Krieg gegen das Kalifat - Der Westen, die Kurden und die Bedrohung 'Islamischer Staat'

von: Wieland Schneider

Braumüller Verlag, 2015

ISBN: 9783991001669 , 252 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,99 EUR

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Krieg gegen das Kalifat - Der Westen, die Kurden und die Bedrohung 'Islamischer Staat'


 

EINLEITUNG: Der Westen, die Kurden und die Bedrohung „Islamischer Staat“


Sie versuchen erst gar nicht, ihre Verbrechen zu verbergen. Im Gegenteil: Für sie hat die Zurschaustellung von Gewalt Methode. Die Jihadisten des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) schockieren gezielt mit Videos von Erschießungen und Enthauptungen. Mit ihrer blutigen Propaganda im Internet wollen sie ihre Gegner in Schrecken versetzen und zugleich neue Kämpfer anwerben – auch in Österreich und anderen Ländern Europas. Binnen kurzer Zeit ist es den Extremisten gelungen, ihr eigenes staatliches Gebilde zu errichten, das weite Teile Syriens und des Irak umfasst. In ihrem Reich herrschen sie mit Terror. Wer sich nicht ihren Vorschriften unterwirft oder gar als Rivale in Erscheinung tritt, wird ausgeschaltet. Die Eiferer des IS zerstören, was nicht in ihr bizarres Weltbild passt. Diesem Wüten fallen antike Kulturgüter zum Opfer, jesidische Heiligtümer, Kirchen, muslimische Pilgerstätten und Moscheen. Und der IS hat ganz offiziell die Sklaverei wieder eingeführt. Mit bürokratischer Grausamkeit hat er genaue Regeln für den sexuellen Missbrauch von Sklavinnen erlassen. Die Opfer sind großteils Frauen und minderjährige Mädchen der Jesiden, einer alten Religionsgemeinschaft, die der IS auslöschen will.

Als Reporter der österreichischen Tageszeitung Die Presse habe ich Menschen getroffen, die unter der Terrorherrschaft des IS gelitten haben: Menschen, die nur mit dem, was sie am Leib trugen, vor den Jihadisten fliehen mussten; die täglich die Ungewissheit darüber peinigt, was mit ihren verschleppten Verwandten geschehen ist. Ich habe mich in Nordiraks abgelegenem Sinjar-Gebirge auf die Spur der IS-Verbrechen gemacht – dort, wo die Extremisten ihre jesidischen Opfer in Massengräbern verscharrt haben.

In diesem Buch werden aber auch die Geschichten der Menschen erzählt, die sich in Syrien und im Irak dem IS entgegenstellen: die Geschichte der jesidischen Familie Shesho etwa, die nach vielen Jahren aus Deutschland in den Nordirak zurückgekehrt ist, um jesidische Kämpfer in der Abwehrschlacht gegen den IS anzuführen. Sie haben sich im Heiligtum von Sherfedîn am Fuße der Sinjar-Berge verschanzt und dort jeden der IS-Angriffe zurückgeschlagen.

Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ ist auch ein Kampf der Frauen. Tausende von ihnen leisten in Syrien und im Irak dem IS Widerstand. Sie gehören zu den Guerillatruppen der türkischkurdischen Untergrundorganisation PKK und zu den syrisch-kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“, die den Jihadisten bereits mehrere schmerzhafte Niederlagen zugefügt haben. Wie leben diese jungen Frauen an der Front? Was denken sie über den Krieg gegen den IS, und was über ihre Zukunft?

Die neue Bedrohung „Islamischer Staat“ ließ in Nordiraks Kurdenregion viele Peshmerga-Veteranen, die schon gegen Iraks Diktator Saddam Hussein gekämpft hatten, auf das Schlachtfeld zurückkehren. Die Peshmerga-Truppen der Kurdenregion stehen dem IS an einer mehr als 1000 Kilometer langen Front gegenüber.

Die Kurden in Syrien und im Irak sind eine der wichtigsten Waffen im Krieg gegen den IS – einem Krieg, der auch die Zukunft der Kurden bestimmen wird. Sie kämpfen gegen einen gefährlichen Feind, der weit mehr erreicht hat als andere jihadistische Organisationen vor ihm. Der IS-„Urvater“ Abu Musab al-Zarqawi hatte mit seiner damaligen „al-Qaida im Zweistromland“ den Irak mit blutigen Attentaten in Atem gehalten. Doch er musste aus dem Untergrund gegen die US-Truppen und die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad operieren. Zarqawis Erben rund um IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi haben hingegen ihren eigenen Staat erschaffen. Der IS nennt sein Horrorgebilde ein „Kalifat“ – ein Schritt, der vom Großteil der islamischen Welt als absolute Anmaßung angesehen wird. Die islamischen Reiche nach dem Propheten Mohammed waren Kalifate, in denen die religiöse und weltliche Führung vereint waren. Die Kalifen besaßen den Status eines Nachfolgers des Propheten – etwas, das nun auch IS-Chef Baghdadi für sich in Anspruch nimmt. Er und seine Männer behaupten, sich an der Zeit Mohammeds und der allerersten Kalifen zu orientieren, also an einer Lebenswirklichkeit, die 1400 Jahre zurückliegt und über die man heute nur wenig weiß. Vor allem die späteren Kalifate waren auch Zentren von Wissenschaft und Kunst – etwas, das man vom sogenannten „Kalifat“ des IS nicht behaupten kann.

