A Head Full of Ghosts – Ein Exorzismus - Psychothriller

von: Paul Tremblay

Festa Verlag, 2018

ISBN: 9783865526601 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 5,99 EUR

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A Head Full of Ghosts – Ein Exorzismus - Psychothriller


 

1

»Es ist bestimmt nicht leicht für Sie, Meredith.«

Bestsellerautorin Rachel Neville trägt das perfekte Herbst-Ensemble: einen dunkelblauen Hut, passend zu ihrem zweckmäßigen knielangen Rock, und eine beige Wolljacke mit Knöpfen so groß wie Katzenköpfe. Sie achtet gewissenhaft darauf, auf dem unebenen Fußweg zu bleiben. Die Schiefersteine sind gekippt, ihre Kanten ragen aus dem Boden heraus, und sie wackeln unter ihren Füßen wie lockere Milchzähne.

Als Kind habe ich immer ein Stück rote Zahnseide um einen Wackelzahn gebunden und dann tagelang aus meinem Mund baumeln lassen, bis der Zahn von selber ausfiel. Marjorie hänselte mich deswegen, und sie jagte mich durch das Haus und versuchte, an dem Faden zu ziehen, und ich schrie und jammerte, weil es Spaß machte und weil ich Angst hatte, dass sie, wenn ich sie einen Zahn herausziehen ließe, sich nicht mehr beherrschen könnte und auch den Rest herausziehen würde.

Ist tatsächlich so viel Zeit vergangen, seit wir hier gewohnt haben? Ich bin erst 23, aber wenn mich jemand nach meinem Alter fragt, sage ich immer, dass ich ein Vierteljahrhundert minus zwei Jahre alt bin. Ich mag es, wenn man den Leuten ansieht, wie sie sich im Kopf mit den Zahlen abmühen.

Ich ignoriere den Weg und gehe quer durch den verwahrlosten Vorgarten, der im Frühjahr und Sommer wild und ungezähmt wuchert und sich jetzt in der neuen Kälte des Herbstes zurückzuziehen beginnt. Blätter und Unkrautfinger kitzeln meine Fußknöchel und greifen nach meinen Turnschuhen. Wäre Marjorie jetzt hier, würde sie mir wahrscheinlich eine kurze Geschichte über Würmer, Spinnen und Mäuse erzählen, die unter der modernden Vegetation herumkrabbeln und sich an die junge Frau heranpirschen, die so töricht ist, nicht in der Sicherheit des Fußweges zu bleiben.

Rachel betritt das Haus zuerst. Sie hat einen Schlüssel und ich nicht. Also bleibe ich hinter ihr zurück, knibble einen Streifen weißer Farbe von der Haustür ab und stecke ihn in meine Hosentasche. Warum sollte ich kein Souvenir mitnehmen? Es ist ein Souvenir, mit dem sich offenbar schon viele andere eingedeckt haben, wenn ich mir die abblätternde Tür und die schuppige Veranda so ansehe.

Mir war nicht bewusst, wie sehr ich das Haus vermisst habe. Und ich komme gar nicht darüber hinweg, wie grau es jetzt aussieht. War es schon immer so grau gewesen?

