Der Sekretär - Schicksal einer jüdischen Familie aus Aachen in der NS-Zeit

von: Helmut Clahsen

Helios Verlag, 2015

ISBN: 9783869330099 , 201 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 6,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Der Sekretär - Schicksal einer jüdischen Familie aus Aachen in der NS-Zeit


 

Esther murmelte: „Schau sie dir an. Das sind sie also, die Hartog. Achtzehn Menschen. Drei Generationen. Ich kann nicht glauben, dass keiner von ihnen überlebt haben soll.“

Markus studierte die Gesichter der Menschen durch die Lupe. „Vielleicht hat ja jemand überlebt oder ist rechtzeitig ausgewandert?“

„Wirst du wirklich nach diesen Menschen forschen?“

Sie hatte gefragt. Aber in ihren Augen las Markus die dringende Bitte, es auch wirklich zu tun. „Ja“, antwortete er ernst und bestimmt. Er nahm ihre Hand, die noch das Familienfoto hielt und lächelte sie an. „Ich habe meinen Wunschsekretär gefunden. Ich bilde mir ein, ich habe ihn finden müssen. Das Ganze ist schon sehr, sehr mysteriös. Du weißt, dass ich schon seit Jahren danach gesucht habe. Andere, ähnliche Möbel dieser Art hätten wir längst erwerben können. Schönere, wertvollere haben wir uns gemeinsam in Antiquitätshäusern und auf Flohmärkten angesehen. Du erinnerst dich an unsere Studienzeit in Köln, als wir uns gerade kennengelernt hatten und Antquitätenausstellungen besuchten?“

Sie lächelte. „Ich kann mich noch an dein enttäuschtes Gesicht erinnern, als dir jemand genau so einen Sekretär, wie du ihn jetzt hast, vor der Nase weggeschnappt hatte. Ein sehr gut erhaltenes Stück und sehr teuer. Viel zu wertvoll für eine Studentenbude, in der ohnehin kaum noch Platz für solch ein Möbel gewesen wäre.“ Sie lachte ihn an. „Damals habe ich dich für spinnert gehalten. Armer Student mit stolzem Namen will in teuren Möbeln wohnen, dachte ich.“

„Davon hast du mir aber nie etwas gesagt. Obwohl wir ja recht oft solche Ausstellungen besucht haben. Ich hatte mich nun mal genau in dieses Baumodell verguckt. So einen Sekretär wollte ich haben und keinen anderen.“ Er machte eine kleine Pause und schaute sie plötzlich sehr neugierig an. „Was meintest du eigentlich, als du ‚mit stolzem Namen‘ sagtest?“

„Ach, mein Schatz. Du weißt doch wohl noch, dass die ältere Dame, bei der du gemietet hattest, dich immer nur mit ‚Herr von Waldeck‘ anredete. Du hast das ‚von‘ nie dementiert.“ Sie lachte jetzt herzhaft. „Du müsstest dein Gesicht sehen können. Du siehst aus, wie ein Pennäler, der beim Mogeln ertappt worden ist.“

„Niemals habe ich mich von Waldeck genannt“, entgegnete er, und in seinem Gesicht zeigte sich Röte.

„Stimmt, mein Schatz.“ Esther streichelte mit beiden Händen seine Wangen, brachte ihr Gesicht an seins und, während sie ihre Nase an seiner rieb, raunte sie leise: „Ich habe das damals für Tiefstapelei gehalten und glaubte eben dieser älteren Dame, die sehr stolz darauf zu sein schien, einen ‚von Waldeck‘ zu beherbergen.“

„Vermutlich hat sie mich auch für einen tiefstapelnden ‚von Waldeck‘ gehalten? Von mir hatte sie das jedenfalls nicht.“ Er sah sich noch einmal die Fotos an, steckte sie in den Briefumschlag zurück und schaute Esther in die schönen, fast schwarzen, mandelförmigen Augen, in die er sich vom ersten Augenblick an unsterblich verliebt hatte.

Sie schaute hinüber zu dem Haus in der Försterstraße. „Glaubst du, dieser Sekretär birgt noch mehr Geheimnisse?“, fragte sie mit leiser Stimme.

„Du kannst dich darauf verlassen; ich werde ihn gründlich untersuchen, bevor ich ihn wieder herrichte und er seinen Platz in unserer Wohnung finden wird.“

Er nahm den nächsten Brief, der auch an Emil Hartog in München gerichtet war. Die Handschrift fiel ihm auf. Sie war schwungvoller, wirkte lebhafter. Er schaute auf den Absender. R. Scha…, alles andere war unlesbar verwischt. Auch seine Lupe brachte keine Aufklärung. Name und Absendeadresse waren nicht zu entziffern. Der Poststempel war vom Juni 1932

Mein lieber, lieber Emil,

Nun bist Du der Einzige aus unserer Familie, der noch unbeweibt dasteht. Ist das nicht ein Angst machender Ausdruck? Er stammt nicht von mir. Mama, die Dich gerne standesgemäß ‚beweiben‘ würde, hat sich so zu Gustav geäußert. Sie hat Angst, daß Du womöglich auch eine Ungläubige heiraten könntest und dadurch doppelte Trauer in unserer Familie auslösen würdest.

