Crazy Horse - Launische Faulpelze, gefräßige Tänzer und schwangere Männchen: Die schillernde Welt der Seepferdchen

Crazy Horse - Launische Faulpelze, gefräßige Tänzer und schwangere Männchen: Die schillernde Welt der Seepferdchen

von: Till Hein

mareverlag, 2021

ISBN: 9783866483958 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 15,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Crazy Horse - Launische Faulpelze, gefräßige Tänzer und schwangere Männchen: Die schillernde Welt der Seepferdchen


 

Prolog


Die Individualisten der Meere


»Ich halte sie für langweilige
und geistlose Geschöpfe.«
Alfred Brehm


Als die britische Meeresbiologin Helen Scales beim Tauchen in Vietnam zum ersten Mal ein Seepferdchen erblickte, war sie wie verzaubert. »Es fühlte sich an«, schreibt sie, »als hätte ich einen Blick auf ein Einhorn erhascht, das durch meinen Garten trottete.« Ich dagegen bin eher der Schnorchler als der Taucher. Seepferdchen kannte ich lange nur aus dem Aquarium im Zoo. Und manche Leute behaupten, mir fehle der Sinn für Romantik. Das erste Seepferdchen, das ich außerhalb der kleinen, geschützten Welt des Zoologischen Gartens sichtete, trottete jedenfalls nicht. Es schwamm auch nicht. Es verhielt sich regungslos. Klein und zierlich lag es auf einem Rost, unter dem Holzkohlen glühten.

Damals wohnte ich in München. Mein Lieblingsplatz war der »Kleine Chinese« an der Fraunhoferstraße. Am besten schmeckte mir dort die Nummer 18: Hähnchen süß-sauer. Einmal führte ich meinen Onkel zum »Kleinen Chinesen« aus, einen Profi-Gewerkschafter, der schon oft in China gewesen war. Nachdem wir genussvoll Nummer 18 verspeist hatten, senkte er die Stimme und vertraute mir ein Geheimnis an. »In ihrer Heimat kochen die Chinesen völlig anders«, flüsterte er. »Noch tausendmal besser!«

Natürlich war ich begeistert, als ich im Sommer 2004 für das Magazin Neon in die chinesische Hauptstadt reisen durfte, um die authentische chinesische Küche im Ursprungsland zu erkunden. Unter anderem lernte ich in Peking, dass es »chinesisches Essen« gar nicht gibt – dafür aber unzählige verschiedene, extrem leckere regionale Varianten der Kochkunst. Besonders faszinierten mich die knallbunten buddhistischen Fastenspeisen aus einer Bergregion mit einem sehr komplizierten Namen und natürlich »Peking-Ente«. Doch die Arbeit als Reporter ist nicht immer ein Zuckerschlecken: Auch gegrillte Schlangenhaut sollte ich kosten – und eben geröstete Seepferdchen. Kostenpunkt für die anmutigen, wenige Zentimeter großen Tierchen mit Pferdekopf vom Grill: umgerechnet fünf Euro.

Damals wusste ich noch kaum etwas über Seepferdchen, außer dass sie toll aussehen. Und ich gestehe: Ich habe eines verspeist. Tierleid hin oder her. Schließlich bin ich kein Vegetarier. Und als Journalist, wusste bereits die TV-Legende Hanns Joachim »Hajo« Friedrichs, darf man sich mit nichts gemeinmachen. Auch nicht mit einer guten Sache wie der fleischlosen Ernährung.

Das Seepferdchen vom Grill hatte eine sandig-körnige Konsistenz. Sein Aroma erinnerte an Pappe und Ruß. »Halb garer Schlangenhaut geschmacklich überlegen«, notierte ich. Aber ich hatte auch als junger Mensch schon mal besser gegessen. Manchen Berufsfeinschmeckern dagegen scheint gegrilltes Seepferdchen zu munden, erfuhr ich Jahre später aus einem Fachblatt. »Wie grob gemahlene Nüsse«, schwärmte ein Gastrokritiker des Kulinarik-Magazins Beef! in seinem Artikel. Auch er hatte in China Seepferdchen vom Grill gekostet. Vielleicht können diese Tierchen also nicht nur ihre Farbe, sondern auch ihr Aroma verändern?

Zuzutrauen wäre es ihnen. Denn Seepferdchen sind die großen Individualisten der Meere. Echte Freaks. Selbst Fachleute wundern sich mitunter, dass solche Wesen tatsächlich existieren. »Als Gott das Seepferdchen erschuf«, sagt der Meeresbiologe und Fischexperte Jorge Gomezjurado aus Baltimore, der viele Jahre über diese Tiere geforscht hat, »war er wahrscheinlich besoffen.« Gut möglich, dass der Alkohol den Herrgott erst so richtig locker gemacht hat. Jedenfalls hat er bei kaum einem anderen Geschöpf auf eine ähnlich schrille Konstruktionsformel gesetzt wie bei den Seepferdchen: ein Torso mit Tragebeutel wie bei einem Känguru, unabhängig voneinander bewegliche Chamäleon-Augen, eine lang gezogene Schnauze wie bei einem Ameisenbär sowie eine Art Affenschwanz zum Festklammern. Dazu eine Krone auf dem Haupt, so individuell ausgestaltet wie der Fingerabdruck beim Menschen. Wozu das alles gut sein mag?

