Frevelopfer - Island-Krimi

von: Arnaldur Indriðason

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2011

ISBN: 9783838710754 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Frevelopfer - Island-Krimi


 

Eins

Er zog seine schwarze Jeans, ein weißes Hemd und ein bequemes Jackett an, schlüpfte in seine besten Schuhe, die er sich vor drei Jahren zugelegt hatte, und ging im Geiste bestimmte Lokale in der Innenstadt durch, die eine von ihnen ihm gegenüber erwähnt hatte.

Während er vor dem Fernseher saß und den richtigen Zeitpunkt abwartete, um in die Stadt zu gehen, mixte er sich zwei Drinks. Er durfte nicht zu früh los, weil dann womöglich jemand auf ihn aufmerksam werden würde, wenn er zu lange in einem halb leeren Lokal herumhing. Genau das galt es zu vermeiden. Das Wichtigste war, in der Menge unterzutauchen, nicht aufzufallen, ein Gast wie jeder andere zu sein. Er durfte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken, musste unbemerkt bleiben. Falls ihm später wider Erwarten Fragen gestellt würden, hatte er den ganzen Abend zu Hause vor dem Fernseher verbracht. Wenn alles nach Wunsch verlief, würde niemand sich daran erinnern, ihn irgendwo gesehen zu haben.

Als es Zeit war, stand er auf, trank sein Glas aus und verließ das Haus. Er war ein wenig angeheitert. Seine Wohnung lag in der Nähe des Zentrums, und im herbstlichen Dunkel steuerte er zu Fuß die erste Kneipe an. In der Innenstadt wimmelte es bereits von Menschen, die sich ins Wochenendvergnügen stürzen wollten. Türsteher bauten sich vor den Eingängen auf, und die Leute beschwerten sich, wenn sie nicht gleich eingelassen wurden. Musik drang bis auf die Straße hinaus. Der Essensgeruch aus den Restaurants vermischte sich mit dem Alkoholdunst aus den Kneipen. Schon jetzt waren einige Leute betrunken. Er fand sie abstoßend.

Nach relativ kurzer Wartezeit wurde er eingelassen. Das Lokal war im Moment zwar nicht besonders angesagt, doch an diesem Abend war es brechend voll. Das war gut so. Auf seinem Weg durch die Stadt hatte er bereits nach Mädchen oder jungen Frauen Ausschau gehalten, die möglichst nicht über dreißig und nicht mehr ganz nüchtern sein durften. Sie sollten etwas beschwipst sein, aber nicht zu sehr.

Er verhielt sich unauffällig und fühlte noch einmal in seiner Jackentasche nach, ob er es dabeihatte. Das hatte er schon mehrmals auf dem Weg in die Stadt gemacht und dabei überlegt, dass er wohl einer von diesen nervösen Typen war, die dauernd alles kontrollieren mussten: ob sie die Tür zugeschlossen hatten, ob sie die Schlüssel auch nicht vergessen hatten, ob die Kaffeemaschine wirklich ausgestellt war, ob noch eine Herdplatte an war. Das war schon eine regelrechte Manie bei ihm, er hatte in einem Lifestyle-Magazin über derartige Zwangshandlungen gelesen. In demselben Artikel stand auch etwas über einen anderen Tick, den er hatte. Er wusch sich zwanzig Mal am Tag die Hände.

Die meisten Leute hatten ein großes Bier vor sich stehen, und er bestellte sich ebenfalls eines. Der Barkeeper nahm ihn kaum wahr, und er bezahlte nicht mit Karte, sondern bar. Es war ein Leichtes für ihn, in der Menge unterzutauchen. Die meisten anderen Gäste waren in seinem Alter und saßen oder standen mit Freunden oder Arbeitskollegen zusammen. Der Lärm war ohrenbetäubend, da die Leute versuchten, die gellende Rap-Musik zu übertönen. Er blickte sich in aller Ruhe um und sah einige Cliquen von Freundinnen, aber auch Frauen, die mit ihren Partnern da zu sein schienen, doch keine Frau ohne Begleitung.

