War Chant 1: Sieger

von: Nika S. Daveron

Amrûn Verlag, 2015

ISBN: 9783958692374 , 300 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 1,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

War Chant 1: Sieger


 

beginn

Mein Leben auf Odyssey begann wie das aller anderen, in einer Institution, die es nur auf dieser Insel gibt: der Behörde für Namen und Werdegang. Ein so unspektakulärer Name für etwas, das ein ganzes Leben bestimmt. Man geht dorthin, wenn man das sechste Lebensjahr erreicht hat; was nicht dem Tag entspricht, an dem man geboren wurde. Nein, man wird pünktlich zum Jahreswechsel ein Jahr älter.

Somit sprechen die Erwachsenen in der Regel von Jahrgängen. Wenn man also auf den Straßen hörte, dass sich eine alte Frau über den 2189er Jahrgang beschwerte, dann waren ihr die siebenjährigen Kinder ein Graus.

Ich war ein 2190er und damit alt genug, zur Behörde zu gehen, denn ich hatte den Brief erhalten, der irgendwann während des sechsten Lebensjahres ins Haus flattert. Natürlich ging ich nicht allein, sondern an der Hand meiner Mutter, die mich niemals aus den Augen ließ. Gemessen an den meisten Eltern auf Odyssey hatte meine Mutter Kinder wirklich gern und kümmerte sich um sie. Und nicht nur sie, auch mein Vater tat das. Allerdings in einem sehr beschränkten Maß, denn er war Schrotthändler. Das ist auf Odyssey wohl der anstrengendste Beruf, den es gibt.

Das, was in der Behörde geschah, war zu simpel, obwohl es unser ganzes Leben bestimmte. Dort saß ein Beamter, der uns unseren Namen und unseren Beruf gab. Mehr tat er nicht.

Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, wie es in der Behörde für Namen und Werdegang aussah: ein muffiges Blechding mit einem Kerl hinter einer Glasscheibe. Er trug die graue Uniform der Sieger und rauchte, dass mir von dem ganzen Qualm die Augen tränten.

Rauchen ist teuer, der Mann musste also sehr reich sein. Dass er noch hier saß, bedeutete, dass er wohl immer noch nicht genug Geld hatte, um sich zur Ruhe zu setzen, aber gerade genug, um sich den Luxus von Zigarren leisten zu können.

Da stand ich nun, die Hand meiner Mutter fest im Griff, den Blick zu Boden gerichtet, wie sie es mir eingeschärft hatte, und wartete. Mom schwor Stein und Bein, dass aufmüpfige Kinder gemeine Namen bekamen. Ein Mädchen von gegenüber hatte den zuständigen Beamten angeblich frech angeschaut, woraufhin er ihr den Namen Aphthae epizooticae verpasst hatte, was Maul- und Klauenseuche bedeutete. Und nicht nur das, er hatte ihr außerdem den gefährlichen Job eines Tauchers zugewiesen, sodass sie mittlerweile nur noch selten auf der Straße anzutreffen war. Ihre Tage verbrachte sie nun in der Taucherschule, was sich vielleicht nett anhört, aber in Wirklichkeit harter Drill ist. Wir Kinder nannten sie Apha, weil wir Mitleid hatten.

Schon als Kind fand ich es merkwürdig, dass eine Krankheit als Name zugelassen und dann noch in diesem riesigen Buch verzeichnet war. Wie sollte denn so jemanden ein gutes Schicksal erwarten?

Mein Blick fiel auf das Buch, das vor dem Beamten lag. Es war golden und mit allerhand Steinen und Muscheln beklebt. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie viele Seiten es hatte und wie viele Buchstaben darin stehen mochten. Was Buchstaben waren, wusste ich, doch lesen konnte ich natürlich nicht. Und je nachdem, was dieser Mann gleich mit mir anstellte, würde ich es auch nie lernen.

Das schwere Buch schien aus vielen Einzelteilen zu bestehen. Die Seiten waren uneben und teilweise zusammengeklebt, wahrscheinlich bestand es aus vielen Papierfetzen, die über Jahrzehnte hinweg zusammengetragen worden waren. Wahllos schlug er eine Seite auf und blickte auf meinen Scheitel hinab. »Guck mich ma‘ an, Kleine«, krächzte er und blies mir eine Ladung Qualm ins Gesicht. Ich hielt die Luft an und wartete darauf, dass der ätzende Gestank sich verzog. Aber ich gehorchte ihm. Er blickte mir mit seinen schwarzen Knopfaugen direkt ins Gesicht, seine Wangen warfen furchtbar viele Falten und seine Haut war grau wie ein Regentag. Überall schlängelten sich rote Äderchen über seine Wangen und er bleckte die Zähne, als er lächelte.

»Süß«, sagte er zu niemand Bestimmtem. Vielleicht zu meiner Mutter. Dann wandte er sich wieder dem Buch zu, nahm einen Stift zur Hand und blätterte weiter durch die Seiten. Das alte Papier raschelte unter seinen Fingern. Was er wohl suchte? Plötzlich hielt er an einer Stelle weit hinten im Buch an und deutete mit dem Stift auf einen Punkt, den ich natürlich nicht sehen konnte, denn meine Mutter und ich sahen das Heiligtum der Behörde nur von hinten in seinem goldbeschlagenen Umschlag. Ich hörte den Stift über das Papier kratzen, dann öffnete der Beamte einen kleinen, silbernen Kasten neben sich, der mir bis zu dem Moment nicht aufgefallen war, woraus er eine blaue Karte zog.