Emil, ich kann nicht begreifen, was so furchtbar daran ist. So furchtbar, daß sie alle Spiegel im Haus verhängen und die Menschen verstoßen, die sie doch bis da hin geliebt zu haben vorgeben. Ihr eigenes Fleisch und Blut verstoßen sie. Warum?

Ich lasse mir kein schlechtes Gewissen machen durch diesen religiösen Unsinn. Nichts anderes als Unsinn ist es letztendlich. Zu allen Zeiten haben jüdische Männer sich Gespielinnen auch aus anderen Religionen ins Haus geholt. Haben Frauen aus anderen Religionen geheiratet. Die Empörung darüber war kaum wahrnehmbar. Verliebt sich aber eine jüdische Frau in einen Goj und heiratet ihn, machen alle ein Geschrei, als ob das Ende der Zeiten angebrochen sei. Alles nutzloser Theaterdonner, lieber Emil. Mich stört das wenig. Du wirst sehen, sobald irgendwann ein Enkelkind da sein wird, werden die Vorurteile fallen.

Auch Julius Familie schneidet mich. Ich bin eben ‚die Jüdische‘. Vorläufig werde ich nicht konvertieren, obwohl Julius das gerne sehen würde. Nachwuchs ist noch nicht unterwegs, und Julius will sich mit der kirchlichen Hochzeit ohnehin Zeit lassen. Um seinem Geschäft nicht zu schaden, werden wir wohl irgendwann konfessionell heiraten müssen. Wir leben nun mal in einer sehr katholischen Stadt.

Im Anfang war unsere Liebe auch für seine Familie akzeptabel. Sie redeten wie Mama. Ich war ein Mädchen aus einem ‚guten jüdischen Haus‘. Der Vater, ein an gesehener ‚Jüdischer Juwelier‘. Das versprach eine ansehnliche Mitgift. Sobald sie aber begriffen hatten, daß es keine Mitgift geben würde, war ich nur noch ‚die Jüdische‘. Julius beeindruckt das ganze Gezeter unserer beiden Familien nicht. Er ist ein sehr leidenschaftlicher, temperamentvoller und liebevoller Mann. Wir sind beide sehr glücklich miteinander.

Hast Du gewusst, warum er damals - wir waren, glaube ich, neun oder zehn Jahre alt - , nicht mehr zum Spielen und Musizieren zu uns gekommen ist?

Gustav wusste es auch nicht. Mama hatte Julius und mich damals im blauen Salon beim ‚Doktorspielen‘ erwischt. Mit Papas großer Handlupe war er gerade dabei gewesen, an mir zu erforschen, was Jungen und Mädchen so unterschiedlich macht. Kannst Du Dir Mamas Entsetzen vorstellen?

Dr. Stern wurde sofort benachrichtigt. Er musste kommen und mich untersuchen. Mama nahm mir ein heiliges Versprechen ab, Julius nie, nie, nie wiederzusehen.

Viele Jahre habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ihn und unser ‚Doktorspiel‘ hatte ich längst vergessen. Im Sommer vor zwei Jahren kam er mit seiner Mutter in das Hutgeschäft, in dem ich arbeitete. Seine Mutter wollte eine ausgefallene Hutkreation angefertigt haben. Meine Chefin holte mich aus dem Atelier, um mit der Kundin zu verhandeln.

Lieber Emil. Amor hatte uns Beide mit einem einzigen Feuerpfeil erwischt. Wir standen in Flammen. Das Mama gegebene Versprechen zählte nicht mehr. Einzig die Liebe zählte. Und so soll es auch bleiben. Julius hat mir ein Atelier in seinem Modegeschäft eingerichtet, in dem ich auch weiterhin kreativ sein kann. Ich finde das großartig von ihm.

Wie Papa und Mama sich verhalten, finde ich spießig und albern. Beide habe ich, seit ich mit Julius zusammen bin, nicht mehr gesehen. Sie reden nicht mehr mit mir und lassen sich verleugnen, wenn ich sie besuchen will. Auch David redet nicht mehr mit mir. Er kommt mit Gustel ins Geschäft. Sie wollen von mir bedient werden und verbieten mir, sie mit dem Vornamen anzureden, duzen sich aber mit Julius und tun so, als wären sie nur mit ihm verwandt und nicht mit mir. Das tut weh, Emil, und ist trotzdem kindisch und lächerlich. Ich bleibe höflich. Schließlich hat das Geld, das sie bei uns ausgeben, den gleichen Wert wie das anderer Kunden. Gustel läuft mittlerweile schon mit zwei teuren Kreationen von mir Reklame und hat noch kein persönliches Wort mit mir gesprochen. Du müsstest einmal miterleben, wie ihre Blicke jedesmal, wenn sie von mir bedient wird, meinen flachen Leib abtasten. Ich sage Dir, Emil, sobald das erste Anzeichen einer guten Hoffnung sichtbar sein wird, werden sie alle ihre bornierte Sprachlosigkeit aufgeben. Gustav kommt oft auf eine Tasse Tee und eine kleine Plauderei zu uns. Rebekka macht ihm deswegen immer wieder Vorwürfe, schickt aber selber das Kindermädchen mit Lea, Jakob und Josef vorbei.

Du siehst, der Kontakt zur Familie ist keineswegs unterbrochen.

Was Mama und Papa betrifft, so kann ich davon ausgehen, daß Beide bestens unterrichtet sind und auch irgendwann wieder mit mir reden...