Die Geburt einer Stahlratte - Der Stahlratte-Zyklus - Band 1 - Roman

von: Harry Harrison

Heyne, 2014

ISBN: 9783641138851

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 5,99 EUR

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Die Geburt einer Stahlratte - Der Stahlratte-Zyklus - Band 1 - Roman


 

2


 

Der Richter beugte sich vor und musterte mich nicht unfreundlich.

»Ich bitte dich, Jimmy, sag mir, was dieser Unsinn soll?«

Richter Nixon besaß ein Sommerhaus am Fluss, ganz in unserer Nähe, und ich hatte so oft mit seinem jüngsten Sohn gespielt, dass er mich ziemlich gut kannte.

»Ich heiße James diGriz, Meister, wir wollen doch nicht zu vertraut miteinander umgehen.«

Daraufhin vertiefte sich verständlicherweise das Rot seiner Wangen. Die große Nase ragte vor wie ein roter Ski-Hang, die Nasenflügel bebten. »Sie werden sich in diesem Gerichtssaal respektvoller verhalten! Man legt Ihnen ernsthafte Verbrechen zur Last, junger Mann, und es könnte Ihnen helfen, Ihre Zunge im Zaum zu halten. Ich ernenne Arnold Fortescue, den öffentlichen Verteidiger, zu Ihrem Anwalt …«

»Ich brauche keinen Anwalt – und schon gar nicht den alten Skewey, der schon so lange am Tropf hängt, dass keiner in der Stadt ihn je nüchtern …«

Das Publikum begann zu lachen, und der Richter brauste noch mehr auf. »Ruhe im Gerichtssaal!«, brüllte er und schlug so heftig mit seinem Hämmerchen zu, dass der Stiel abbrach. Er warf den Rest quer durch den Raum und starrte mich aufgebracht an. »Sie stellen die Geduld des Gerichts auf eine harte Probe. Anwalt Fortescue ist ernannt worden …«

»Nicht von mir. Schicken Sie ihn ruhig wieder in Mooney’s Bar. Ich plädiere schuldig zu allen Anklagepunkten und stelle mich der Gnade dieses gnadenlosen Gerichts anheim.«

Zittrig seufzend atmete er ein, und ich nahm mir vor, es nicht zum Äußersten zu treiben, damit er keinen Schlaganfall bekam. Denn dann wäre der Prozess völlig neu aufzurollen gewesen, was nur noch mehr Zeit gekostet hätte.

»Tut mir leid, Herr Richter«, sagte ich und senkte den Kopf, um ein Lächeln zu verbergen. »Aber ich habe Unrecht getan und muss die Strafe auf mich nehmen.«

»Also, das klingt schon besser, Jimmy. Sie waren immer ein kluger Junge, und es täte mir sehr leid, Ihre Intelligenz verschwendet zu sehen. Sie kommen ins Erziehungsheim, und zwar für nicht weniger als …«

»Es tut mir leid, Euer Ehren«, unterbrach ich ihn. »Aber das geht nicht. Ach, hätte ich mein Verbrechen doch vor einer Woche oder im letzten Monat begangen! Das Gesetz ist in diesem Punkt sehr streng und bietet mir keinen Ausweg. Ich habe heute Geburtstag, meinen siebzehnten Geburtstag.«

Das stimmte ihn nachdenklich. Die Wächter schauten geduldig zu, während er an seinem Computer-Terminal Informationen aufrief. Der Reporter des Bisschen-Himmel-Blatts beackerte seine eigene Computertastatur nicht minder energisch. Er hatte bestimmt Interessantes zu berichten. Es dauerte nicht lange, bis der Richter die Bestätigung vorliegen hatte. Er seufzte.

