Die Schatten von Race Point

von: Patry Francis

mareverlag, 2015

ISBN: 9783866483170 , 592 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Schatten von Race Point


 

1


ES WAR ENDE Oktober, die erste kalte Nacht des Jahres, als die neunjährige Hallie Costa dem tanzenden Lichtschein ihrer Taschenlampe die Dachtreppe hinauf folgte, unwiderstehlich angezogen von dem schwarzen Himmel, dem brackigen Geruch des Windes, der in Böen von der Bucht herüberwehte, und der Gesellschaft des Möwerichs, der neben dem Schornstein schlief. Sie erkannte ihn an dem leicht krummen Flügel und an seinem taumelnden Flug – laut der Diagnose ihres Vaters die Folge einer alten Verletzung. Asa Quebrada nannte er ihn. Gebrochener Flügel.

Hallie war schon öfter auf dem Dach gewesen, aber etwas war anders in dieser Nacht. Sie würde nie herausfinden, ob sie von der plötzlichen Kälte aufgewacht war oder von einem Geräusch, das sich so verstohlen wie das Mondlicht in ihr Zimmer geschlichen hatte. Hat da jemand gesungen? Als sie die Augen öffnete und sich im Bett aufsetzte, war alles still. Aus irgendeinem Grund dachte sie daran, wie die alten Leute weinten, wenn beim alljährlichen portugiesischen Fest Fado gespielt wurde. Saudade, wie ihre Großtante Del es nannte: Heimweh-Musik. Doch ihr Vater hatte ihr erklärt, dass es dabei um mehr als nur einen Ort ging. Es war eine tiefe Sehnsucht nach allem, was verloren war und niemals zurückkommen würde.

Als sie das Geräusch gehört hatte, hatte Hallie die Lampe angeschaltet und die Dinge in ihrem Zimmer gemustert. Alles war an seinem Platz. Die leuchtenden Zahlen ihres Weckers zeigten 3:07 Uhr an. Der pflichtbewusste Teil in ihr, den sie von den Costas geerbt hatte, ermahnte sie, dass morgen Schule war. Doch um diese Zeit gewann der ungebärdige Geist ihrer Mutter stets die Oberhand. Sie knipste das Licht wieder aus, holte die Taschenlampe unter dem Bett hervor und nahm ihre Jacke von dem Haken, der wie eine Muschel geformt war.

Normalerweise achtete sie darauf, ihren Vater nicht zu wecken, wenn sie in der Dunkelheit umherschlich. Doch in dieser Nacht ging sie leise durch den Flur zu seinem Zimmer. Die Tür stand einen Spalt offen, und sie überlegte, ob sie zu ihm ins Bett krabbeln sollte. Sie konnte seine Wärme beinahe spüren, seinen Arm unter ihrem Nacken, und sie hörte förmlich sein verschlafenes Gemurmel. Schlecht geträumt, Spatz?

War es das? Hatte sie schlecht geträumt? Sie knöpfte die Jacke zu, denn die Kälte hatte sich im Haus breitgemacht. Dann sah sie auf ihre blassen Füße hinunter und wünschte, sie hätte ihre roten Turnschuhe angezogen. Ihr Vater drehte sich mit einem Stöhnen im Bett um, als ob er ihre Anwesenheit spürte. Wenn sie noch eine Sekunde länger dort stehen blieb, würde er ganz sicher die Augen öffnen.

Dem Schild zufolge, das an seiner Praxis hing, war Nicolao COSTA ARZT FüR ALLGEMEINMEDIZIN, aber seine Patienten kannten ihn auch als Psychologen mit dem Spezialgebiet gesunder Menschenverstand, als unorthodoxen Eheberater und als Freund, den sie anrufen konnten, wenn sie zu betrunken waren, um vom Pilgrims Club unten an der Straße nach Hause zu kommen. Wenn Letzteres geschah, bat Nick seinen Freund Stuart, der nebenan in einem ehemaligen Pökelhaus wohnte, herüberzukommen und auf Hallie aufzupassen. Stuart beschwerte sich jedes Mal darüber, zu nachtschlafender Zeit gestört zu werden, doch noch bevor er aufgelegt hatte, ging bereits das Licht in seinem Schlafzimmer an, und man konnte sehen, wie er sich seine Hose anzog.

In den seltenen Nächten, wenn Stuart nicht da war, weckte Nick Hallie und nahm sie mit. Er betrat die Kneipe in seinem verschlissenen Schlafanzug und mit zerzaustem Haar, und wenn er nach erfolgreicher Ablieferung des Delinquenten noch einmal dorthin zurückkehrte, hatte Syl Amaral, die Besitzerin, bereits einen Bourbon für ihn hingestellt. Hallie stand daneben, während Nick das Glas mit einem schnellen Schluck leerte, den bacalhau verfluchte, der ihn aus dem Bett geholt hatte, und schwor, das sei jetzt aber wirklich das letzte Mal gewesen. Er war immer überrascht, wenn dann alle anfingen zu lachen.

Doch selbst sie wusste, dass Nick keinen dieser nächtlichen Anrufe ignorieren würde, denn er selbst hatte miterlebt, wie Hallies Mutter bei einem Unfall mit einem betrunkenen Autofahrer getötet worden war. Und wenn er einem Menschen oder einer Familie diese Erfahrung ersparen konnte und die Einsamkeit, die er nach dem Zusammenstoß auf der von allen nur Todesstrecke genannten Straße durchgemacht hatte, dann würde er es tun.

