Gefahrenzone

von: Andrea Kane

beTHRILLED, 2018

ISBN: 9783732551378 , 494 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 4,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Gefahrenzone


 

1


Montag, 5. September, Labor Day
17.45 Uhr, New York City

Man hatte auf ihn geschossen.

Er hatte den Schützen nicht gesehen, nicht einmal gehört. Als der Schuss fiel, spürte er auch schon den brennenden Schmerz im Rücken. Er wurde gegen das Panoramafenster geschleudert, durch das er hinausgeschaut hatte, streckte eine Hand aus und stützte sich an der Scheibe ab. Er schaffte es, sich halb umzudrehen und zur Tür seines Büros zu schauen.

Doch wer immer geschossen hatte, war verschwunden.

Schmerz durchfuhr ihn wie eine Messerklinge; dann überkam ihn Schwäche, und seine Beine gaben nach. Er versuchte noch, sich am Schreibtisch festzuhalten, griff aber ins Leere und stürzte auf den Teppich. Seine Hände konnten den Aufprall kaum bremsen. Instinktiv drehte er den Kopf zur Seite, um sein Gesicht zu schützen. Er bekam nicht mehr richtig Luft. Als er dann doch einen Atemzug nahm, stieg ihm zugleich ein süßlicher, Übelkeit erregender Geruch in die Nase.

Er veränderte seine Lage ein wenig und versuchte, durch den Mund zu atmen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Teppich feucht war und immer feuchter wurde, da irgendetwas Klebriges ihn durchtränkte. Mein Blut, dachte er verwirrt und spürte die nahende Ohnmacht, konnte sich aber nicht bewegen, nicht zur Tür kriechen. Die Schnur des Telefonhörers hing vom Schreibtisch, aber er kam nicht heran. Er versuchte zu rufen, brachte aber keinen Laut hervor. Außerdem – was sollte das nutzen? Heute war Labor Day, ein Feiertag. In der Firma war keine Menschenseele, außer ihm selbst und Dylan Newport. Und Dylans Büro lag auf der anderen Seite des Gebäudes. Es brachte nichts, Lärm zu machen. Carson konnte nur hoffen, dass Dylan erschien, bevor es zu spät war.

Er hörte Schritte näher kommen.

»Okay, Carson, ich hab die Akten, die du wolltest. Wir können sie später durchgehen. Jetzt sollten wir erst mal über diese persönliche Sache sprechen, die ich … mein Gott!« Dylan warf die Papiere hin und war wie der Blitz neben Carson Brooks. »Kannst du mich hören?«, rief er und fühlte den Puls.

»Ja …« Carsons Stimme klang rau und schwach. »Angeschossen«, brachte er hervor und leckte sich die trockenen Lippen.

Dylan sprang auf. »Nicht sprechen! Ich rufe einen Rettungswagen.« Er schnappte sich das Telefon, wählte den Notruf. »Hier Dylan Newport«, sprudelte er hervor. »Ich rufe von Ruisseau an, 57. Straße West. Ein Mann wurde angeschossen.« Pause. »Keine Namen, keine Presse. Schicken Sie nur einen Rettungswagen, und zwar schnell. Ja, er ist noch bei Bewusstsein, aber sehr schwach. Er hat viel Blut verloren. Sieht aus, als hätte es ihn im Rücken erwischt.« Wieder eine kurze Pause. »Ja. Gut. Schicken Sie den Rettungswagen. Jetzt. Elfter Stock, südöstliche Ecke des Gebäudes.«

Er knallte den Hörer auf die Gabel und kniete sich wieder neben den Verletzten. »Lieg still. Beweg dich nicht. Der Rettungswagen ist unterwegs.«

»Unverschämter Kerl …«, spottete Carson mit schwacher Stimme. »Ich bin noch nicht mal tot, und er gibt schon Befehle …«

Dylan erwiderte etwas, doch Carson konnte es nicht verstehen. Er hatte das Gefühl, außerhalb seines Körpers zu schweben. Fühlte sich so das Sterben an? Dann war es gar nicht so schlimm. Ärgerlich war nur, dass er so viele Dinge noch nicht erledigt hatte. Vor allem blieb die eine große, ungelöste Frage, die er nun als Geheimnis mit ins Grab nehmen würde.

Achtundzwanzig Jahre. Schon seltsam, dass es erst vor kurzem so wichtig geworden war. Und jetzt, als er endlich etwas unternehmen wollte, wurde ihm die Möglichkeit dazu genommen.

»Verdammt, Carson, bleib wach!«

Er hätte Dylan gern geantwortet, doch seine Gedanken schweiften in eine andere Zeit, eine Zeit vor achtundzwanzig Jahren, in ein anderes Leben. Zu dem zentralen Ereignis, das über sein Schicksal entschieden hatte. Damals war das Samenkorn gepflanzt worden, aus dem ein Imperium gewachsen war.

Ein Samenkorn. Was für eine ironische Metapher.

Ein Same … zwanzigtausend Dollar. Kein Risiko, keine Verpflichtungen, nichts zu verlieren. Was für ein Handel.

Stan hatte Recht gehabt. Es war ein Handel gewesen – ein Handel, der sein Leben verändert hatte.

Und vielleicht ein anderes Leben hatte entstehen lassen.

Carson, du hast es. Die Intelligenz. Das Aussehen. Die Jugend. Den Charme. Setz es ein. Wenn sie anbeißt, kannst du ’ne hübsche Stange Geld verdienen.

Sie hatte angebissen. Und er hatte kassiert.

Von diesem Tag an hatte er das Feld beackert. Hatte nie zurückgeschaut. Nicht bis vor wenigen Wochen. Schon seltsam, wie der fünfzigste Geburtstag einen Mann dazu bringen konnte, Bilanz zu ziehen …

»Wo ist er?«

Stimmen. Rasche Schritte. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln und Krankenhaus.