»Durchaus richtig. Aus den Unterlagen geht hervor, dass Sie bereits siebzehn und somit volljährig geworden sind. Sie sind kein Jugendlicher mehr und müssen wie ein Erwachsener behandelt werden. Dies würde eine Gefängnisstrafe bedeuten, wenn ich die ungewöhnlichen Umstände nicht berücksichtigen könnte. Bisheriger einwandfreier Lebenswandel, die offenkundige Jugend des Angeklagten, seine Erkenntnis, dass er ein Unrecht begangen hat. Es steht in der Macht dieses Gerichts, Ausnahmen zu machen, ein Urteil auf Bewährung auszusprechen und einen Gefangenen freizulassen. Ich entscheide daher …«

Ein Urteil war das letzte, was ich jetzt hören wollte. Die Sache lief ganz und gar nicht nach Plan. Abhilfe war dringend geboten! Ich handelte dementsprechend. Die Worte des Richters gingen in meinem Gebrüll unter. Schreiend warf ich mich längs unter den Angeklagtentisch, rollte sauber auf der Schulter ab und hatte den Saal schon zur Hälfte durchquert, ehe die entsetzten Zuschauer auch nur eine Bewegung machen konnten.

»Du wirst keine miesen Lügen mehr über mich verbreiten, du verdreckter Schreiberling!«, brüllte ich. Gleichzeitig entriss ich dem Reporter sein Terminal und warf das Gerät zu Boden. Und trampelte die 600 Dollar teure Maschine kaputt. Ich wich dem Mann aus, der mich packen wollte, und jagte zur Tür. Der wachestehende Polizist wollte mich packen, klappte aber in dem Moment, von meinem Fuß getroffen, zusammen.

Vielleicht hätte ich fliehen können, doch kam es mir in diesem Moment nicht auf meine Freiheit an – im Gegenteil. Ich fummelte am Türgriff herum, bis mich jemand packte, dann wehrte ich mich, bis ich keine Chance mehr hatte.

Diesmal stand ich in Handschellen vor dem Richter, der es aufgegeben hatte, mich »Jimmy, mein Junge« zu nennen. Jemand hatte ihm einen neuen Holzhammer besorgt, den er vor mir herumschwenkte, als hätte er mich damit am liebsten niedergeschlagen. Ich murrte und grollte und versuchte missgelaunt auszusehen.

»James Bolivar diGriz«, sagte der Richter. »Ich verurteile Sie zur Höchststrafe, die das von Ihnen begangene Verbrechen zulässt. Zwangsarbeit im Stadtgefängnis, bis das nächste Schiff der Liga eintrifft, woraufhin man Sie zur Behandlung in die nächst erreichbare Besserungsanstalt schaffen wird.« Der Hammer knallte nieder. »Führt ihn ab!«

So passte mir das schon besser. Ich zerrte an den Handschellen und fluchte unbändig, damit er es sich im letzten Moment nicht noch anders überlegte. Zwei stämmige Polizeibeamte packten zu, zerrten mich energisch aus dem Gerichtssaal und stopften mich hinten in die Schwarze Minna. Erst als die Tür zugeknallt und verriegelt war, lehnte ich mich entspannt zurück und riskierte ein Siegeslächeln.

Ja, ›Siegeslächeln‹, Sie haben richtig gelesen. Mit meiner Aktion verfolgte ich einzig und allein das Ziel, verhaftet und ins Gefängnis geschickt zu werden. Ich brauchte dringend Training vor Ort.

Mein Wahnsinn hat durchaus Methode. Schon sehr früh im Leben – wohl etwa um die Zeit meiner Stopf-Dich-Erfolge – beschäftigte ich mich ernsthaft mit der Möglichkeit, die Verbrecherlaufbahn einzuschlagen. Dies hatte viele Gründe – nicht zuletzt weil ich Spaß daran hatte, ein Verbrecher zu sein. Die finanziellen Möglichkeiten waren großartig; in keinem anderen Beruf verdiente man mit so wenig Aufwand so viel. Und ich will ehrlich sein: ich genoss das Gefühl der Überlegenheit, wenn es mir wieder einmal gelang, den Rest der Welt dämlich dastehen zu lassen. Manche mögen das für kindisch halten. Mag sein – auf jeden Fall aber sind solche Augenblicke sehr angenehm.