Die Blaue Karte war fortan der Ausweis des Odyssey-Bewohners, der sie erhalten hatte. Darauf standen der Name und der Beruf sowie der Jahrgang. Mehr nicht. Wer sie verlor, war vogelfrei. Wer mit einer falschen erwischt wurde, war des Todes.

Er reichte mir eine dieser Karten, die er mittlerweile beschrieben hatte. Ich nahm sie mit feuchten Händen entgegen. Weil ich nicht lesen konnte, gab ich sie an meine Mutter weiter, die ziemlich blass wurde.

»Sie ist doch ein Mädchen«, rief sie entrüstet, doch der Beamte kratzte sich ungeniert am Kinn und gähnte. Sie standen einem niemals Rede und Antwort. »Keine Diskussion« war die oberste Dienstvorschrift in der Behörde für Namen und Werdegang.

»Mom«, versuchte ich ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Ich war neugierig geworden. Hoffentlich hatte der Mann mir einen netten Namen gegeben. Mein Beruf interessierte mich nicht so sehr, da es wohl kaum etwas auf Odyssey gab, das Spaß machte. Das hatte ich sogar in meinen jungen Jahren begriffen. Meine Mutter gab mir die Blaue Karte und ich steckte sie in die kleine Umhängetasche, die sie mir vor einigen Wochen gekauft hatte. Sie musste ein Vermögen gekostet haben, weil es eine Schutzhülle für die Karte gab.

»Und?«, fragte ich, als ich erneut ihre Hand nahm und mit ihr nach draußen ging.

Meine Mutter lächelte schwach. »Du heißt jetzt Harbinger«, sagte sie leise.

Den Namen ließ ich mir auf der Zunge zergehen. Harbinger … das bedeutet unter anderem Omen. Und besser als Maul- und Klauenseuche war es allemal. Ich fand ihn eigentlich ganz hübsch. Sehr hübsch sogar, wenn auch nicht unbedingt passend für ein Mädchen.

»Und was noch?«, fragte ich. Dann packte mich die Angst. Vielleicht war ich auch zum Taucher geworden. Bloß nicht Taucher! Die meisten von ihnen starben jung, denn Tauchgeräte gab es auf Odyssey nicht.

Der Wind frischte auf und trug den Geruch von verfaulenden Algen heran, der Odyssey zwar ständig umgab, aber durch den Wind oftmals noch verstärkt wurde. Heute war es so windig, dass man die Bewegungen der schwimmenden Insel sogar spüren konnte.

»Du bist jetzt Gladiator, mein Schatz.«

»Was?« Ich verstand nicht. Vielmehr … ich wollte nicht verstehen. Gladiator? Das war etwas, was wir Kinder zwar immer sein wollten. In der Realität war das aber ganz und gar nicht erstrebenswert, weil es zwar verboten war, einander zu töten, im Umkehrschluss aber nicht bedeutete, dass man nie verletzt wurde. Es war ein Knochenjob, der allerdings, wenn man ein guter Gladiator war (oder einen guten Trainer hatte), auch zu Ruhm und Reichtum führen konnte.

Meine Mutter schwieg und zog mich weiter durch die Gasse, die zurück zum Markt führte. Es war Markttag und mein Vater musste dort irgendwo sein. Er hatte mir versprochen, meine Namensgebung zu feiern. Doch so, wie meine Mutter reagiert hatte, gab es da nichts zu feiern. Ich selbst war auch nicht mehr in Feierstimmung und das, obwohl meine Eltern mir sogar Süßigkeiten versprochen hatten.

Ich starrte einfach auf den Weg, der aus den verschiedensten Materialien zusammengebaut war.

Gladiator … was war denn das für eine Zukunft für ein sechsjähriges Mädchen?


Um die Gladiatoren zu erklären, muss ich wohl auch das System meiner Heimat und der Sieger beschreiben.

Odyssey war ein schwimmender Staat auf einem Ozean, der unendlich war. Und er bestand vollständig aus Müll. Die Insel war eine riesige Plattform aus weggeworfenen Dingen früherer Generationen. Vor bestimmt zweihundert Jahren hatten sich im Pazifik riesige Ansammlungen von Abfall zusammengerottet; erst waren sie nur Strudel, mit der Algenverseuchung bildete sich dann Landmasse. Und die größte davon wurde zum Sammelpunkt der Menschen nach der Flutkatastrophe von 2051.

Außer Odyssey entstanden mit der Zeit noch zwei weitere Müllstaaten: Aquarius und Chandra. Bis vor kurzem habe ich geglaubt, dass es ein Mythos sei, denn niemals sahen wir von unserer Insel aus etwas anderes als Wasser. Somit erweiterte sich Odyssey beständig, es war unser Lebensort und gleichzeitig versorgte es uns. Allerdings mehr mit Materialien als mit Nahrung. Diese beschaffte uns der Ozean, daher war Fischerei unabdingbar, wenn man auf einer schwimmenden Insel lebte.

Neben der Fischerei hielt uns die Filteranlage am Leben, die alles auf der Insel überragte und von jedem Punkt auf Odyssey aus sichtbar war. Sie filterte das Meerwasser, das in Trinkwasser umgewandelt wurde.

Eigentlich hätte man es als einen Neuanfang für die Menschheit bezeichnen können, doch der Mensch strebt nun einmal nach Macht. In einem blutigen Bürgerkrieg dezimierte sich die Bevölkerung auf circa hunderttausend Menschen, 2078 wurde das System der Sieger installiert und es hatte bis heute Bestand. Und obwohl es Wahlen auf Odyssey gab, waren die eine Farce, denn man konnte nur aus den Siegern wählen, die bereits als solche geboren wurden.

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