Er verließ die Kneipe, noch bevor er das Glas ausgetrunken hatte. Im dritten Lokal entdeckte er eine Frau, die er kannte. Seiner Schätzung nach war sie um die dreißig, und sie schien allein zu sein. Sie saß zwar zusammen mit etlichen anderen an einem großen Tisch in der Raucherzone, aber sie gehörte offenbar nicht zu der Gruppe. Sie nippte an einer Margarita, und während er sie aus einiger Entfernung beobachtete, rauchte sie zwei Zigaretten. Das Lokal war brechend voll, aber keiner von den Typen, die sich mit ihr unterhielten, schien zu ihr zu gehören. Zwei Männer sprachen sie an, doch sie schüttelte den Kopf, woraufhin sie wieder abzogen. Ein dritter stand eine Weile neben ihr und schien entschlossen zu sein, sich nicht abwimmeln zu lassen.

Sie war dunkelhaarig, sah gut aus und war ein wenig kräftig gebaut. Sie war geschmackvoll gekleidet und trug einen Rock und ein helles T-Shirt, auf dem »San Francisco« stand. Eine kleine Blume lugte aus dem F hervor. Um die Schultern hatte sie ein schönes Tuch drapiert.

Sie machte diesem hartnäckigen Verehrer unmissverständlich klar, dass sie ihn loswerden wollte, und er hatte den Eindruck, als würde er sie anpöbeln. Er ließ der Frau ein wenig Zeit, um sich wieder zu fangen, bevor er zu ihr hinüberging.

»Bist du schon einmal dort gewesen?«, fragte er.

Die dunkelhaarige Frau sah hoch, schien ihn aber nicht gleich zu erkennen.

»In San Francisco«, sagte er und deutete auf das T-Shirt.

Sie sah auf ihre Brust.

»Du meinst das hier?«, antwortete sie.

»Eine zauberhafte Stadt«, sagte er. »Da solltest du unbedingt mal hin.«

Sie sah ihn an und war sich augenscheinlich nicht sicher, ob sie ihn, genau wie den anderen, abblitzen lassen sollte. Doch auf einmal schien sie sich zu erinnern, dass sie ihn schon einmal getroffen hatte.

»Da ist unheimlich viel los«, sagte er. »In Frisco. Es gibt so viel zu sehen.«

Sie lächelte.

»Du hier?«, sagte sie.

»Ja. Nett, dich zu treffen. Bist du allein?«

»Allein? Ja.«

»Warst du schon mal in Frisco? Da musst du unbedingt hin.«

»Ich weiß, ich bin …«

Ihre Worte gingen im Lärm unter. Er befühlte noch einmal seine Jackentasche und beugte sich zu ihr hinunter.

»Der Flug ist ziemlich teuer«, sagte er. »Aber ich meine … Ich bin einmal dort gewesen, es war fantastisch. Eine zauberhafte Stadt.«

Er verwendete gewisse Worte ganz bewusst. Sie sah zu ihm hoch, und er stellte sich vor, wie sie an den Fingern einer Hand abzählte, wie viele junge Männer sie in ihrem Leben schon getroffen hatte, die Wörter wie »zauberhaft« in den Mund nahmen.

»Ich weiß, ich war schon mal dort.«

»Ach so. Darf ich mich vielleicht zu dir setzen?«

Sie zögerte einen Augenblick und rückte dann ein Stück zur Seite, um Platz zu machen.

Niemand in der Kneipe schenkte ihnen besondere Aufmerksamkeit, auch nicht, als sie eine gute Stunde später gemeinsam das Lokal verließen und auf wenig frequentierten Straßen zu ihm nach Hause gingen. Da hatte das Mittel bereits angefangen zu wirken. Er hatte sie zu einer weiteren Margarita eingeladen. Als er mit ihrem dritten Drink von der Bar zurückkam, glitt seine Hand in die Jackentasche, und er gab das Mittel in ihr Getränk. Sie hatten sich gut unterhalten, und er wusste, dass sie keine Schwierigkeiten machen würde.

