Post vom schwarzen Schaf - Geschwisterbriefe

von: Brigitte Reimann, Angela Drescher, Heide Hampel

Aufbau Verlag, 2018

ISBN: 9783841216366 , 416 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

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Post vom schwarzen Schaf - Geschwisterbriefe


 

1960


1  An die Eltern


Hoy., am 3. 2. 60

Liebe Mutti, lieber Vati, liebe Familie,

[…] Einen schönen Gruß an Gretchen1! Sie muß froh und glücklich sein, daß sie ein Baby haben darf, und wir beneiden sie sehr. Hoffentlich ist Lutz rechtzeitig aus Rostock zurück. Er wird sich schwerlich noch auf seine Prüfungen konzentrieren können – eine scheußliche Situation, wenn man bedenkt, was von diesen letzten Prüfungen abhängt. Wir haben auch mächtigen Appetit auf ein Baby […]

Eure Brigitte […]

2  Von Ulrich Reimann


Schwerin, den 6. 2. 1960

Liebe Brigitte, lieber Daniel2,

[…] Wenn ich daran denke welche Angst wir vor dem Beginn des neuen Ausbildungsjahres [hatten], so muß ich heute beinahe lachen. Es wird eben auch hier längst nicht so heiß gegessen wie gekocht. Natürlich gibt es Stunden, in denen man schimpft. Augenblicklich hängt das mit dem Wetter zusammen, denn wenn man mal draußen ist, wird nicht viel getan und entsprechend [gefroren]. […]

Eine andere unangenehme Sache ist vor zwei Wochen ein 15-km Gepäckmarsch gewesen. Obwohl es einige Grade minus war, haben wir ganz schön geschwitzt. Das Gute ist ja nur, daß man nach ein paar Stunden alles wieder vergessen hat, was man an Anstrengungen hinter sich hat. Genauso wird es uns nachher Ende Februar im Winterlager ergehen. Wir werden da in Erdbunkern schlafen, aus der Gulaschkanone essen und was sonst noch zum »Landserleben« in der Taiga gehört. […] Ich habe mir übrigens einen E-Rasierer zugelegt. Immer modern, schließlich ist man ja Soldat. Nächsten Sonntag will ich übrigens wieder heim. Die Schule hat Fasching, außerdem hoffe ich, daß Gretchen und Lutz dann schon drei sind. Aber die Chancen stehen 1:10 gegen mich. […]

Zu Deiner Bemerkung, Brigitte, 20 m2 Bohnern sei eine Sklavenarbeit, möchte ich nur bemerken, daß unsere Bude 54 m2 groß ist und Sonnabends auch von einem Mann eingebohnert werden muß …

Ansonsten bin ich damit vollkommen einverstanden, daß die Armeezeit in Bezug auf Selbständigkeit eine gute Schule [sei]. […] Ein paar Vorteile muß man auch für zwei verlorene Jahre haben.3

Ich muß mich jetzt verabschieden, denn der Dienst ruft: Essen (Gegen das ist Brigittes bestimmt königlich). […]

Euer U.

P. S. Bei Fehlern nicht so genau hinsehen, es sollte schnell gehen und außerdem lese ich meine eigenen Briefe zu ungern.

3  An die Eltern


Hoy., am 11. 2. 60

Liebe Familie,

(speziell für jeden einzelnen eine originelle Anrede auszudenken, fällt mir heute etwas schwer – wir haben bis um zwei unseren ersten Hochzeitsjahrestag4 gefeiert) […]. Daß der Krümel5 Lutz schon angesehen hat (nicht auch angelächelt?), wundert uns gar nicht. Wenn Lutz nächstens aus dem Krankenhaus die Nachricht mitbringt, daß der jüngste Reimann-Ableger schon »Papa« gemurmelt hat, glauben wir es auch. – Für Dich, lieber Lutz-Bruder, bei dieser Gelegenheit viele ehrfürchtige Glückwünsche zur Eins im Staatsexamen. Ich habe übrigens keinen Augenblick daran gezweifelt, daß Du es schaffen würdest – obgleich es natürlich nur, wie ich Dich kenne, ein erstaunlicher Zufall und ganz unverdiente Glückssache war. […]

Für »Oma« und »Opa« (du lieber Himmel – und das bei Eurer Jugend! Wenn Ihr mit dem Krümel ankommt, halten sie ihn für Euren jüngsten Sohn) […] die allerherzlichsten Grüße und – hoffentlich bald – auf Wiedersehen!

Eure Brigitte

4  Von Dorothea Reimann


Burg, d. 15. 2. [60]

Liebe Pitschmänner!

[…] Heute ist Gretchen mit Krümel aus dem Krankenhaus gekommen. Der kleine Kerl ist eine süße Nudel. […] Manchmal grinst er oder schneidet Grimassen. Bald so wie Daniel. […] Gestern + heute habe ich mir eine Bluse genäht + Brigittes Sachen will ich noch machen. Schreibt Ihr Euch noch mit der Modedozentin Irmgard Herfurt6? […] würdet Ihr mal so freundlich sein + fragen, was man für Aussichten hat, wenn man Abi hat und Schneiderin gelernt hat. Ich will […] dann vielleicht Modezeichnerin werden oder […] irgendsoetwas wie Kunstgewerbe studieren. […] Wenn Brigitte ihr Mädchenbuch7 fertig hat, könnte sie mir mal das Manuskript zur Beurteilung schicken. Ich bin schon gespannt. […]

Eure Dorli

5  An Dorothea Reimann8


17. 2. 60

Leider muß ich Dir mit der Hand schreiben; es ist schon ziemlich spät, und wenn ich die Schreibmaschine nehme, hört mich der ganze Block tippen.