Der rasche Siegeszug und die Brutalität des IS haben nicht nur in der Nahost-Region für Entsetzen gesorgt. Auch die europäische Öffentlichkeit ist über das blutige Treiben in der unmittelbaren Nachbarschaft schockiert. Die Auswirkungen dieses Dramas sind bis nach Europa zu spüren: Nicht mehr nur aus dem Bürgerkriegsland Syrien, sondern auch aus dem Irak fliehen immer mehr Menschen in die Europäische Union. Und tausende junge Männer aus der EU nehmen die entgegensetzte Route, reisen nach Syrien und in den Irak, um an der Seite des IS und anderer Jihadistenorganisationen zu kämpfen. Sie tauchen ein in eine Welt aus Gewalt, in der sich eine gefährliche jihadistische Ideologie mit pubertärem Heldenwahn und bizarren Fantasy-(Alb)Traumvorstellungen vermischt. Unter ihnen sind junge Burschen wie der Österreicher Oliver N. Er hatte keinen muslimischen Hintergrund und keine Ahnung vom Islam. Binnen kürzester Zeit radikalisierte er sich und wurde zum Jihadisten, reiste ins „Kalifat“ und schloss sich dem IS an.

Die neue Bedrohung direkt vor der Haustüre schürt auch Ängste – davor, dass eine neue Terrorwelle über Europa hereinbrechen könnte. Den Sicherheitskräften bereiten vor allem sogenannte „einsame Wölfe“ Sorgen – einzelne Attentäter oder kleine Gruppen, die nur schwer aufzuspüren sind. Sie stammen aus dem eigenen Land, der eigenen Gesellschaft. Oft stehen sie nur in losem Kontakt mit jihadistischen Gruppen wie dem IS und al-Qaida, oder sind einfach nur von deren Ideologie inspiriert. Sie greifen keine großen, strategischen Ziele mehr an wie das World Trade Center am 11. September 2001 in New York. Sie starten kleinere Überfälle auf sogenannte weiche Ziele – Attacken, die deshalb viel schwerer zu verhindern sind. Es sind Anschläge wie der auf das jüdische Museum in Brüssel im Mai 2014, auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt in Paris im Jänner 2015, oder auf ein Hotel im tunesischen Sousse im Juli 2015.

In Europa sorgen nicht nur die bizarre Ideologie und die Grausamkeit der Extremisten für Abscheu und Furcht. Auch die Schlagkraft des IS verwundert und verstört: Wie konnten die Jihadisten so rasch so stark werden, ein gewaltiges Gebiet erobern und die gesamte Region in Schrecken versetzen? Auf den ersten Blick scheint das Phänomen IS nur schwer zu begreifen: Wie aus dem Nichts tauchen einige hundert fanatische, bärtige Männer auf. Sie brausen in Todesverachtung heran in ihren Geländewagen, auf denen die schwarzen Banner des „Jihad“ flattern, und ganze Armeen geben sich geschlagen. Dieses Bild versucht auch die Propagandaabteilung des IS der Welt zu verkaufen. Doch es ist falsch. Die Wahrheit ist viel komplizierter.

Der Aufstieg des IS ist das Ergebnis von Machtkämpfen und Konflikten, die die Nahost-Region erschüttern. Fast fünf Jahre nach Beginn des sogenannten „Arabischen Frühlings“ sind Teile der Region in Aufruhr. Der Versuch, auch in Syrien das Regime mit Protesten zu stürzen oder zumindest zu Zugeständnissen zu zwingen, endete in der Katastrophe. Das Ergebnis ist ein brutaler Bürgerkrieg mit einer Viertelmillion Toten und Millionen Vertriebenen. Es ist ein Krieg, in dem auch Giftgas zum Einsatz gekommen ist und die Truppen des Regimes ganze Stadtviertel in Schutt und Asche legen. Befeuert wird der Konflikt von den strategischen Interessen externer Player, von dem Ringen des Iran und Saudi-Arabiens um die regionale Vormachtstellung. Das „Schlachthaus“ Syrien wurde zum Betätigungsfeld verschiedenster Milizen und jihadistischer Einheiten. Und Länder wie die Türkei und die arabischen Golfmonarchien kümmerte es oft nicht, wie gefährlich einige der Gruppen waren, die sie in Syrien unterstützten. Hauptsache, dadurch wurde ihr Feind, der syrische Machthaber Bashar al-Assad, geschwächt. In diesem Umfeld gelang es den Vorgängern des IS, mit kluger Planung und raffinierter Politik, mit Bestechung und mit unglaublicher Brutalität, zu einer der dominierenden Organisationen zu werden. Zu einer Kraft, die – sehr zur Freude des syrischen Regimes – auch die anderen Rebellengruppen zu vernichten begann.

Wesentlich für den Aufstieg des IS war aber nicht nur der Krieg in Syrien, sondern ein anderer, seit vielen Jahren ungelöster Konflikt – der Machtkampf im Irak. Dort hatte sich die Katastrophe schon länger abgezeichnet. Bereits im März 2013, zehn Jahre nach dem Einmarsch der US-Truppen, war in Bagdad zu spüren, dass das Land wieder auf den Abgrund zusteuerte. Die Spannungen zwischen unzufriedenen sunnitischen Gruppen und der...