Die Blausteinkriege 1 - Das Erbe von Berun - Roman

von: T.S. Orgel

Heyne, 2015

ISBN: 9783641168858 , 608 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 11,99 EUR

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Die Blausteinkriege 1 - Das Erbe von Berun - Roman


 

PROLOG

FÄDEN

Lebrec kauerte hinter dem Stamm des Waldriesen und wartete auf den Tod. Der Regen prasselte auf die fleischigen, dunkelgrünen Blätter des Dickichts, das den gewaltigen Baum umgab. Der würzige Geruch des Waldbodens, der Duft von verborgenen Blüten, von Fäulnis, Schimmel und Harz hing schwer in der Luft und überdeckte beinahe den metallischen Gestank des Bluts. Das Wasser rann in schmalen Bächen die rissige Rinde herab, durchtränkte sein Hemd und sorgte dafür, dass sich die Blutflecke ausbreiteten und den hellblauen Stoff langsam violett färbten. Es war jedoch nicht sein Blut, sondern das seines Bruders. Batizor lag neben ihm an den Stamm gelehnt im schwarzen Schlamm, und in seinen offenen Augen sammelte sich das Regenwasser, ehe es wie Tränen über seine Wangen rann und in die Pfütze unter ihm tropfte. Der Blutschwall aus seiner Halswunde war inzwischen zu einem dünnen Rinnsal geworden, und sein Brustkorb bewegte sich nicht mehr. Lebrec wagte es nicht, ihn zu berühren. Batizor mochte tot sein, doch sein Geist war sicher noch da, und Lebrec hatte nicht vor, sich von ihm verhexen zu lassen.

Er schielte nach oben. Der feine, blausilberne Faden hing noch immer über ihnen, sichtbar nur wegen der Regentropfen, die an ihm schimmerten – und den Blutstropfen dazwischen. Vielleicht war es auch die bittere Ironie, die ihm die Tränen in die Augen trieb. Batizor, dessen Talent dafür gesorgt hatte, dass sie das Dickicht des Waldes ungehindert durchqueren konnten, war gestorben, weil er den Fangfaden von Ralld-Spinnen übersehen und sich daran den Hals aufgeschlitzt hatte. Schon bald würden die Ralld kommen, handlange schwarze Spinnentiere in glänzenden schwarzblauen Panzern. Sie würden sich in das Fleisch seines Bruders graben, und während der Körper langsam erkaltete, würden die Insekten ihre Eier darin ablegen und ein neues Nest gründen. Ralld waren die Totengräber dieses Waldes – und wie so viele Kreaturen aus den Sümpfen des Macouban überließen sie den Tod nicht dem Zufall, sondern sorgten selbst dafür, dass es immer reichlich davon gab.

Er durfte hier nicht sitzen bleiben. Doch wohin sollte er jetzt fliehen? Um ihn herum ragten die gewaltigen Stämme der Waldriesen auf. Ein Gewirr aus Luftwurzeln verwandelte den sumpfigen Boden in jede Richtung in ein Labyrinth, und das dichte Blätterdach tauchte alles in ewiges Halbdunkel. Dunstfetzen hingen wie Nebel im Geäst und ließen das Licht noch unwirklicher erscheinen. Lebrec strengte sich an, über dem monotonen Rauschen des Regens irgendwas zu hören, doch der Wald blieb so still, wie der Regenwald des Macouban es eben war. Nein, stiller. Zu still. Noch jemand war hier draußen. Waren seine Verfolger so nahe?

Schließlich gelang es Lebrec, die Starre abzuschütteln. Schniefend schob er sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht und band sein goldgelbes Kopftuch neu. Es wies ihn als Läufer seines Dorfs aus, als Boten und Blausteinsammler, und Lebrec wäre genauso wenig auf den Gedanken gekommen, das auffällige Tuch abzulegen, wie er eines seiner Beine abgelegt hätte. Er war Läufer, und laufen würde er. Auch wenn es jetzt, ohne Batizors Talent, weitaus schwieriger werden würde.

