Der Irrläufer

von: Gudmund Vindland

Saga Egmont, 2016

ISBN: 9788711331910 , 342 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 12,99 EUR

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Der Irrläufer


 

Teil II


Gärende Kräfte


Die Studentenfabrik

Die Kathedralschule in Oslo gehört zu Norwegens anspruchsvollsten Institutionen. Sie hat Stil, Tradition und einen unermeßlichen historischen Stolz. Alle, denen die Ehre zuteil wird, hier als Schüler angenommen zu werden, sind moralisch verpflichtet, die Geschichte der Schule auswendig zu lernen.

Ich will dich hier aber nicht mit solchen Einzelheiten plagen. Kann ich auch nicht. Ich habe dieses unschätzbare Wissen verdrängt und weiß nicht einmal mehr, ob die Schule im elften oder siebzehnten Jahrhundert gegründet worden ist, und von wem, und warum, und so weiter. Zum Ausgleich weiß ich noch in aller Deutlichkeit, was dort gegen Ende der sechziger Jahre passiert ist. Ich kann dir auch eine gründliche Einführung geben, wie das Schulgebäude aussieht und mit welchen Mitteln versucht wird, die Würde herbeizubeschwören und festzunageln.

Wenn du zum Haupteingang hineinkommst, siehst du zuallererst den Dichter Henrik Wergeland auf seinem Sockel ruhen, mit ausgestrecktem Arm und offenem Blick. Hier ist er nicht die revolutionäre Kirchenmaus, die glücklicherweise an Auszehrung verstarb, weil das Bürgertum ihr keinen Job geben wollte. Er ist auch nicht der aufsässige Schüler, der in Wirklichkeit von der Studentenfabrik verwiesen wurde – wegen «unmoralischer Ausschweifung», oder wie die Schulobrigkeit das damals auch immer zu formulieren beliebte. O nein! Hier – in der Halle der Würde – sind alle diese traurigen Unannehmlichkeiten längst vergangen und vergessen. Hier ist Henrik Wergeland zum spirituellen Festredner erhöht – funktionell und verträglich in alle Ewigkeit. Amen. Wenn du deinen Blick vom guten alten Henrik abwendest und die Halle betrachtest, kriegst du einen Schreck. An der Decke hängt nämlich ein gigantisches tonnenschweres Engelwesen, das wird nicht heimlich runterfallen. Das ist künstlerische Ausschmückung. Ein echtes Goldstück!

An den Treppen hängen die Apostel der Würde. In Gold und Marmor. Die Namen aller Schüler, die im späteren Leben einen in den Augen der Schule lobenswerten Einsatz an den Tag legen, werden in Gold auf großen Marmortafeln verewigt. Das ist eine ungewöhnlich schöne und prächtige Sitte, sie wirkt erzieherisch und spornt jeden neuen Jahrgang zu extra großem Fleiß an: Sei fleißig und gehorsam!

Der Rest des Gebäudes besteht hauptsächlich aus düsteren Fluren und deprimierenden Klassenzimmern.

Es war kein Vergnügen, sich am ersten Schultag in dieser Umgebung zurechtfinden zu müssen. Alleine. Irgendwie war ich durch den Sommer gekommen, auch wenn ich eine Entzündung in mir hatte, die Tag und Nacht eiterte. Jetzt hatte sie angefangen, sich einzukapseln, und ich aß und bewegte und benahm mich so einigermaßen wie andere – ohne äußere Anzeichen von Schaden. Aber wer mich kannte, bemerkte die Veränderung und sah, daß ich nur noch ein Schatten meiner selbst war. Sie halfen mir, so gut sie konnten. Wenn ich meine Eltern und Harald und Frode nicht gehabt hätte, wäre ich kaputtgegangen.

