Das Geheimnis der Signora - Vichi, Das Geheimnis der Signora . Commissario Casinis erster Fal

von: Marco Vichi

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732525737 , 319 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 5,99 EUR

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Das Geheimnis der Signora - Vichi, Das Geheimnis der Signora . Commissario Casinis erster Fal


 

1


Florenz, Sommer 1963

Nach einer schlaflosen Nacht, die Kommissar Casini damit verbracht hatte, sich in seinen schweißnassen Bettlaken zu wälzen, betrat er um acht Uhr morgens sein Büro. Es war Ende Juli, die Tage waren schwül, kein Windhauch regte sich, und nachts war es noch drückender. Zumindest war die Stadt wie leer gefegt, nur wenige Autos fuhren, es herrschte fast völlige Stille. Die Strände waren hingegen laut und voller sonnenverbrannter Menschen. An jedem Sonnenschirm hing ein Radio, jedes Kind hatte sein Eimerchen.

Noch bevor Casini sich setzen konnte, fiel sein Blick auf ein maschinengeschriebenes Blatt, das auf dem Schreibtisch lag, und er musste den Hals verrenken, damit er sehen konnte, um was es sich handelte. Dabei fiel ihm auf, wie sauber die Zeilen untereinander gereiht waren und wie akribisch, ordentlich und ohne Ausbesserungen das Blatt beschrieben war. Es überraschte ihn, als er sah, dass es ein Protokoll war. Soviel er wusste, gab es im ganzen Präsidium niemanden, der in der Lage gewesen wäre, so etwas zu Stande zu bringen. Er begann zu lesen, als es klopfte und Mugnai seinen Kopf zur Tür hereinsteckte.

»Dr. Inzipone will Sie sprechen«, sagte er.

»Scheiße …«, schnaubte Casini. Dr. Inzipone war der Polizeipräsident. Er rief ihn immer zu den ungelegensten Momenten. Doch zum Glück ging auch er bald in Urlaub. Der Kommissar erhob sich stöhnend von seinem Stuhl, ging zum Büro seines Chefs und klopfte.

Inzipone empfing ihn mit einem seltsamen Lächeln. »Setzen Sie sich, Casini, ich hab Ihnen etwas zu sagen.« Casini nahm gelangweilt Platz und machte es sich bequem. Der Polizeichef erhob sich hingegen, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich wollte mit Ihnen über die Razzia letzten Freitag reden«, begann er.

»Ich habe gestern den Bericht tippen lassen.«

»Ich weiß, ich weiß. Den hab ich schon gelesen. Ich wollte Ihnen nur noch ein paar Dinge dazu sagen.«

»Bitte schön.«

»Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen, Casini. Niemand bestreitet, dass Sie ein ausgezeichneter Polizeibeamter sind, doch Ihr Rechtsverständnis ist – wie soll ich mich ausdrücken? – etwas merkwürdig.«

»Was meinen Sie damit?«

Inzipone machte eine Pause, um nach den passenden Worten zu suchen, und blickte aus dem Fenster, wobei er dem Kommissar den Rücken zukehrte. »Ich meine … verehrter Casini, Gesetze sind dazu da, dass sie befolgt werden, und wir werden von den Bürgern dafür bezahlt, damit das passiert. Wir können nicht einfach darüber entscheiden, wann Gesetze zu befolgen sind und wann nicht.«

»Verstehe«, antwortete Casini ruhig. Er hatte dieses Gerede und diese Heuchelei satt.

Inzipone drehte sich um und sah ihn an. »Bei der Razzia am Freitag haben Sie ein paar Kerle laufen lassen«, sagte er kurz.

»Es kann nicht immer alles glatt gehen.«

»Nein, nein, Casini, Sie haben mich nicht verstanden. Oder lassen Sie es mich so ausdrücken: Sie wissen genau, was ich meine. Die Kerle sind Ihnen nicht einfach entwischt. Sie haben sie nach ihrer Verhaftung absichtlich laufen lassen.«

»Das wird wohl das Alter sein …«

Inzipone seufzte und begann erneut, durchs Zimmer zu wandern. »Dieb ist Dieb, Casini. Es ist Sache des Gerichtes, über das Strafmaß zu entscheiden. Glauben Sie nicht auch, dass Robin Hood etwas aus der Mode gekommen ist?«

Casini verspürte ein seltsames Kribbeln in den Händen. »Es ist zwar richtig, Signor Presidente, dass wir die Hüter des Gesetzes sind, mir ist aber bis heute noch kein Gesetz untergekommen, das jedem Menschen das Überleben garantiert.«

»Hier geht es nicht um Politik.«

»Politik? Wer ein Essen auf den Tisch stellen muss, schert sich einen Dreck um Politik.«

»Nun seien Sie doch nicht immer so vulgär, Casini.«

»Oh, entschuldigen Sie. Ich dachte, Vulgarität sei noch etwas ganz anderes.«

»Hier geht es nur darum, dass man seine Pflicht tut.«

»Ich habe aber auch mir gegenüber eine Verpflichtung.«

»Das verstehe ich ja. Doch Sie können Dieben nicht einfach zur Flucht verhelfen!«

»Ich habe niemandem zur Flucht verholfen, sondern ganz einfach ein paar arme Schlucker laufen lassen.«

»Das meine ich ja. Sie können nicht so einfach darüber entscheiden …«

»Jetzt sag ich Ihnen mal etwas, Dottore Inzipone: Als ich aus dem Krieg zurückkam, dachte ich, dass auch ich dazu beigetragen hätte, Italien aus dem Dreck zu ziehen. Und was sehe ich stattdessen? Überall nichts als Scheiße …«