Er zog das geschwungene Messer aus dem Gürtel und fischte mit dessen Hilfe das lederne Band aus Batizors Kragen, peinlich darauf bedacht, den Toten keinesfalls zu berühren. Schließlich griff die Klinge, und er durchtrennte den nassen Riemen mit einem kräftigen Ruck, um den Anhänger aus dem blutigen Hemd zu ziehen. Auf keinen Fall würde er zulassen, dass Batizors Amulett hier zurückblieb und am Ende in die Hände jener fiel, die ihn verfolgten. Er wischte eine blutige Schliere von dem blauen, reich mit Ornamenten beschnitzten Stein. Dann verknotete er den Riemen wieder und hängte sich das Stück Blaustein um den Hals.

»Verzeih mir, Bruder«, murmelte er. »Das Meer wird dich holen, und ich werde ein Feuer für deinen Geist anzünden, damit du den Weg nach Hause findest. Wir werden auf dich warten. Aber jetzt kann ich das nicht. Ich muss nach Tiburone. Ich muss den Fürsten warnen. Wer sollte es sonst tun? Das verstehst du doch?«

Der Tote antwortete nicht.

Ein Krachen im Unterholz ließ Lebrec zusammenfahren. Irgendwo zu seiner Rechten flatterte einer der smaragdgrünen Tauvögel auf und stieg schimpfend in die Kronen der mächtigen Baumriesen. Wieder krachte etwas, und dieses Mal erkannte Lebrec das Geräusch: Eine eiserne Klinge mähte sich durch das Unterholz. Er wirbelte herum. Seine bloßen Füße glitten im schmierigen Morast aus, doch er fing sich und rannte los, weiter auf dem kaum sichtbaren Pfad, dem sie zuvor schon durch das Unterholz gefolgt waren. Dornige Ranken griffen jetzt nach seinen Beinen, zerrten am dünnen blauen Stoff seiner Hose. Das großblättrige Unterholz würde ihn verbergen, wenn er nur weit genug hineinlief. Vielleicht …

Ein kaltes Prickeln zog über seinen Rücken und richtete die Härchen in seinem Nacken auf. Ohne nachzudenken, ließ er sich fallen. Kaum eine Armlänge über ihm flimmerte etwas in der Luft und pflügte eine Schneise von beinahe zwei Schritt Breite durch das Gestrüpp. Blätter, abgeschnittene Zweige und Äste prasselten auf ihn nieder, und nur eine Handbreit vor seinem Gesicht fiel die Hälfte eines großen Leguans in den Schlamm. Lebrec rollte sich zur Seite, kam auf Ellbogen und Knie auf und kroch ins Unterholz rechts des Pfads. So schnell es das Dickicht erlaubte, zwängte er sich durch Ranken und Gestrüpp, ohne auf die Dornen zu achten, die ihm die Haut aufrissen.

Von irgendwo hinter ihm, dort, wo Batizor lag, drangen die Geräusche von Stiefeln in Schlamm zu ihm. Abermals kribbelte seine Haut, und ein zweiter Energiestoß zerfetzte das Gestrüpp weiter den Weg hinab. Es bestätigte nur, was er befürchtet hatte: Zu seinen Verfolgern, allesamt Rotkittel in den Rüstungen Beruns, gehörte mindestens einer der Begabten. Der lange Hakennasige, wenn er sich nicht täuschte. Er war am besten zu Fuß und hatte das Talent, die Luft in eine Klinge zu verwandeln.

Lebrec verzog das Gesicht. Der Hakennasige musste Blaustein verwenden, um sein schändliches Talent zu nutzen, und das in Mengen, mit denen Lebrec und selbst Batizor das nie gewagt hätten. Es würde den Mann unweigerlich umbringen. Aber nicht heute und nicht morgen, und dann war es für Lebrec zu spät.