Etwa um die gleiche Zeit sah ich mich einem schlimmen Problem gegenüber. Wie sollte ich mich auf die Zukunft vorbereiten? Das verbrecherische Leben musste mehr zu bieten haben als den Diebstahl von Stopf-Dich-Schokoriegeln. Einige Antworten erschlossen sich mir sofort. Ich war auf Geld aus. Das Geld anderer Leute. Geld wird weggeschlossen – ich würde also um so mehr verdienen, je besser ich mich mit Schlössern auskannte. Zum ersten Mal in der Schule begann ich richtig zu arbeiten. Meine Zensuren waren plötzlich so gut, dass die Lehrer zu vermuten begannen, mein Fall könnte doch noch nicht völlig hoffnungslos sein. Mein Durchschnitt verbesserte sich dermaßen, dass ich keine Probleme hatte, eine Schlosserlehre anzutreten. Diese Ausbildung sollte drei Jahre dauern, aber ich sah mich schon nach drei Monaten am Lernziel. Ich beantragte die Zulassung zur Abschlussprüfung. Und wurde abgewiesen.

So liefen die Dinge hier nicht, erklärte man mir. Ich würde meine Lehre in demselben gemessenen Tempo abschließen wie die anderen und in zwei Jahren und neun Monaten mein Diplom erhalten, die Schule verlassen – und dann zu den Lohnempfängern zählen.

So sah ich meine Zukunft nicht. Ich versuchte die Lehre zu wechseln und erhielt den Bescheid, dass dies nicht möglich sei. Auf meiner Stirn stand in unsichtbaren Lettern Schlosser, und diese Bezeichnung würde dort bleiben, solange ich lebte. Bildeten sich die anderen ein.

Ich begann zu schwänzen und blieb der Hochschule tagelang fern. Dagegen konnte man wenig tun, außer mir strenge Vorträge zu halten, denn ich nahm an allen Prüfungen teil und erzielte stets die besten Noten. Kein Wunder – ich nutzte meine Ausbildung bereits bestens in der Praxis. Sorgfältig streute ich meine Aktivitäten, damit die selbstgefälligen Stadtbürger nicht merkten, dass sie hintergangen wurden. An einem Tag überließ mir ein Verkaufsautomat einige Dollar in Silber, am nächsten war mir ein Ticketgerät am Parkgelände gefällig. Diese aktiven Einsätze vervollkommneten nicht nur meine Talente, sondern bezahlten auch meine Bildung. Nicht die Schulbildung – denn das Gesetz verlangte, dass ich bis zum siebzehnten Lebensjahr mitmachte –, sondern meine Weiterbildung in der Freizeit.

Da es keine Ausbildungsbeschreibung für den Beruf des Verbrechers gab, kümmerte ich mich intensiv um alle Fähigkeiten, die mir irgendwie nützlich sein konnten. Ich fand das Wort Fälschung im Wörterbuch und fühlte mich ermutigt, Photographie und Drucktechnik zu erlernen. Da mir die waffenlose Verteidigung schon gute Dienste geleistet hatte, setzte ich meine Studien fort, bis ich den Schwarzen Gürtel errungen hatte. Andererseits vernachlässigte ich die technischen Aspekte meiner erwählten Karriere nicht. Noch ehe ich sechzehn war, wusste ich so ziemlich alles über Computer – und hatte mich gleichzeitig zu einem geschickten Mikroelektronik-Techniker gemausert.

Alle diese Dinge waren für sich gesehen durchaus zufriedenstellend – aber was fing ich damit an? Im Grunde wusste ich es nicht. Das war der Augenblick, da ich beschloss, mich zum Mündigwerden selbst zu beschenken. Mit einer Gefängnisstrafe.

Verrückt? Mag sein, aber dann schlau-verrückt. Ich musste dringend mit richtigen Verbrechern...