige Male artistisch durch die Luft wirbelte, um ihn schließlich wieder fallen zu lassen, in das Gebüsch am Straßenrand. Alle sahen gebannt zu.

»Wahnsinn.«

»Ich dachte, hier wäre schon Sommer«, sagte Lisa, hinter Stefans breiten Schultern Schutz suchend.

»Wieso das denn! Es ist erst Anfang Mai, da muss man mit allem rechnen«, erklärte Barbara irritiert.

»Hier werden nicht mal die Toten in Ruhe gelassen. Was für eine gottlose Gegend!«, sagte Michael...