»Wir wissen alle um ihre großen militärischen Verdienste, Casini.«

»Nun kommen Sie mir nicht damit. Sie wissen selbst, dass es uns jetzt noch viel dreckiger geht.«

»Nun übertreiben Sie aber.«

»Signor Presidente, ich hasse Razzien. Aber wenn ich schon gezwungen werde, sie durchzuführen, dann bestimmt nicht, um irgendwelche armen Schweine hinter Gitter zu bringen.«

Inzipone breitete resigniert die Arme aus. »Casini, ich hab Ihnen schon so manches durchgehen lassen. Es reicht langsam.«

»Was soll ich sagen? Dass ich von nun an artig sein und hart bei den armen Kerlen durchgreifen werde?«

»Casini, Sie haben die Gabe, immer die unangenehmsten Worte zu wählen.«

»Das war wirklich nicht meine Absicht, glauben Sie mir. Kann ich jetzt gehen? Ich habe noch ein paar Bettler zu hängen.«

Inzipone starrte ihn an und biss die Zähne zusammen. Er wusste, dass er gegen Casinis Vorgehensweise nicht viel ausrichten konnte. Er war einer der besten Kommissare, das gesamte Präsidium verehrte ihn, und im Grunde wussten alle, dass er Recht hatte. Es gab einfach zu viel Elend.

Casini kehrte in sein Büro zurück.

Kurz darauf klopfte wieder Mugnai an die Tür. »Kaffee?«

»Ja, danke. Sag mal, wer hat eigentlich dieses Zeug hier geschrieben?«, fragte er und wedelte mit dem sauber geschriebenen Protokoll, das er auf seinem Schreibtisch gefunden hatte.

»Ein Neuer. Piras heißt er.«

»Sarde?«

»Durch und durch.«

»Schick ihn zu mir.«

»Gleich oder mit dem Kaffee?«

»Mit dem Kaffee.«

»Gut.« Mugnai verschwand.

Bevor Casini sich setzte, um den Bericht zu lesen, öffnete der Kommissar das Fenster und zog die Läden zu. Wie jeden Sommer dachte er, dass es schön gewesen wäre, wenn alle Urlauber plötzlich beschlossen hätten, einfach nicht mehr in die Stadt zurückzukehren. Man hätte für immer seine Ruhe gehabt.

Er setzte sich wieder und nahm das Protokoll. Rasch überflog er die Zeilen. Es ging um einen Autounfall. Normalerweise kümmerte sich Vaccarezza um diese Angelegenheiten, doch im August war das Präsidium halb ausgestorben. Casini selbst vermied es, um diese Jahreszeit in Urlaub zu fahren. Er kämpfte lieber in der menschenleeren Stadt gegen die Mücken, anstatt seine Zeit mutterseelenallein an einem überfüllten Ferienort zu verbringen und sich ständig nach zu Hause zu sehnen, um endlich seine Ruhe zu haben. Darum landeten Protokolle von solch banalen Autounfällen auch auf seinem Schreibtisch.

Es klopfte erneut, und in der Tür stand ein junger Mann mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Casini hatte den Jungen noch nie zuvor gesehen.

»Sie wollten mich sprechen?« Typisch sardischer Akzent, etwas hüpfend, stolz, fast aggressiv.

»Bist du Piras?«

»Höchstpersönlich.«

»Komm her …«

Er war noch jung, hatte ein kantiges Gesicht, schwarze Augen und einen durchdringenden Blick; er war klein, aber gut gebaut. Insgesamt eine recht sympathische Erscheinung.

»Mugnai hat mich gebeten, Ihnen das zu bringen«, bemerkte er und deutete auf den Kaffee.

»Danke.« Casini sah ihn weiter an.

Piras stellte die Tasse auf den Schreibtisch und blieb stehen.

»Woher kommst du, Piras? Ich meine, aus welcher Gegend in Sardinien?«

»Aus der Provinz Oristano.«

»Das heißt? Nun komm schon, bleib nicht einfach da stehen! Setz dich doch.«

»Danke. Ich komme aus Bonarcado.«

Casini beugte sich nach vorne und sah ihm direkt in die Augen. »Piras aus Bonarcado … Jetzt sag bloß, dein Vater heißt Gavino.«

»Richtig, Gavino.«

Der Kommissar fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Das gibts doch nicht«, sagte er wie zu sich selbst.

»Stimmt irgendwas nicht?«, fragte Piras besorgt.

Casini antwortete nicht. Geistesabwesend starrte er für einen Augenblick ins Leere. Dann öffnete er eine Schreibtischschublade und kramte auf der Suche nach irgendetwas mit beiden Händen darin herum. Schließlich fand er, was er gesucht hatte: ein Foto. Er legte es auf den Tisch, drehte es um und schob es Piras mit zwei Fingern hin. Es zeigte drei Soldaten in Uniform, bis zur Schulter fotografiert, mit zusammengesteckten Köpfen, die lächelten.

Piras riss die Augen auf. »Aber das ist ja … mein Vater!«

»Ganz genau, dein Vater«, stimmte Casini zu und ahmte dabei den sardischen Tonfall nach.

»Dann sind Sie also … der Casini, der ihm das Leben gerettet hat«, rief Piras bewegt. Der Kommissar wurde verlegen wie ein kleines Kind. Piras nahm das Foto und sah es weiter ungläubig an. Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen. »Wenn ich das meinem Vater erzähle …«, murmelte er.

»Schick ihm das Foto«, meinte Casini.

»Vielen Dank. Mein Vater wird sich freuen.«

Piras sah noch einmal kurz das Foto...