Du fragst nach meinem Jugendbuch. Ich arbeite sehr angestrengt daran, denn ich will spätestens nächste Woche die beiden ersten Kapitel an das Neue Leben schicken […]

Ich werde Dir einen Durchschlag mitbringen. Dein Urteil interessiert mich sehr, denn das Buch wird vor allem für Mädchen in Deinem Alter und von Deiner Schulbildung geschrieben. Es ist die Geschichte von drei Oberschülern  – einem Mädchen und zwei Jungs –, die ihr praktisches Jahr im Kombinat machen und dabei natürlich eine Menge Schwierigkeiten zu überwinden haben. Klar, daß auch eine Brigade mitspielt, und ich möchte »meine« Schweißerbrigade9 als eine Art Modell nehmen. Hier passieren wirklich viele spannende Sachen. Bloß – offen gestanden: Ich weiß noch gar nicht, wie mein Buch eigentlich weitergehen soll; bis jetzt kenne ich bloß meine drei Hauptpersonen […]. Aber was sie erleben sollen – keine Ahnung! Das klingt ganz gewissenlos oder mindestens leichtsinnig, nicht wahr? Aber manchmal werden gerade die Bücher am besten […].

Nun zu Deinem Berufswunsch: Hast Du Dir das auch gut überlegt? Natürlich ist es in Ordnung, wenn Du schneidern lernst, bevor Du das Studium beginnst – aber soviel ich weiß, sind Berufe wie Modezeichnerin (wofür Du noch dazu ein ausgeprägtes Zeichentalent brauchst) und Kunstgewerblerin ziemlich überlaufen, und man wird wohl auch nicht besonders bezahlt. […] Ich glaube, als Textilingenieur oder so was hast Du mehr Chancen.

6  Von Dorothea Reimann


Burg, den 1. 4. 60

Liebe Pitschmänner!

Genau heute vor einer Woche kam Euer Päckchen. Ich durfte natürlich noch nicht aufmachen und war sehr gespannt. Ich weiß, daß Ihr immer irgendeine Überraschung mitschickt. […] Natürlich habe ich den schicken Pullover gleich anprobiert, und er paßt prima. Für mich gerade die richtige Form, nämlich etwas weit und lang genug. Ich muß ja schließlich als Teenager oder Lullaby so etwas tragen. Ich ziehe ihn seit Montag zur Schule an und bin mächtig stolz. […] In dem Buch, das heißt in dem Kompaß-Buch10, habe ich gleich gelesen und festgestellt, daß man »Die Frau am Pranger« beim zweiten Mal auch noch bärenmäßig spannend findet. Ich glaube die Pitschmann kann doch schreiben. Findest Du auch Daniel? […] Unser Krümel liegt neben mir im Körbchen + ich stecke ihm immerzu den Nuckel in den Mund, weil er sonst schreit. Er ist noch niedlicher geworden und kann schon schön lachen. Natürlich nicht über Witze. […]

Mutti und Vati waren […] in Berlin. Sie haben hübschen roten Bezugsstoff gekauft und noch einiges im Westen. […] für Gretchen und meine Wenigkeit, haben sie je 2½m Schaumgummi für Petticoats + Strümpfe mitgebracht […].Lutz war auch vorigen Sonntag und Montag da. Es ist jetzt beschlossen, daß sie am Ende des Aprils gehen. […]

Bye – bye Euer Teenager – Lullaby – Halbzarte Dorli

7  Tagebuch


Berlin, am 29. 4. 60

[…] Lutz ist mit Gretchen und dem Krümel in den Westen gegangen (er ist eben jetzt – vielleicht nur zwei oder drei Kilometer entfernt und dennoch unerreichbar – im Flüchtlingslager Marienfelde11). Spüre zum erstenmal schmerzlich – und nicht nur mit dem Verstand – die Tragödie unserer zwei Deutschland. Die zerrissenen Familien, das Gegeneinander von Bruder und Schwester – welch ein literarisches Thema! Warum wird es von keinem gestaltet, warum schreibt niemand ein gültiges Buch? Furcht? Unvermögen? Ich weiß nicht. Lutz ist ein Wirrkopf. Er wollte vor der Partei nicht katzbuckeln – er wird es vor seinen Kapitalisten tun müssen. Er wird, sagt er, immer dafür eintreten, daß das Großkapital enteignet wird; er glaubt an den Sieg des Sozialismus – und trotzdem geht er. Es gibt eine Menge Entschuldigungen für ihn, sicher: er ist politisch falsch angefaßt worden; eine schlechte und, glaube ich, ungerechte Beurteilung der Parteigruppe hängt ihm an; eine Stellung, die seinen Fähigkeiten nicht angemessen ist; keine geringste Aussicht auf eine Wohnung, und trotzdem […] Im Prinzip verurteile ich sein Handeln – aber Lutz ist mein Bruder, ich liebe ihn, wir haben uns viele Jahre lang gut verstanden. […] Ich bin sehr traurig. Ich weinte, als ich an der Tür Muttis Stimme hörte, ihr zerbrechendes »Auf Wiedersehen«. Aber man sollte sich doch allmählich mit dem Gedanken vertraut machen, daß Familien auseinanderfallen, Kinder das Elternhaus verlassen, Geschwister einander ferner rücken, neue Kreise, neue Menschen finden. […]

8  Tagebuch


Hoy, 18. 7. 60

Ein paar Sätze aus dem jüngsten Brief12 meines Lutz-Bruders: »Seit...