Die Macht der Erinnerung - Vichi, Die Macht der Erinnerung . Commissario Casinis zweiter Fa

von: Marco Vichi

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732525751 , 300 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 5,99 EUR

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Die Macht der Erinnerung - Vichi, Die Macht der Erinnerung . Commissario Casinis zweiter Fa


 

Florenz, April 1964


1


Abends gegen neun kam ein zerlumptes Männchen, das kaum größer war als ein Kind, keuchend ins Polizeipräsidium gerannt. Es presste sein Gesicht gegen die Glasscheibe am Eingang und rief so höflich wie nur möglich, es wolle mit dem Kommissar sprechen. Mugnai, der hinter der Scheibe saß, bedeutete ihm, sich zu beruhigen, und fragte, welchen Kommissar er denn meine. Der Zwerg legte seine schmutzige Hand auf die Scheibe und rief:

»Commissario Casini!«, als ob Casini der Einzige wäre, der infrage käme.

»Und wenn er nicht da ist?«, fragte Mugnai.

»Ich hab seinen Käfer gesehen«, antwortete der Zwerg. Schließlich ließ man ihn hinein. Mugnai gab Taddei, einem dicken, glubschäugigen Kerl, der erst seit kurzem dort arbeitete, ein Zeichen. Dieser stand schwerfällig auf und stieg mit dem Zwerg im Schlepptau die Treppe hinauf. Am Ende des langen Korridors im ersten Stock blieb er vor Casinis Büro stehen.

»Warte«, sagte er und warf dabei einen Blick auf die ausgetretenen und nur notdürftig gereinigten Schuhe des Zwerges. Dann klopfte er, verschwand hinter der Tür und kehrte kurz darauf wieder zurück.

»Du kannst reingehen«, brummte er. Der Zwerg verschwand eilig im Zimmer, und Taddei hörte noch, wie Casini ausrief: »Casimiro! Was zum Teufel machst du denn hier?« Dann fiel die Tür ins Schloss. Doch der Polizeibeamte traute dem Frieden nicht, kratzte sich am Kopf und klopfte noch mal. Respektvoll steckte er den Kopf zur Tür herein.

»Brauchen Sie noch was, Commissario?«

»Nein, danke, Sie können gehen.«

Casimiro schluckte mehrmals und wartete schweigend, bis der Glubschäugige die Tür wieder geschlossen hatte. Casini bot ihm eine Zigarette an, doch der Zwerg lehnte ab und blieb vor dem Schreibtisch stehen.

»Was gibt’s, Casimiro? Warum bist du so aufgeregt?«

»Ich hab was gesehen, Commissario, oben, bei Fiesole … Ich ging gerade spazieren … über ein Feld …«

»Wenn du schon keine rauchen willst, dann trink wenigstens ein Bier.« Casini zeigte auf die oberste Schublade des Karteikastens, der auf der anderen Seite des Büros stand.

»Mir kannst du auch eins geben, danke«, fügte er hinzu. Casimiro holte rasch die Flaschen und stellte sie auf den Schreibtisch. Er schien es kaum erwarten zu können, weiter zu berichten, doch Casini öffnete in aller Ruhe mit seinem Hausschlüssel die Flaschen und reichte Casimiro ein Bier. Der trank die halbe Flasche in einem Zug leer, worauf er sich ein wenig zu beruhigen schien und sich hinsetzte. Der Kommissar nahm ein paar schnelle Züge, bekleckerte dabei sein Hemd und stellte dann die Flasche auf die Papiere, die seinen Schreibtisch bedeckten. An der Wand hinter seinem Rücken hing ein verstaubtes Bild des Staatspräsidenten und darüber ein Hufeisen. In diesem Büro stinkt es immer nach modrigem Papier und Schimmelpilzen, dachte Casini …

Casimiro rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er trug eine Kinderjacke, die ihm zu groß war. Casini betrachtete das Gesicht des Zwerges, das so klein und schmal war, als hätte man es in der Tür eingeklemmt. Er hatte Casimiro kurz nach dem Krieg kennen gelernt, und schon damals hatte er dieselbe nervöse Art gehabt wie jetzt. Er lachte selten, nur hin und wieder riss er einen Witz über sein Aussehen, und dabei verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse. Aber Casini mochte ihn, und manchmal gab er ihm unter irgendeinem Vorwand einen Auftrag als Informant, nur damit er ihm etwas Geld zustecken konnte, ohne ihn allzu sehr in Verlegenheit zu bringen.

»Ich bin ganz zufällig da vorbeigekommen, Commissario … Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte …«

»Casimiro, entschuldige, wenn ich dich unterbreche, aber … am zweiten hatte ich Geburtstag.«

»Glückwunsch.«

»Ist das alles?«

»Was woll’n Sie hören, Commissario?«

Casini war an diesem Abend zu einem Schwätzchen aufgelegt, vielleicht, weil er müde war … und außerdem, wer weiß, was für einen Mist Casimiro ihm wieder erzählen wollte.

»Willst du gar nicht wissen, wie alt ich geworden bin?«, fragte er.

»Wie alt?«

»Vierundfünfzig, Casimiro, und ich habe überhaupt keine Lust, älter zu werden. Vierundfünfzig Jahre und niemand, der zu Hause auf mich wartet und mich mit einem Kuss begrüßt.«

»Warum legen Sie sich keinen Hund zu, Commissario?«, fragte der Zwerg ernsthaft.

Casini lächelte und drückte dabei vorsichtig seine Zigarette in dem übervollen Aschenbecher aus. Er griff wieder nach der Bierflasche, die auf einem der Papiere einen feuchten Ring hinterlassen hatte, und lehnte sich in seinem Sessel zurück.