Ich schleiche mich hinein und die Haustür fällt flüsternd hinter mir zu. Auf dem zerkratzten Parkett der Diele stehend, schließe ich die Augen, um diesen ersten Schnappschuss meiner Heimkehr als verlorene Tochter besser sehen zu können: Decken so hoch, dass ich nie an etwas herankommen konnte; gusseiserne Heizkörper, die sich in vielen Zimmerecken verstecken, als könnten sie jeden Moment wütend dampfend zum Leben erwachen; direkt voraus ist das Esszimmer, dann die Küche, in der wir auf keinen Fall verweilen dürfen, und ein Flur, ein gerader Weg zur Hintertür; rechts von mir das Wohnzimmer und weitere Flure, die Speichen eines Rades; unter mir, unter dem Boden, der Keller mit seinem Stein- und Mörtelfundament und dem kalten Lehmboden, den ich noch immer zwischen meinen Zehen fühlen kann. Links von mir ist der Durchgang zur Klaviertreppe mit ihren weißen Setzstufen und Geländern und den schwarzen Trittstufen und Absätzen. Sie führt in drei Abschnitten mit zwei Treppenabsätzen in den ersten Stock. Es geht so: sechs Stufen hoch, Absatz, nach rechts drehen, dann nur fünf Stufen bis zum nächsten Absatz, wieder nach rechts drehen und sechs Stufen bis zum Flur des Obergeschosses. Am besten gefallen hat mir immer, dass man sich einmal komplett umdreht, wenn man nach oben geht, aber ach, was habe ich mich geärgert über die fehlende sechste Stufe im Mittelteil.

Ich öffne die Augen. Alles ist alt und vernachlässigt und in gewisser Weise noch genauso wie früher. Aber der Staub und die Spinnweben, der rissige Putz und die abblätternden Tapeten wirken irgendwie gestellt. Das Vergehen der Zeit als ein Requisit der Geschichte, dieser Geschichte, die so oft erzählt und wiedererzählt wurde, dass sie ihre Bedeutung verloren hat, selbst für diejenigen unter uns, die sie miterlebt haben.

Rachel setzt sich ans entlegene Ende eines langen Sofas im fast leeren Wohnzimmer. Eine Abdeckfolie schützt die Polsterung des Sofas vor allen, die so achtlos sind, sich darauf zu setzen. Aber vielleicht ist es auch Rachel, die geschützt wird, indem die Folie sie davor bewahrt, mit einem modrigen Sitzmöbel in Berührung zu kommen. Ihr Hut macht es sich auf ihrem Schoß bequem, ein zerbrechliches Vögelchen, das aus seinem Nest gestoßen wurde.

Ich beschließe, doch noch verspätet auf ihre Nicht-Frage zu antworten.

»Sie haben recht, es ist nicht leicht für mich. Aber bitte nennen Sie mich nicht Meredith. Merry ist mir lieber.«

»Es tut mir leid, Merry. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, hierherzukommen.« Rachel steht auf, ihr Hut flattert zu Boden, und sie versteckt die Hände in ihren Jackentaschen. Ich frage mich, ob sie in ihren Taschen ihre eigenen Farbchips, Tapetenstreifen oder irgendwelche anderen Bruchstücke der Vergangenheit dieses Hauses verbirgt. »Wir können das Interview auch an einem anderen Ort fortsetzen, an dem Sie sich wohler fühlen.«

»Nein, nein. Ist schon okay. Ich habe mich ja freiwillig dazu bereit erklärt. Ich bin nur …«

»Nervös. Das verstehe ich vollkommen.«

»Nein.« Ich sage Nein im singenden Tonfall meiner Mom. »Das ist es ja gerade. Ich bin das genaue Gegenteil von nervös. Ich kann es kaum fassen, wie wohl ich mich hier fühle. So verrückt es klingt – es ist überraschend nett, wieder zu Hause zu sein. Ich weiß nicht, ob das irgendeinen Sinn ergibt, und normalerweise plappere ich auch nicht so drauflos, also bin ich vielleicht doch nervös. Aber wie dem auch sei – bitte setzen Sie sich wieder hin; ich komme zu Ihnen.«

Rachel setzt sich wieder aufs Sofa und sagt: »Merry, ich weiß, dass Sie mich nicht besonders gut kennen, aber ich verspreche Ihnen, dass Sie mir vertrauen können. Ich werde Ihre Geschichte mit der Würde und Sorgfalt behandeln, die sie verdient hat.«

»Vielen Dank. Ich glaube Ihnen. Wirklich«, sage ich und setze mich ans andere Ende des Sofas, das sich pilzartig weich anfühlt. Jetzt, da ich sitze, bin ich froh über die Schutzfolie. »Es ist die Geschichte selbst, der ich nicht ganz traue. Es ist ja nicht meine Geschichte. Sie gehört nicht mir. Und es wird knifflig werden, sich den Weg durch einige der unerforschten Regionen zu bahnen.« Ich lächle, stolz auf die Metapher.