Sanitäter.

»Hier.« Dylans drängende Stimme, als er die Männer hereinführte. »Es ist Carson Brooks.«

Seine Lider flatterten. Durch einen Nebel nahm er zwei Beinpaare in Rettungsuniformen wahr.

Die Sanitäter knieten neben ihm nieder und machten sich an die Arbeit.

»Puls hundertfünfzig.«

»Blutdruck hundert zu sechzig.«

»Das ist für Carson sehr niedrig.« Dylans Anwaltsstimme. Schneidend. Respekt einflößend. Eine Stimme, die selbst seine gefährlichsten Gegner beeindruckte. »Normalerweise hat er hundertfünfzig zu hundert. Er leidet an Bluthochdruck und nimmt Dyaxide.«

»Wissen Sie, ob er sonst regelmäßig Medikamente einnimmt?«

»Nein.«

»Okay.« Carson spürte einen Druck im Rücken. Seine Lider wurden gehoben, seine Augen von einem nadelstichartigen Licht geblendet. »Die Pupillen sind geweitet. Können Sie mich hören, Mr Brooks?«

»Ja …«

»Gut. Bleiben Sie ganz ruhig. Wir versuchen, die Blutung zu stoppen.«

»Atmung flach.«

»Sauerstoff. Er muss auf die Trage. Los!«

»Sofort.« Zwei weitere Sanitäter waren ins Zimmer gekommen und machten sich an ihren Geräten zu schaffen.

Träge schweifte Carsons Blick zu dem komplizierten Muster des Orientteppichs. Die Blumen wiesen mehr Rot auf als vorher. Und das Rot breitete sich immer weiter aus.

Eine Sauerstoffmaske wurde ihm über Nase und Mund geschoben und mit einem Elastikband befestigt. »Atmen Sie ganz normal, Mr Brooks. Das wird Ihnen gut tun.«

Das stimmte nur bedingt. Rasselnd sog er den Sauerstoff ein. Der penetrante Geruch nach Lufterfrischer verflog.

»Sein Puls wird schwächer. Das Herz schlägt schneller. Wir müssen ihn wegbringen.« Wieder ein Wirbel an Aktivität um ihn herum: Eine Krankentrage wurde neben ihn gestellt. »Auf Drei. Eins, zwei … drei.«

Carson hörte sich stöhnen, als sie ihn auf die Trage hoben und festschnallten. Das Stöhnen erinnerte ihn daran, dass er noch lebte. Er musste am Leben bleiben. Er musste herausfinden, wer ihn hatte erschießen wollen. Er musste sein Vermächtnis schützen.

Und er musste herausfinden, ob die Ruisseau Corporation sein einziges Vermächtnis war oder ob es noch ein anderes gab: einen Menschen.

Doch seine Entschlossenheit wurde von dem Nebel, der sein Bewusstsein einhüllte, nahezu erstickt.

»Bleiben Sie wach, Mr Brooks!« Die Stimmen der Sanitäter. Sie hatten ihn auf die Bahre gelegt und waren bereits auf dem Weg durch die Eingangshalle. Seltsam. Er konnte sich nicht entsinnen, mit dem Fahrstuhl hinuntergefahren zu sein.

»Ist er noch bei Bewusstsein?«, wollte Dylan von den Sanitätern wissen.

»Nur sehr schwach.« Die Glastür flog auf. Um ihn herum die stickige Luft des Sommers von Manhattan. Ein Hauch davon drang ihm durch die Sauerstoffmaske in die Nase. Blaulichter zuckten. Neben der Ambulanz hielten mehrere Streifenwagen. Ein Cop lief auf die Sanitäter zu. Andere verschwanden im Gebäude.

Man trug ihn zum Rettungswagen. »Mount Sinai Hospital?«, fragte Dylan den Sanitäter, der sich neben ihn gesetzt hatte.

»Yep. Wir fahren rüber zur Madison und dann geradeaus nach Uptown. Mit Sirene schaffen wir’s in drei Minuten.«

»Ich fahre mit«, sagte Dylan und schickte sich an, in den Wagen zu klettern.

»Äh, Mr Newport …« Der Fahrer drehte sich um und räusperte sich verlegen. »Die Polizei möchte mit Ihnen über den …«

»Ach ja?«, schnitt Dylan ihm das Wort ab. »Dann sollen sie zum Mount Sinai kommen. Ich fahre mit, keine Diskussion. Und wie ich schon sagte – Sie nennen keine Namen und verständigen auch nicht die Presse. Los jetzt!«

Niemand wagte zu widersprechen. Die Türen wurden zugeschlagen. Die Sirene heulte auf, und der Rettungswagen jagte davon.

»Herzschlag hundertsiebzig. Blutdruck fünfzig zu neunzig.« Der Sanitäter beugte sich über ihn. »Mr Brooks, können Sie mir sagen, wie alt Sie sind?«

»Fünfzig …«

Seine Stimme verschmolz mit dem Heulen der Sirene. Der Verkehr auf der Madison Avenue schien sich zu teilen wie die Wasser des Roten Meeres.

»Carson«, hörte er Dylans Stimme undeutlich, aber nahe an seinem Ohr.

»Immer noch … am Leben«, brachte er mühsam heraus.

»Hab ich auch nicht bezweifelt. Du bist unverwüstlich.«

»Jaaa … sag das dem … der das getan hat.«

»Ich könnte mir was Besseres vorstellen, als es diesem Scheißkerl nur zu sagen.« Er überlegte kurz. »Hast du ihn sehen können?«

»Nichts gesehen … war zu schnell … und von hinten.« Carson holte langsam und rasselnd Luft. »Dylan...