Die Meldung erreichte die Kriminalpolizei zwei Tage später. Elínborg nahm sie entgegen und gab den Einsatzbefehl. Angehörige der Verkehrspolizei hatten die Straße im Þingholt-Viertel bereits abgesperrt, als Elínborg und ihre Kollegen von der Spurensicherung eintrafen. Sie sah den Vertreter des Amtsarztes aus seinem Auto steigen. Zunächst durfte nur die Spurensicherung hinein, um ihre Untersuchungen vorzunehmen. Sie legten den Tatort auf Eis, wie sie sich ausdrückten.

Elínborg leitete unterdessen alles Notwendige in die Wege und wartete geduldig auf das Zeichen, dass sie die Wohnung betreten durfte. Fernseh- und Zeitungsreporter fanden sich ein, und sie beobachtete sie bei der Arbeit. Sie waren lästig, und einige wurden sogar unverschämt den Polizisten gegenüber, die ihnen den Zugang zum Gelände versperrten. Elínborg kannte zwei oder drei aus dem Fernsehen, einen Talkshow-Moderator, der vor kurzem zum Nachrichtenredakteur avanciert war, und einen Mann, der ein politisches Diskussionsforum leitete. Sie hatte keine Ahnung, was der unter den Reportern verloren hatte. Elínborg, die zu den ersten weiblichen Angehörigen der Kriminalpolizei gehörte, erinnerte sich, dass die Reporter früher sowohl höflicher als auch weniger zahlreich gewesen waren. Die Zeitungsreporter waren ihr etwas sympathischer als die Fernsehleute. Die Vertreter des gedruckten Worts nahmen sich mehr Zeit, sie waren gelassener und nicht so aufdringlich und wichtigtuerisch wie diejenigen mit den Fernsehkameras auf den Schultern. Einige von ihnen konnten sogar durchaus gute Texte schreiben.

Die Leute in den benachbarten Häusern standen an den Fenstern oder waren vor die Tür getreten und standen nun mit vor der Brust verschränkten Armen in der kühlen herbstlichen Luft. Man sah ihnen an, dass sie nicht die geringste Ahnung hatten, was vorgefallen war. Sie wurden bereits von einigen Polizisten befragt, ob sie etwas Ungewöhnliches in der Nähe des Hauses oder in der Straße bemerkt hatten, ob sie Menschen in der Nähe des Hauses gesehen hatten, ob sie sich hier auskannten oder dieses Haus schon einmal betreten hatten.

Elínborg hatte früher einmal in einer Mietwohnung im Þingholt-Viertel gelebt, noch bevor dieser Stadtteil in Mode gekommen war. Sie hatte sich wohlgefühlt in diesem altehrwürdigen Stadtteil, der sich an den Hängen oberhalb des Stadtzentrums ausgebreitet hatte. Die Häuser stammten aus unterschiedlichen Zeiten und spiegelten ein Jahrhundert Reykjavíker Architekturgeschichte wider; es gab sowohl bescheidene Arbeiterunterkünfte als auch Villen von Unternehmern. Arbeitende Bevölkerung und Oberklasse hatten hier immer einträchtig nebeneinandergewohnt. Jetzt lockte das Viertel junge Leute an, die sich aus Protest gegen die sich in alle Richtungen ausdehnenden Außenviertel lieber im Herzen der Stadt einnisteten. Künstler und alle möglichen modisch gekleideten Menschen zogen in die Häuser ein, und die Superreichen kauften die alten Villen der Großimporteure. Die Anwohner schienen die Postleitzahl des Viertels wie eine Identifikationsmarke vor sich...