Der zweite Tod des stummen Zeugen - Vichi, Der zweite Tod des stummen Zeugen . Commissario Casinis dritter Fa

von: Marco Vichi

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732525744 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 5,99 EUR

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Der zweite Tod des stummen Zeugen - Vichi, Der zweite Tod des stummen Zeugen . Commissario Casinis dritter Fa


 

17. Dezember


Ein Wucherer?«, sagte Baragli und öffnete gerade mal die Augen ein wenig. Obwohl es früh am Morgen war, wirkte er sehr geschafft.

»Er wohnte bei mir in der Nachbarschaft«, bestätigte Casini.

»Commissario, wer Wind sät …«, sagte Baragli und hob die Schultern nur so hoch wie unbedingt nötig. Casini nickte zustimmend.

»Das habe ich dir mitgebracht«, sagte Casini und zog ein Buch aus der Tasche.

»Danke, Commissario.« Baragli nahm das Buch, dabei zitterte seine Hand. Er betrachtete den Buchdeckel: E. A. Poe: Erzählungen.

»Das sind Erzählungen über rätselhafte Ereignisse«, erklärte Casini.

»Genau so etwas brauche ich. Legen Sie es bitte dort für mich ab?« Der Kommissar legte das Buch auf den Nachttisch. Baragli hatte noch mehr Gewicht verloren, unter der Gesichtshaut zeichneten sich deutlich die Konturen seines Schädels ab. Eine Krankenschwester kam herein und gab Baragli ein paar Pillen in die Hand. Eine sehr schöne, lebensprühende Frau, so um die 30, mit dunklen Haaren.

»Wie geht es uns heute, Oreste?«, fragte sie ihn und reichte ihm ein Glas Wasser.

»Wenn ich Sie sehe, geht es mir viel besser«, sagte er lächelnd.

»Also dann komme ich heute Nacht und schlafe in Ihrem Bett.«

»Wollen Sie, dass ich mich an den Tabletten verschlucke?«, sagte der Brigadiere, der sie schon im Mund hatte. Die Krankenschwester lachte und wechselte einen Blick mit Casini. Dann verließ sie summend das Zimmer.

»Hübsch«, meinte Casini.

»So sollten alle Krankenschwestern sein.«

»Da hast du Recht.«

»Mit einer Schere, sagten Sie?«, fragte der Brigadiere.

»Ja, da in den Hals«, antwortete Casini und berührte den Halsansatz mit einem Finger. Er begann zu erzählen, wie er Badalamentis Versteck gefunden hatte, erzählte Baragli von den Wechseln, von den ergaunerten Verträgen und von der Frau, die erpresst wurde. Der Brigadiere verfolgte die Erzählung des Kommissars mit lebhaftem Interesse. In seinen Augen konnte man sehen, wie sehr er sich nach seinem Beruf zurücksehnte.

»Es wird wohl einer seiner Schuldner gewesen sein«, flüsterte Baragli mit einem Pfeifen in der Stimme.

»Ja, mit denen werde ich auch anfangen.«

»Wenn es so viele sind, ist das ziemlich unangenehm.«

»Ich werde versuchen, geduldig zu sein.«

»Was meint denn Dottor Diotivede?«, fragte Baragli.

»Er ist noch nicht fertig, aber er hat mir schon alles erzählt.«

»Das weiß man nie …«

»In einem Versteck auf der Rückseite eines Bilderrahmens habe ich auch einige Fotos von einem sehr jungen Mädchen gefunden. Ich lasse sie jetzt suchen«, sagte Casini. Der Brigadiere drehte sich langsam zum Fenster und schaute einige Zeit schweigend hinaus. Das Wetter war immer noch schlecht. Ab und zu fielen ein paar Tropfen, aber es regnete noch nicht richtig. Casini beobachtete den Brigadiere und dachte an die vielen Jahre, die sie gemeinsam im Dienst in der Via Zara verbracht hatten – ihm kam es vor, als wäre es erst gestern gewesen.

»Lust auf ein Spielchen, Commissario?«, fragte Baragli und versuchte, sich ein wenig aufzurichten.

»Warum nicht?« Casini nahm die Karten aus der Schublade und sie begannen zu spielen. Baragli wirkte sehr schwach. Er brauchte viel Zeit, um eine Karte auszuwählen, dann ließ er sie auf die Bettdecke fallen. Jeden Augenblick verzog er schmerzerfüllt das Gesicht und fasste sich an den Magen. Kurz darauf betrat der Chirurg, der Baragli operiert hatte, das Zimmer, gefolgt von zwei ausgesprochen jungen Assistenzärzten.

»Wie fühlen Sie sich, Brigadiere?«, fragte der Arzt und las dabei in dessen Krankenblatt. Er war klein und hatte die Ausstrahlung eines finsteren Revolverhelden.

»Ich bekomme keine Luft, Dottore, und diese stechenden Schmerzen«, erklärte Baragli und fasste sich an den Magen.

»Das ist ganz normal nach einer Operation.«

»Jeden Tag wird es schlimmer …«

»Nach einiger Zeit wird das vorübergehen«, sagte der Chirurg. Die beiden Assistenzärzte schauten einander an. Baragli bemerkte es, tat aber, als ob nichts wäre. Casini sah alles und sein Herz zog sich vor Qual zusammen. Der Arzt schrieb etwas auf das Krankenblatt, verabschiedete sich und ging, um mit anderen Kranken zu sprechen. Die beiden Assistenzärzte folgten ihm.

»Er erzählt mir nicht die Wahrheit«, sagte Baragli leise mit einem Seufzer.

»Wer ist dran?«, fragte Casini. Sie spielten weiter, aber Casini behielt dabei den Arzt im Auge. Sobald er sah, dass der das Zimmer verließ, sagte er zu Baragli, er müsse zur Toilette, folgte dem Chirurgen und holte ihn am anderen Ende des Flurs ein.