»Dann betrachten Sie mich als Ihre Begleiterin auf dieser Entdeckungsreise.« Ihr Lächeln ist – ganz anders als meines – ungezwungen.

»Wie sind Sie daran gekommen?«

»Woran, Merry?«

»An den Haustürschlüssel. Haben Sie das Haus gekauft? Nicht unbedingt die schlechteste Idee. Gut, Besichtigungen des berüchtigten Barrett-Hauses anzubieten hat sich für den vorherigen Besitzer nicht so recht bezahlt gemacht, aber das heißt ja nicht, dass es nicht jetzt funktionieren könnte. Das wäre eine großartige Reklame für das Buch. Sie oder Ihr Agent könnten die Besichtigungstouren wieder aufnehmen. Sie könnten das Ganze mit Lesungen und Buchsignierungen im Wohnzimmer aufpeppen. Richten Sie einen Andenkenshop in der Diele ein und verkaufen Sie raffinierte gruselige Souvenirs zusammen mit den Büchern. Ich könnte dabei helfen, Szenen aufzubauen oder Live-Darbietungen in den verschiedenen Zimmern im Obergeschoss vorzuführen. Als – wie heißt es noch mal in unserem Vertrag? – ›Kreativberaterin‹. Ich könnte mich um Requisiten und Regieanweisungen kümmern …« Ich verzettele mich da in etwas, das als leichter Scherz angefangen hat und jetzt ein bisschen aus dem Ruder läuft. Als ich endlich aufhöre zu brabbeln, hebe ich die Hände und betrachte Rachel und das Sofa durch einen Rahmen aus meinen Daumen und Zeigefingern wie ein imaginärer Regisseur.

Rachel lacht höflich während meines Vortrags. »Um es klarzustellen, Merry, meine liebe Kreativberaterin – ich habe Ihr Haus nicht gekauft.«

Mir ist bewusst, wie schnell ich rede, aber ich schaffe es nicht, langsamer zu werden. »Das ist wahrscheinlich schlau, wenn man den schlechten Zustand des Gebäudes bedenkt. Und gibt es da nicht diesen Spruch, dass man, wenn man ein Haus kauft, auch die Probleme anderer Leute kauft?«

»Angesichts Ihrer sehr vernünftigen Bitte, dass uns heute niemand begleitet, konnte ich den äußerst entgegenkommenden Immobilienmakler überreden, mir den Schlüssel und etwas Zeit in diesem Haus zur Verfügung zu stellen.«

»Ich bin sicher, dass das gegen irgendwelche Immobilienmakler-Bestimmungen verstößt, aber Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.«

»Sind Sie gut darin, Geheimnisse zu bewahren, Merry?«

»Besser als manche anderen.« Ich überlege kurz, dann füge ich hinzu: »Aber meistens ist es eher so, dass sie mich bewahren«, weil es so schön mysteriös und kernig klingt.

»Ist es okay, wenn ich jetzt mit der Aufzeichnung beginne, Merry?«

»Was denn, keine Notizen? Ich hatte Sie mir mit einem Stift in der Hand vorgestellt und einem kleinen schwarzen Notizbuch, das Sie stolz in Ihrer Jackentasche verbergen. Es ist voll mit bunten Klebezetteln und Lesezeichen, um die Seiten zu markieren, auf denen Sie Recherchen festhalten, Charakterskizzen und unzusammenhängende, aber treffende Beobachtungen über die Liebe und das Leben.«

»Ha! Das ist ja so was von nicht mein Stil.« Rachel entspannt sich merklich. Sie beugt sich vor...