Killer Blog - Folge 1 - Die Erkenntnis

von: Christine Drews

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN: 9783732510108 , 100 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 2,49 EUR

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Killer Blog - Folge 1 - Die Erkenntnis


 

Rockall, 09. September, 11:15 a.m.


Mein Name ist John Caine. Ich befinde mich an einem Ort, den es eigentlich gar nicht geben dürfte. Ich bin Insasse in einem Hochsicherheitsgefängnis. Und ich begrüße Sie in dem illustren Kreis der Personen, die meinen Blog lesen können. Oder sollte ich lieber sagen: lesen dürfen? Denn nicht jeder kann hier rein. Sie können sich also mit Recht auserwählt fühlen.

Die meisten von Ihnen wissen wahrscheinlich, wer ich bin. Schließlich haben Sie die Zugangsdaten für diesen Blog von unserem gemeinsamen Freund Philip Sandman bekommen. Aber wie ich Philip kenne, hat er Ihnen vermutlich nur das Nötigste gesagt. Und Sie fragen sich jetzt bestimmt: Wie ist das überhaupt möglich? Wie kann es sein, dass Sie detaillierte Aufzeichnungen eines verurteilten Serienmörders zu lesen bekommen? Der Crown Court hat mich zu einem der gefährlichsten Männer Europas erklärt. Zu Recht. Ich habe nicht nur als Auftragskiller unzählige Jobs erledigt, auch die Liste meiner ganz persönlichen Opfer kann sich sehen lassen.

Wie kann nun so einer wie ich einen eigenen Blog haben? Nun, das ist eine etwas längere Geschichte. Aber ich verspreche Ihnen: Sie werden alles früh genug erfahren. Zuerst will ich Ihnen erzählen, wie ich zum gefährlichsten Mann Europas wurde – und vor allem warum.

Eigentlich habe ich mein Geld schon immer als professioneller Auftragsmörder verdient, nur dass ich am Anfang meiner Karriere im Dienst der Krone stand. Mein persönliches Bedürfnis zu Töten wurde jedoch durch ein einschneidendes Erlebnis geweckt. Und zwar an dem Ort, an dem ich zum staatlich anerkannten Profischlächter ausgebildet wurde. Denn richtig perfektioniert habe ich das Töten erst während meiner Zeit in Afghanistan, als Soldat der British Army. Schon der erste Einsatz dort sollte zum Wendepunkt in meinem Leben werden.

Unser Ziel war eine Hochburg der Taliban im Norden von Kabul. Unsere Vorgesetzten schätzten, dass sich in der kleinen, fast ländlichen Siedlung mindestens zwanzig Talibankämpfer versteckt hielten. Die dörfliche Struktur machte einen Luftangriff unmöglich, da sich die Taliban zwischen den Bewohnern in Hütten und Ställen versteckten. Und Zivilisten sollten unbedingt verschont werden. Meiner Meinung nach war das vollkommen unrealistisch. Diese Scheißkerle hockten bis an die Zähne bewaffnet inmitten von kochenden Frauen und spielenden Kindern und bearbeiteten emsig ein Gemüsebeet, während das Gewehr griffbereit danebenlag, oder sie wuschen ihr Auto und beobachteten dabei genau, was vor und hinter ihnen auf der Straße passierte.

Es war unmöglich, alle Zivilisten zu verschonen. Das war mir von Anfang an klar. Wie sollte ich das bitte schön anstellen? Wie konnte ich einen normalen Afghanen mit Vollbart und Pakul (das sind diese afghanischen Wollhüte, die aussehen wie zwei aufeinandergestapelte Fladenbrote) von einem Talibankämpfer unterscheiden? Ich konnte ja schlecht fragen, bevor ich schoss.

Also ging ich bei der Säuberung des Dorfes in jedem Haus auf dieselbe Art und Weise vor. Ich trat die Tür ein, betrat den Raum und fing direkt an zu schießen. Weil ich nicht gerade auf den Kopf gefallen bin, na ja, und auch dank der erstklassigen Scharfschützenausbildung, die ich erhalten habe, erwischte ich praktisch nie Frauen und Kinder. Ich habe während meines gesamten Afghanistaneinsatzes kein einziges Kind erschossen und gerade mal vier Frauen mit Streifschüssen erwischt. Wie viele männliche Zivilisten ich allerdings auf dem Gewissen habe, weiß ich nicht. Es ist mir auch egal.

Bis auf einen. Den hätte ich lieber nicht erledigt.

Es war die letzte Hütte in dieser Straße, danach kam nur noch karge Steinlandschaft. Wie schon zuvor trat ich auch hier die Tür ein und erfasste sofort, dass sich nur eine Person in dem kleinen Wohnraum aufhielt. Leider männlich – also »leider« für ihn. Mir persönlich war das vollkommen gleichgültig. Ich schoss, traf ihn am Oberschenkel, und er sackte stöhnend in sich zusammen.

Da sah ich ihn mir genauer an. Es war ein alter Mann, weißhaarig und mit langem Bart, in traditioneller Kleidung. Unwahrscheinlich, dass es sich bei ihm um einen gefährlichen Talibankämpfer handelte. Ich konnte aber nicht hundertprozentig ausschließen, dass er einen Sprengstoffgürtel trug oder eine andere wenig freundliche Begrüßung für mich bereithielt. Auch Taliban wurden grau und alt. Das war noch lange kein Grund, jetzt auf einmal Mitleid zu bekommen.

Ich sicherte den Raum und ging zu dem Alten, um es zu Ende zu bringen. Aber in dem Moment, als ich meine Waffe zog und auf ihn zielte, starrte der alte Mann auf meine rechte Hand und flüsterte etwas.