»Entschuldigen Sie, Dottore, ich bin Commissario Casini, ein Kollege von Brigadiere Baragli.« Der Chirurg gab ihm die Hand.

»Angenehm. Ich heiße Cataliotti.«

»Dottore, wie geht es Baragli? Sagen Sie mir die Wahrheit!«

»Leider hat er nicht mehr lange.«

»Ist das sicher?«

»Ich fürchte, ja.«

»Wie lange?«

»Schwer zu sagen. Vielleicht ein paar Wochen, vielleicht auch weniger. Das kann niemand genau sagen«, erklärte er und breitete die Arme aus. Casini seufzte und fuhr sich mit der Hand über den Kopf.

»Danke, Dottore.«

»Nichts zu danken.« Sie gaben einander wieder die Hand und der Chirurg ging. Casini blieb im Flur vor einem großen Fenster stehen, um eine Zigarette zu rauchen. Es begann zu nieseln und ein sanfter Wind bewegte die Baumwipfel. In den schmalen Alleen sah man ein paar geöffnete Regenschirme.

Casini drückte die Zigarettenkippe in einem großen, dreibeinigen Aschenbecher aus und ging zu Baragli zurück. Als er kam, war der eingeschlafen und Casini war froh darüber. Wäre Baragli wach gewesen, hätte er bestimmt in Casinis Gesicht lesen können, was der gerade erfahren hatte.

Er legte die Karten zusammen, glättete das Kissen unter dem Kopf des Brigadiere und löschte das Licht auf dem Nachttisch. Casini schaute verstohlen auf das Krankenblatt und las, was der Arzt dort vermerkt hatte: Morphium. Auf dem Weg hinaus traf er die schöne Krankenschwester mit den dunklen Haaren und sie lächelten einander zu.

»Sagen Sie mir, Dottor Casini, was kann ich noch für Sie tun?«, fragte Richter Ginzillo seufzend.

»Was zum Teufel heißt hier noch?«, dachte Casini, aber er sprach es nicht aus. Auf Ginzillos Lippen lag ein kaltes Lächeln, er wirkte ein wenig angespannt. Seine wie Kletterpflanzen ineinander verschlungenen Hände hatte er auf dem Schreibtisch abgestützt. Sein Rattengesicht schaute Casini an. Der Kommissar saß vor ihm, er hatte sich nicht einmal den Regenmantel ausgezogen, deshalb schwitzte er leicht. In diesem Zimmer war es immer zu heiß, noch schlimmer als im Präsidium.

»Nichts Besonderes, Dottor Ginzillo. Als ich heute Morgen wach wurde, hatte ich einfach das große Bedürfnis, zu Ihnen zu kommen und mich zu bedanken«, sagte Casini. Ginzillo spürte den ironischen Unterton und zog beim Einatmen die Nasenflügel fest zusammen.

»Wofür denn?«, fragte er und stellte sich ahnungslos.

»Erinnern Sie sich an den Durchsuchungsbefehl, den ich im Februar von Ihnen haben wollte?«

»Worum ging es?« Casini hielt sich zurück. Am liebsten hätte er Ginzillo ins Gesicht gesagt, dass er ein Heuchler und ein Schlappschwanz war.

»Ach, Sie erinnern sich nicht daran?«, sagte er nur, dabei konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Ich kann mich schließlich nicht an alles erinnern«, erklärte Ginzillo und drückte sich die Brille auf die Nase.

»Entschuldigen Sie, Sie haben natürlich Recht. Darf ich Sie dann erinnern?«

»Nur zu.«

»Ich war bei Ihnen, weil ich von Ihnen einen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung eines gewissen Totuccio Badalamenti haben wollte, eines verdammten Scheißkerls von Wucherer«, sagte Casini ganz ruhig. Ginzillo breitete die Arme aus.

»Warum müssen Sie sich immer so vulgär ausdrücken, Commissario?«

»War ich vulgär? Entschuldigen Sie, das habe ich gar nicht bemerkt.«

»Fahren Sie fort«, meinte Ginzillo seufzend und tupfte sich eine Schweißperle vom Kinn.

»Ich wollte Sie darauf hinweisen, dass ich nach Badalamentis Tod keinen Durchsuchungsbefehl mehr brauche … und das ist ein großer Vorteil für die Behörde, meinen Sie nicht?«, sagte Casini. Der Richter nickte unmerklich und lächelte misstrauisch. Er verstand nicht, was dieser seltsame Kommissar erreichen wollte.

»Ein hässlicher Mord. Sie arbeiten an dem Fall, stimmt’s?«

»Ja, ich arbeite an dem Fall.«

»Haben Sie schon etwas herausgefunden?«

»Interessiert Sie das wirklich?«, fragte Casini und tat so, als fiele er aus allen Wolken. Ginzillo wurde nervös.

»Was soll diese Bitterkeit, Dottor Casini?«

»Das ist keine Bitterkeit, nein, ich habe Ihnen doch gesagt, ich bin hier, um mich bei Ihnen zu bedanken. Einen Kerl wie Badalamenti sehe ich lieber tot als im Gefängnis. Und wenn ich meine Meinung sagen soll, der Mörder verdiente eine Anerkennung vom Staat.«

»Passen Sie auf, was Sie sagen, Commissario, ich erinnere Sie daran, Sie stehen hier vor einem Richter.«

»In letzter Konsequenz haben Sie Badalamentis Schicksal entschieden, ja, man könnte fast sagen, Sie hätten ihn umgebracht.« Der Richter lachte hysterisch.

»Was zum Teufel reden Sie da?«, sagte er und rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum.

»Ich sage, wenn Sie diesen...