Statt dessen war ich jetzt auf dem Gymnasium, zusammen mit der Crème de la crème der Osloer Wunderkinder. Das war noch, bevor die Kathedralschule ein sogenanntes «Reformgymnasium» wurde. Damals mußte man ein «Sehr gut» in den Hauptfächern haben, um auf die Eliteanstalt zu kommen. Solche Noten hatte ich tatsächlich, und ich ließ meinen Namen für die Naturwissenschaften registrieren. Ich wußte nicht, daß hier nur ein Gesetz galt: die früheren Leistungen zu übertreffen. Außer mir kamen noch drei Neue in eine Klasse, die seit der Realschule unverändert zusammen war. Es klappte nichts.

Gleich zu Anfang ließ uns der Mathelehrer eine Arbeit zur Auffrischung des Realschulpensums schreiben. Ich konnte plötzlich nichts. Ich bekam ein «Ungenügend». Das war der Anfang, und von da an wurde es nur noch schlimmer. Wenn ich zuerst auch noch nicht ganz gelähmt gewesen war, so wurde ich das schnell. Alle meine konstruktiven Kräfte und Fähigkeiten verkehrten sich und wurden zu selbstzerstörerischer Angst. Daran war die Schule schuld. Sie war autoritär und leistungsfordernd. Eine Schule für Gewinner. Aber was brauchte ich? Irgendeine Stütze. Jemand, der mir half, wieder an mich selbst zu glauben. Ich wagte nicht, irgend jemanden um Hilfe zu bitten – und es kam auch keiner und bot sich von selber an. Alle hatten wohl mit sich genug zu tun. Die Basis des ganzen Systems war ausschließlich das Recht der Stärkeren.

Das Schlimmste an der Kathedralschule waren die Turnstunden. Aber zieh jetzt keine voreiligen Schlüsse. Das hatte nichts mit Homosexualität zu tun. Ich hatte Angst vor dem Turnlehrer. Er war siebzig Jahre alt, pensionierter Oberst, und ich taufte ihn heimlich Haifisch. Der Mann bekam die grausamsten Tobsuchtsanfälle, einfach nur, weil ein Schuh schief unter der Bank im Umkleideraum stand oder weil der Fußboden von unseren Winterstiefeln naß geworden war. Er hatte einen krummen Rücken, aber er war kräftig und hatte einen boshaften, forschenden Blick.

In der ersten Turnstunde mußten wir Neuen nacheinander zeigen, was wir konnten. Er stand mit gekreuzten Armen an der Leiterwand und befahl uns, allerlei Freiübungen zu machen. Das Problem war nur, daß der Haifisch so komisch sprach, er war kaum zu verstehen, wenn er nicht brüllte. Er kommunizierte mit Hilfe eines gurgelnden Baritons mit einem unbeschreiblichen Raschellaut: «Hier wollen wir Rrespekt, Rruhe und Orrdnung, Jungss!» Diese Worte wurden aus einer Kehle herausgepreßt, in der die Stimmbänder nach jahrelangem Einsatz im königlich norwegischen Heer schon ziemlich verschlissen waren. Der erste in der Gefechtslinie kam einigermaßen zurecht. Dann war ich an der Reihe. Ich war lahm und schwitzte.

«Früewei wamrrbruabuiümgürrr!»

«Ah ... Hä?»

«Werd nicht frrech, Junge!» Er kam zu mir herüber.

«Liegestütz!» rief mir ein wohlmeinender Dolmetscher zu.

«Rruhe da hinten!»

Mir wurde eine Zurechtweisung streng militärischen Charakters zuteil. Der Mann stand zwanzig Zentimeter von mir weg und schrie mir Flüche und Befehle ins Gesicht – und noch Tage später hatte ich nach hinten gewehte Haare und Sommersprossen davon.

Der Haifisch war gefürchtet und verhaßt. Er machte die Turnstunden für die meisten zu einer Prüfung – eine harte Belastung für Laune und Nerven. Aber auf der Kathedralschule war natürlich die Mehrzahl der Schüler stark genug, um ihn sich vom Leib zu halten und sich von diesem Terror nicht überwältigen zu lassen.