Die Lebensweise der Seepferdchen ist nicht minder eigen als ihre Physiognomie, erfuhr ich bei der Recherche zu diesem Buch. Und die Menschheit könnte viel von diesen Tierchen lernen: Sauteure Manager-Workshops zur »Entschleunigung« benötigen die Rosse der Meere jedenfalls nicht, und sie sind auch keine Risikopatienten für Herzinfarkt. Sowohl den Hengsten als auch den Stuten der See scheinen Hektik und Stress völlig fremd zu sein. Was die Gemächlichkeit bei der Fortbewegung angeht, halten Seepferdchen sogar einen Rekord: Das Zwergseepferdchen (H. zosterae) ist der langsamste Fisch der Welt. Und auch im Vergleich zu den meisten anderen Rossen der Meere sind an Land selbst Weinbergschnecken erstklassige Sprinter. Fraglich also, ob Seepferdchen bei ihrem lahmen Tempo im Wasser das Schwimmabzeichen »Seepferdchen« schaffen würden.

Ihre Ausstrahlung ist meditativ, nicht aggressiv. Aber Seepferdchen sind Raubtiere, trotz ihres niedlichen Aussehens. Ihre enorme Gefräßigkeit ist sogar ähnlich charakteristisch wie ihr einschläfernd langsames Schwimmen: Bereits ein zwei Wochen junges Seefohlen verschlingt pro Tag bis zu 4000 Kleinstkrebse. Wie aber können solche Phlegmatiker in der Wildnis überhaupt Beute machen? Zumal sich die Rosse der See erstaunlich laut verhalten: Zwar schnauben und wiehern sie nicht, doch auf der Jagd, beim Flirten und bei Frustrationen aller Art geben sie rätselhafte Knackund Brummgeräusche von sich. Das Kuriose: Seepferdchen sind schwerhörig. Sie nehmen Töne deutlich weniger gut wahr als viele andere Fische – und riskieren durch den selbst erzeugten Lärm, dass Fressfeinde auf sie aufmerksam werden. Forscher wie der Zoologe und Bioakustiker Friedrich Ladich von der Universität Wien erkunden, warum sie dennoch nicht die Schnauze halten (vgl. Kapitel 7).

In der Welt der Wissenschaft werden Seepferdchen seit 1570 als Hippocampi (Einzahl: Hippocampus) bezeichnet – die Gattung wird in diesem Buch jeweils mit H. abgekürzt, es folgt die lateinische Bezeichnung der Art, zum Beispiel H. zosterae für Zwergseepferdchen –, nach dem Meeresungeheuer Hippokampos aus der griechischen Mythologie der Antike. Hippos bedeutet auf Altgriechisch »Pferd«, kampos steht für »Seeungeheuer« – und der Kopf dieser Tiere ähnelt bekanntlich dem eines Pferdes, während der Hinterleib fisch- oder schlangenartig aussieht.

Doch worum handelt es sich bei Seepferdchen aus biologischer Sicht? Im Mittelalter vermuteten Kaufleute aus Europa beim Anblick solcher Wesen, Babydrachen von fernen Inseln vor sich zu haben. Und frühe Naturwissenschaftler klassifizierten die Seepferdchen als »Insekten der Meere«. In Wirklichkeit aber gehören sie ins Reich der Fische, auch wenn das auf den ersten Blick – schon mangels Schuppen – nicht so aussehen mag.

Seepferdchen sind sehr verschieden: Manche ausgewachsene Seepferdchen sind kleiner als ein menschlicher Fingernagel, andere erreichen eine Länge von bis zu 35 Zentimetern. Zwergseepferdchen (H. zosterae) werden nicht einmal ein Jahr alt, europäische Langschnäuzige Seepferdchen (H. guttulatus) hingegen bringen es auf bis zu zwölf Jahre, zumindest im Aquarium. Dafür sind Zwergseepferdchen schon mit knapp drei Monaten geschlechtsreif, und in einem einzigen Jahr können bei dieser Art drei neue Generationen entstehen.

Mehr als 120 unterschiedliche Spezies von Seepferdchen haben Wissenschaftler über die Jahrhunderte beschrieben. In manchen Fällen meinten sie es dabei allerdings zu gut: In Wahrheit gibt es wohl nicht einmal halb so viele Arten dieser Tiere, zeigt die neuere Forschung. Es ist aber auch gut möglich, dass wieder andere Seepferdchenarten noch nie gesichtet wurden. Denn diese Fische sind Meister der Tarnung. Viele können ihre Farben nach Lust und Laune wechseln: von Taubenblau zu Moosgrün etwa oder von Purpurrot mit pinkfarbenen Knubbeln zu Gelb mit orangefarbenen Höckern. Andere Spezies zeigen entweder schwarze Streifen, gelbe Punkte oder ein grün-graues Camouflage-Muster. Viele Forscherinnen und Forscher sind überzeugt, dass das veränderliche Farbenspiel nicht nur der Tarnung dient, sondern – wie die Klick- und Brummtöne – auch der Kommunikation mit Artgenossen.

So mancher große Geist liebte die Rosse der Meere: »Die Wunderwerke Gottes und die Geschicklichkeit der Natur erzeigen sich in vielen wunderbarlichen Geschöpfen«, schrieb etwa der renommierte Naturforscher Conrad Gesner aus Zürich im 16. Jahrhundert, »inbesonderheit in diesem gegenwärtigen Meerthier oder Fisch.« Doch wie fast alles Interessante auf der Welt polarisieren auch Seepferdchen. »Ich halte sie für langweilige und geistlose Geschöpfe«, notierte der Zoologe Alfred Brehm aus Thüringen, Verfasser des berühmten Nachschlagewerks Brehms Tierleben, rund 300 Jahre nach Gesner über diese geheimnisvollen Flossentiere.

Ob Seepferdchen zu geistigen Höhenflügen in der Lage sind, ist in der Tat umstritten. Manche Zoologen gehen inzwischen davon aus, dass Fische so etwas wie »Bewusstsein«...