Hastig robbte er weiter und stieß sich beinahe den Schädel an, als plötzlich der moosbedeckte Stamm eines gestürzten Urwaldriesen vor ihm im Unterholz auftauchte. Frustriert starrte er das faulende Hindernis an. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, über den Stamm zu klettern, um etwas Solides zwischen sich und die schneidende Luft des Hakennasigen zu bekommen. Doch dann erstarrte er. Ein kaum merkliches Flirren hing in der Luft, nur eine Armlänge vor ihm, so als zertrenne etwas den unablässig rauschenden Regen. Ralld-Fangfäden. Aufstehen war vielleicht nicht die beste Idee.

Ein leises Scharren ließ ihn nach oben schauen. Auf dem Stamm konnte er die Umrisse zweier Männer erkennen, beide in eisernen Rüstungen und mit den roten Wämsern, die er so verabscheute. Nur das Dickicht der fleischigen Blätter über ihm verhinderte, dass sie ihn sahen. Ein dritter Windstoß fuhr in das Gestrüpp hinter ihm und ließ Holz, zerfetzte Blätter und Schlamm auf ihn niederregnen. Und in diesem Moment wurde Lebrec klar, dass ihn die Rotkittel in eine Falle gelockt hatten. Sie verfolgten ihn nicht, sondern wussten recht genau, wo er war – und sie hatten ihn in die Enge getrieben. Aber wie …?

Ein schwarzes Insekt von der Größe seines Daumens schwirrte in der Luft herum, kaum einen Schritt entfernt. Es schien auf der Stelle zu stehen und den kleinen Mann unverwandt anzusehen. Natürlich. Lebrec kannte jede Art von Käfer, die dieser Wald zu bieten hatte, aber ein Tier wie dieses hatte er bislang nur zweimal gesehen, beide Male auf dem Gewand eines der Begabten des Feindes.

Als hätte das Insekt seine Gedanken erkannt, schoss es nach oben aus dem Dickicht und stieß ein gellendes Zirpen aus. Die beiden Männer auf dem Stamm hielten inne und blickten herab.

»Da ist er!«, rief einer in diesen harten, polternden Lauten ihrer Sprache.

Leise zischend fuhr Lebrec zurück, gerade als einer der beiden auf ihn herabsprang und in einem Schauer aus Blut beinahe entzweigeschnitten wurde, noch bevor er den Boden erreichte. Der Jagdfaden eines weiteren Ralld-Nests über Lebrecs Kopf zerteilte den Mann fast bis zum Bauch, bevor er mit dem eisernen Panzer hängen blieb. Der Faden riss, und der Söldner kippte unter gellenden Schreien zur Seite, wo er in einen weiteren Faden fiel, der ihm den Kopf von den Schultern trennte.

Der zweite Rotkittel über ihm war langsamer gewesen, was ihm das Leben gerettet hatte. Unsicher starrte er auf die Reste seines Kumpans und dann auf Lebrec. Ohne Zeit zu verschwenden, sprang der Läufer auf und rammte sein Messer hinter dem Beinschutz in die Wade des Söldners. Jetzt schrie auch dieser Mann, stolperte rückwärts, verlor auf der schmierigen Rinde des umgestürzten Baumriesen das Gleichgewicht und fiel rückwärts auf der anderen Seite des Stamms hinab. Lebrec umklammerte das Messer, so fest er konnte, und wurde vom Gewicht des Fallenden in die Höhe gerissen, hinauf auf den Baum, wo er bäuchlings liegen blieb. Platschend schlug unter ihm der Gepanzerte in den Morast.

Der Läufer sah sich um. Etwas weiter entfernt kletterten zwei Männer gerade auf den gewaltigen Stamm. Hinter ihm hatten zwei andere gepanzerte Rotkittel den Pfad erreicht, den er eben erst verlassen hatte, und dort,...