Hallie wunderte sich, dass ihr Vater trotz seiner berühmtberüchtigten feinen Beobachtungsgabe noch nichts von ihren heimlichen Ausflügen aufs Dach mitbekommen hatte. Die Einzige, die etwas davon wusste, war ihre beste Freundin Felicia, der sie sich eines Tages auf dem Spielplatz anvertraut hatte.

»Ich glaube, du vermisst einfach nur deine Mom«, hatte Felicia gesagt und dabei ihre weizenblonden Zöpfe zwischen den Fingern gedreht und Hallie angesehen wie eine Therapeutin. »Du gehst da rauf, weil du nach ihr suchst.«

»Liz Cooper hat damit nichts zu tun«, hatte Hallie energisch eingewandt und sofort bereut, dass sie überhaupt davon angefangen hatte. »Außerdem ist es wissenschaftlich unmöglich, jemanden zu vermissen, an den man sich nicht einmal erinnert.«

Niemals würde sie zugeben, dass sie nicht aufs Dach kletterte, um ihre Mutter zu suchen, sondern um ihr vielmehr zu entkommen. Thorne House gehörte in vielerlei Hinsicht immer noch Liz Cooper, deren erste Renovierungsanläufe und Träume von einer großen Familie, die das Haus füllen würde, auf dem Highway ein abruptes Ende gefunden hatten. Obwohl Nicks Praxis nach und nach das ganze Erdgeschoss erobert hatte, drängten sich immer noch überall die Erinnerungen an sie.

Hallie und ihr Vater hielten sich fast ausschließlich in der Küche und in dem großen Raum auf, den die meisten Leute als Wohnzimmer bezeichnet hätten. Für Nick jedoch war es sein Arbeitszimmer. Die eine Wand war bedeckt mit Karten, die die Geschichte älterer Gesellschaften erzählten, und einigen neueren, die den gegenwärtigen Zustand der Welt beschrieben. Es gab Darstellungen, die die Feinheiten des menschlichen Körpers bis auf die Zellebene erforschten, und andere, die den Himmel kartografierten.

»Beides vermittelt dir einen Eindruck von der Unendlichkeit«, sagte Nick dazu gerne.

Eine weitere Wand zeichnete eine andere Art von Geschichte nach. Die Familie von Nicks Mutter war fast hundert Jahre zuvor mit der ersten Welle portugiesischer Einwanderer hierhergekommen, aber väterlicherseits gehörte er erst der zweiten Generation an, und die Verbindung zu den Leuten »zu Hause« war noch recht stark. Aufnahmen von Verwandten auf den Azoren mischten sich mit Schnappschüssen von Nicks Freunden aus Provincetown und Harvard. Es gab Bilder von ihm und Liz Cooper auf den von Bäumen und Backsteinhäusern gesäumten Straßen von Cambridge, wo sie sich ineinander verliebt hatten, von ihrer Hochzeit im kleinen Kreis und dann mit ihrer neugeborenen Tochter. Doch der größte Teil der Wand war bedeckt mit Fotos von Hallie in allen Abschnitten ihres jungen Lebens. Auf ein Babybild hatte ihre Mutter mit dramatisch geschwungener Linkshänderschrift ihren richtigen Namen geschrieben. Hallett. Doch seit dem Unfall war sie unwiderruflich zu Hallie geworden. Nicks leuchtendem Glück. Dem Einzigen, was ihn nach dem Verlust seiner Frau davon abgehalten hatte, ins Wasser zu gehen.

Der wahre Beweis für Liz Coopers fortdauernde Herrschaft über das Haus fand sich im ersten Stock, wo sich die Trostlosigkeit ihres Fehlens wie eine dicke Staubschicht ausgebreitet hatte. Die Türen zu den drei unbenutzten Zimmern waren geschlossen, als schliefen dahinter die Kinder, die das Paar niemals haben würde. Hallie nannte sie die Geisterzimmer.

Nur der Witwensteig gehörte ihr allein. Der größte Teil des Sprossengeländers war verrottet, und das, was noch übrig war, neigte sich gefährlich Richtung Gehweg, doch die hölzerne Plattform war noch immer so tragfest wie damals, als ein Walfischer namens Isaiah Thorne das Haus gebaut hatte. Der hiesigen Legende zufolge hatte dessen Frau Mary stundenlang dort oben gesessen, oft auch nachts, und nach dem Schiff ihres Mannes Ausschau gehalten. Als Hallie die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte, war ihre Neugier geweckt worden. Nur einmal, hatte sie sich geschworen, weil sie wusste, wie ihr Vater reagieren würde, falls er es herausfand. Doch als sie die Nähe der Sterne spürte, war sie sofort verzaubert. Sie streckte die Arme in die Nachtluft und stellte sich vor, dass sie ein langes weißes Rüschenkleid und Knöpfstiefel trug, anstelle ihres zusammengewürfelten Schlafanzugs und der nackten Füße, und dass sie auf die Rückkehr eines gut aussehenden Kapitäns wartete. Von da an überkam sie jedes Mal, wenn sie die schwere Luke aufdrückte, ein berauschendes Gefühl von Erlösung und – ja, Verheißung. Trotz ihres Schwurs zog es sie immer wieder aufs Dach, manchmal sogar jede Woche.

Es gab nur ein Hindernis zwischen ihr und dem Ort, wo sie alles sein konnte, was sie wollte: den Maler, der den Dachboden als Atelier gemietet hatte. Die Leute nannten ihn...