»Überleg mal, Casimiro, vielleicht wird ja genau in diesem Augenblick irgendwo auf der Welt die Frau geboren, nach der ich mich schon immer gesehnt habe. Aber wenn sie zwanzig ist, bin ich bereits ein alter Bettnässer. Und selbst wenn sie vor vierzig Jahren auf die Welt gekommen wäre, dann vermutlich in Algerien, Polen oder in Australien … Wie hätte ich sie da kennen lernen sollen? Denkst du nie über so was nach?«

»Commissario, darf ich Ihnen jetzt erzählen, was ich gesehen habe?«

»Natürlich, entschuldige«, sagte Casini. Nun musste er ihm wohl oder übel zuhören. Der Zwerg stellte die Bierflasche auf den Schreibtisch und rutschte von seinem Stuhl, die Nervosität war ihm deutlich anzusehen.

»Ich bin auf einem Feld spazieren gegangen und wäre fast über eine Leiche gestolpert«, sagte er in einem Atemzug, aus Angst, der Kommissar könnte ihn wieder unterbrechen.

»Bist du dir sicher?«, fragte Casini.

»Natürlich bin ich mir sicher. Er war tot, Commissario, das Blut tropfte ihm aus dem Mund.«

»Wo war das genau?«

»Gleich hinter Fiesole«, sagte Casimiro düster.

Casini stand auf, griff mit einer Hand nach den Zigaretten und den Streichhölzern, mit der anderen nahm er die Jacke von der Stuhllehne. »Was hattest du denn um diese Zeit dort oben zu suchen, Casimiro?«

»Ich bin rein zufällig dort vorbeigegangen«, sagte der Zwerg, aber es war offensichtlich, dass er log.

»Dann sehen wir uns die Leiche doch mal an«, sagte Casini, und sie verließen das Büro.

»Und was ist mit meinem Fahrrad?«, fragte der Zwerg, als er neben ihm her den Gang hinuntertrippelte.

»Das laden wir ins Auto.«

Sie fuhren die Viale Volta entlang und bogen dann in die Straße ab, die nach Fiesole hinaufführte. Kurz hinter San Domenico sahen sie die Stadt unter sich, ein großer Fleck voll glitzernder Punkte. Wie ein riesiger Kuhfladen mit kleinen Kerzen drauf, dachte Casini.

Casimiro saß mit ausgestreckten Beinen im Auto, seine Füße reichten nur knapp über den Rand des Sitzes hinaus. Schweigend spielte er mit seinem Talisman, einem kleinen Plastikskelett mit zwei roten Glasknöpfen als Augen. Er trug es seit Jahren mit sich herum, und Casini hatte es inzwischen aufgegeben, ihn deshalb aufzuziehen.

Als sie die Piazza von Fiesole überquert hatten, lotste ihn der Zwerg die Via Bargellino hinunter und begann sich nach ein paar hundert Metern nervös umzusehen. »Halt, Commissario«, rief er plötzlich. Casini ließ den Wagen auf einem unasphaltierten Platz stehen und stieg aus. Nervös hüpfte Casimiro aus dem Wagen.

»Hier lang, Commissario.« Er kletterte über eine zerfallene Mauer und bahnte sich einen Weg durch das dichte niedrige Gestrüpp. Casini folgte ihm und sah sich aufmerksam um. Hoch am Himmel stand ein großer, schneeweißer Mond und tauchte die Landschaft in ein blasses Licht. Wenigstens konnte man gut sehen. Zu ihrer Rechten lag ein großes, brachliegendes Feld mit ein paar alten, vertrockneten Rebstöcken und von Efeu überwucherten Bäumen. Eine Schande, einen Acker derart verkommen zu lassen.

»Und du bist hier rein zufällig vorbeigekommen?«, grinste Casini.

»So ungefähr«, sagte der Zwerg hastig und bahnte sich weiter seinen Weg durch das Gestrüpp.

»Was soll das heißen?«

»Ich bin völlig abgebrannt, Commissario, was zum Teufel soll ich tun?«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich suche hier manchmal nach Gemüse.«

»Um diese Jahreszeit müsste es Saubohnen geben.«

»Dafür ist es noch zu früh, Commissario, momentan gibt’s nur Kohl … Kommen Sie, hier entlang.«

»Wahrscheinlich wimmelt es hier nur so von Kröten«, sagte Casini angeekelt und hoffte, keine zu zertreten. Das Gras war hoch und feucht, seine Schuhe waren bereits nass. Es hatte die ganze Woche geregnet, und hin und wieder versank er in einer Schlammpfütze. Es war kalt. Der Frühling ließ auf sich warten.

»Ist es noch weit?«

»Da hinten ist es«, flüsterte der Zwerg und rannte nun fast mit seinen kurzen Beinchen. Sie kämpften sich durch ein schlammiges Wäldchen und erreichten schließlich einen einigermaßen gepflegten Olivenhain. Auf dem Boden wucherte kurzes, struppiges Unkraut. Nach dem vielen Schlamm das reinste Vergnügen. Das Mondlicht schien so hell, dass es deutliche Schatten auf den Boden warf. Doch was im Schatten lag, war dafür umso schwärzer.

»Wir sind gleich da«, wisperte der Zwerg und ging langsamer. Ein Stück weiter vorne auf einer Anhöhe stand eine riesige Villa, sie schien ziemlich alt zu sein, vielleicht aus dem siebzehnten Jahrhundert. Der Garten fiel am Ende steil zum Feld hin ab und wurde von einer hohen, stellenweise von Efeu überwucherten Steinmauer gesäumt. Das Geländer auf der Mauer war die Trennlinie zwischen zwei Welten. Die Fensterläden der Villa waren geschlossen,...