Ich trat ein Stück näher. »Was?«

»Zeig mir deine Augen«, wiederholte er, noch leiser als zuvor, auf Englisch. Er sprach fehlerfrei, wenn auch mit starkem Akzent.

Ich kann nicht mal sagen, warum ich es tat. Doch aus irgendeinem Grund kam ich seiner Bitte nach und beugte mich zu ihm hinunter. Sterbenden kann man so schlecht einen Gefallen ausschlagen – meistens jedenfalls.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als sich unsere Blicke trafen. Wieder sah der Alte auf meine rechte Hand und strich mit seinen knochigen Fingern über die auffällige sternförmige Narbe, die dick und wulstig von meinem Handrücken absteht. Zuerst wollte ich seine Finger wegschlagen, aber intuitiv wartete ich einen Moment ab. Ich hatte damals nur eine vage Vorstellung davon, woher dieser Makel stammt, den ich mit mir rumtrage, solange ich denken kann. Doch dem alten sterbenden Kerl zu meinen Füßen schien meine Narbe mehr zu sagen als mir selbst.

»Amir«, stöhnte er. »Amir, bist du es?«

Ich zog hastig die Hand weg, starrte den alten Mann an und brauchte einen Moment, ehe ich begriff.

Amir.

Ich hatte diesen Namen schon fast vergessen, wusste nicht mehr, wie er sich anhörte, wenn er mit afghanisch-rollendem R ausgesprochen wurde. Zum ersten Mal seit mehr als fünfzehn Jahren nannte mich jemand bei meinem Geburtsnamen.

Die Gedanken rasten unkontrolliert durch meinen Kopf. Wer war der Mann? Woher kannte er meinen Namen? Wie konnte es sein, dass er mich anhand meiner Narbe wiedererkannt hatte? War er damals dabei gewesen?

Ich kniete mich neben ihn. Die Blutlache, in der er saß, wurde langsam, aber sicher größer. Mit geübtem Griff nahm ich ihm den Schal ab und wickelte ihn fest um seinen Oberschenkel. Wenn ich ihn richtig abband, würde ich sein Ende vielleicht noch für eine Weile aufhalten. Dass er nicht mehr zu retten war, sah ich mit einem Blick. Die Arterie war zerfetzt.

»Wer bist du? Woher kennst du meinen Namen?«, fragte ich ihn.

Der Alte verzog sein faltiges Gesicht zu einem Lächeln. »Mein Junge, erinnerst du dich denn nicht?«, antwortete er.

Ich wühlte in meinen Erinnerungen. Mit drei Jahren hatte ich Afghanistan als Vollwaise verlassen. Erinnern konnte ich mich daran aber nicht. Ich wusste ja nicht mal mehr, wie meine Eltern ausgesehen hatten. Ich wusste nur, dass ich die schwarzen Haare und die dunklen Augen meiner afghanischen Mutter, aber die helle Haut meines englischen Vaters geerbt hatte. Einzig meine Tante Nida war mir im Gedächtnis geblieben, wegen des Medaillons mit ihrem Foto, das ich gehütet hatte wie meinen Augenapfel, bis ich es eines Tages hatte zurücklassen müssen.

Aber nein, an den alten Mann, der sterbend vor mir saß, hatte ich nicht die geringste Erinnerung. Wer zur Hölle war er?

»Ich war ein Freund deines Großvaters …« Er stöhnte. »Soul und ich waren … wie Brüder … Wir sind im gleichen Dorf … aufgewachsen … Ich war dabei, als er … getötet wurde.«

»Was kannst du mir darüber erzählen? Warum musste meine Familie sterben?«

Der Alte hustete und versuchte erneut, mich mit seiner zittrigen Hand zu berühren. Seine Augen wurden feucht. »Amir …« Dann liefen ihm die Tränen über das sonnengegerbte Gesicht.

Ich stöhnte genervt und entzog mich seiner Hand. Was sollten diese Sentimentalitäten? Musste der Alte seine letzten Minuten wirklich mit Heulen verschwenden? Ich wollte Antworten, kein Gewinsel.

»Ich muss es wissen!«, fuhr ich ihn an. »Warum wurde meine Familie verhaftet?«

Er wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg und räusperte sich. »Du bist stark, mein Junge, wie dein Großvater … Sie wurden reingelegt. Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen … wurden in eine Falle gelockt …«

»Wer hat sie reingelegt?«

Der Alte stöhnte und versuchte, sich etwas aufzurichten. Er sprach nur noch stockend, und ich hatte Probleme, ihn zu verstehen.

»Sie sollen etwas verraten haben … weiß nicht genau, was … Aber sie hatten … nie einen fairen Prozess … nur Folter … Dann kamen die … Engländer …«

Schwer atmend erzählte er mir von dem Tag, als er meinen Großeltern Essen ins Gefängnis gebracht hatte und Zeuge eines Kuhhandels geworden war, den der MI6 mit den Afghanen betrieb.

»Alles drehte sich um dich, Amir … und um deinen Vater. Britische Staatsbürger … durften nicht sterben …«

Um das Leben meiner Mutter, um das Nidas oder meiner Großeltern, ging es in den Verhandlungen nicht. Mit keiner Silbe wurden sie in den Gesprächen erwähnt. Der MI6 hatte kein Problem damit, wenn man alle bis auf meinen Vater und mich liquidierte – es interessierte ihn einfach nicht. Hauptsache, die britischen Staatsbürger blieben am Leben. Alles andere war egal.

»Aber … auf diesen Deal … ließen sie sich nicht ein …«

Der alte Mann japste und schnappte nach Luft. Er drohte zu sterben, bevor er alles sagen konnte. Ich zog den Schal um seinen Oberschenkel noch enger, aber er hatte schon zu viel Blut...