In der Schule wurden viele Geschichten über ihn erzählt. Mit rohem Lachen konnte man viel abreagieren. Aber bei vielen richtete Oberst Haifisch wirklich Schaden an. Nicht nur ich hatte vor jeder Turnstunde Magenkrämpfe und Brechreiz. Mir graute so vor ihm, daß mir schlecht wurde.

Gegen Weihnachten bekam er einmal aus irgendeinem nichtigen Grund einen wahnsinnigen Tobsuchtsanfall und kommandierte: «Aufgestellt, Jungsss! Ihr vier montierrt die Kommandobrrrücke!»

Er zeigte auf uns vier Neue. Wir hatten noch nie von der Kommandobrücke gehört, aber die entpuppte sich bald als eine enorme demontierte Holzkonstruktion – eine fast zwei Meter hohe Plattform, die von Böcken und Bolzen zusammengehalten werden sollte. Es zeigte sich auch, daß der Haifisch jedes Jahr mit seinen neuen Schülern einen gründlichen Einführungskurs im Aufbauen der Kommandobrücke veranstaltete. Die Tatsache, daß wir vier neu waren und diese Einführung also nicht mitgemacht hatten, schien nur ein Argument zu unseren Ungunsten zu sein. Gott, wie wir uns abmühten und wie wir angemacht wurden. Wenn sich nicht einer der anderen Jungen, die die edle Kunst beherrschten, eingemischt hätte, wäre es uns nie gelungen, diese Sehenswürdigkeit zusammenzukriegen.

Aber schließlich stand sie aus unerfindlichen Gründen doch, und der Haifisch enterte in wilder Raserei die Bühne und kommandierte: «Aufstellung zur Gymnastik, Jungsss!»

Dann schliff er uns so hart wie möglich, bis zur Unendlichkeit. Er war selber auch sehr aktiv da oben, mit allerlei Drehungen und Beugungen. Die Kommandobrücke jammerte und bewegte sich mit immer stärkerem Schlingern, und er merkte nichts, bis es einen schmetternden Krach gab und Bolzen und Stangen und Planken und der Oberkommandant in Zeitlupe durcheinanderfielen – bevor das Ganze zur Ruhe kam. Aber die Garde ergab sich nicht! In der Ambulanz wurde er schnell genäht und war am nächsten Tag schon wieder zur Stelle – noch eifriger als je zuvor. Die Beliebtheit der Kommandobrücke sank. Sicher fristet sie noch heute ein havariertes Dasein in einem der finsteren Kellergewölbe der Schule.

Aber die Angst vor dem Haifisch war ja noch nicht alles. Ich fing auch an, mich vor den anderen Lehrern zu fürchten. Ich hatte Angst davor, gefragt zu werden. Das hing vor allem mit dem autoritären System und mit den seit den Tagen der Lateinschulen in Ehren gehaltenen Traditionen zusammen. Die meisten Lehrer waren über fünfzig und äußerst konservativ – um es nett zu sagen. Sie redeten uns nur mit Nachnamen an, und es kam nur selten vor, daß sie uns duzten. Sie verbanden sicher viele edle Absichten damit, aber man kann nicht behaupten, daß sie damit die Klassenschranken aufgehoben hätten. Andererseits kann niemand unterstellen, diese Lehrer hätten ihr bürgerliches Gleichheitsideal nicht hochgehalten! Wir – die Arbeiterkinder – waren doch trotz allem in die ehrwürdigste Lehranstalt des Landes aufgenommen worden, oder etwa nicht? Doch. Waren wir. Aber ich habe mich oft gefragt, wem eigentlich die Ehre gebührte: der Schule, die die Aufnahmeansprüche entwickelt hatte, oder den Schülern, die sich zu einem maximalen...