Antigone - Reclam XL - Text und Kontext

von: Sophokles, Mario Leis, Nancy Hönsch

Reclam Verlag, 2016

ISBN: 9783159608853 , 109 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 4,99 EUR

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Antigone - Reclam XL - Text und Kontext


 

1. Epeisodion (162331)


KREON. Männer! Die Götter haben unsre Stadt, die sie

in schwerem Wogengang erschüttert, sicher wieder aufgerichtet.

Euch aber habe ich, von allen ausgesondert,

165durch Boten herbestellt, weil ich wohl weiß,

wie ihr die Macht von Laios’ Thron stets hochgeachtet

und ihr, als Ödipus die Stadt erhob

und umkam dann, bei seinen und Iokastes Söhnen

verbliebt mit unverrückbar treuem Sinn.

170Seit jene nun in doppeltem Verhängnis

an einem Tage fielen, schlagend und

geschlagen, mordbefleckt durch eigne Hand,

hab ich denn nun die Allmacht und den Thron,

da an Verwandtschaft ich der Nächste bin den Toten.

175Unmöglich aber ist es, zu ergründen jeden Mannes

Charakter, Denkart und sein Wollen, eh er sich

in Herrschaft und Gesetzen als erprobt erweist.

Denn wer als Lenker einer ganzen Stadt

nicht nach den besten Leitgedanken greift,

180sondern aus Furcht vor jemand seinen Mund verschlossen hält,

der gilt mir als grundschlechter Mensch, so jetzt wie je;

und wer gar höher als das eigne Vaterland

[14]die Freunde stellt – dem spreche ab ich jeden Wert!

Denn ich – das wisse Zeus, der allzeit alles sieht –,

185ich schwiege nicht, säh ich das Unheil

den Bürgern nahen statt des Wohlergehns,

und würde nie den Mann, der feind der Stadt,

als Freund erachten, in der Einsicht, dass

nur sie es ist, die uns beschützt, und dass wir nur,

190wenn sie nicht wankt auf unsrer Fahrt, uns Freunde schaffen.

Nach solchen Grundprinzipien will ich fördern diese Stadt.

Dem nun entspricht, was ich die Söhne Ödipus’

betreffend hab den Städtern jetzt verkündet:

Eteokles, der im Kampf für diese Stadt

195gefallen ist, in jeder Hinsicht Bester mit dem Speer:

Ihn berge man im Grab und weih ihm alle Grabesspenden,

die zu den besten Toten kommen in der Unterwelt!

Doch seinen Bruder, Polyneikes mein ich, der

die Vatererde und die Götter unsres Lands,

200zurückgekehrt aus dem Exil, mit Feuers Brand

bis auf den Grund verbrennen und sich am verwandten Blut

satt trinken wollte und den Rest versklaven:

Ihn – so ist es unsrer Stadt verkündet –

soll keiner mit dem Grabe ehren noch beklagen,

205nein, unbestattet lass man seinen Leib zum Fraß

den Vögeln und den Hunden, schmachvoll anzusehn!

So geht mein Denken, und nie wird von mir

der Schlechte mehr geehrt als der Gerechte.

Wer aber wohlgesinnt ist dieser Stadt, der sei,

210ganz gleich, ob tot, ob lebend, stets von mir geehrt!

CHORFÜHRER. Dir steht es frei, Sohn des Menoikeus, so zu tun

an dem, der’s übel oder wohl meint mit der Stadt,

[15]und jede Satzung anzuwenden liegt in deiner Macht

auf die, die tot sind, wie auf uns, die leben.

215KREON. Seid mir nun Hüter des Verfügten!

CHORFÜHRER. Bürd einem Jüngern auf zu tragen diese Last!

KREON. Nun, Wachen bei dem Toten sind bestellt.

CHORFÜHRER. Was andres könntest du denn uns damit befehlen?

KREON. Dass ihr es keinem durchgehn lasst, der nicht gehorcht!

220CHORFÜHRER. So töricht ist doch keiner, dass er sterben möchte.

KREON. Ja, in der Tat, dies wär der Lohn! Jedoch mit Hoffnungen

hat die Gewinnsucht Männer oft schon ruiniert.

Ein Wächter tritt auf.

WÄCHTER. Herr, sagen will ich nicht, dass ich ganz atemlos

vor Übereile komm und leicht beschwingten Laufs.

225Denn oft macht ich, um nachzudenken, Halt

und drehte unterwegs mich schon zur Rückkehr um;

denn vieles raunte mir die Seele warnend zu:

»Was eilst du, Ärmster, dorthin, wo dir Strafe droht?

229Du bleibst, Elender, wieder stehen? Und erfährt dies Kreon nun

von einem andern, wie bleibt dir dann Schmerz erspart?«

Dergleichen wälzend kam ich trödelnd langsam nur ans Ziel,

und also wird aus einem kurzen Weg ein langer.

Jedoch am Ende siegte dies: hierher zu kommen

zu dir, und meld ich auch rein nichts, ich sag es doch!

235Mich an die Hoffnung klammernd komme ich,

dass nichts mir widerfährt, was nicht mein Schicksal ist.

KREON. Was ist’s, weswegen du so mutlos wirkst?

WÄCHTER. Ich will zuerst dir sagen, was mich selbst betrifft,

[16]denn nicht getan hab ich’s und sah auch nicht, wer’s tat,

240und unrecht wär’s, wenn ich ins Unheil stürzte.

KREON. Du zielst geschickt und schirmst dich gegen diese Tat

nach allen Seiten ab. Man merkt, du willst uns Unerhörtes melden.

WÄCHTER. Das Ungeheure, nun ja, löst viel Zaudern aus.

KREON. So red doch endlich, troll dich dann und geh!

245WÄCHTER. Ich red ja schon! Den Toten hat soeben einer

bestattet und ist fort, nachdem er trocknen Staub

gestreut hat auf den Leib und heilgen Brauch an ihm geübt, wie’s Pflicht.

KREON. Was sagst du? Welcher Mann hätt tollkühn dies gewagt?

WÄCHTER. Ich weiß es nicht; denn da war keines Pickels Stich

250und keiner Hacke Aushub; spröde war der Boden,

trocken, ohne Riss, von Rädern nicht befahren,

und keine Spur war da von irgendeinem Täter.

Doch als des Tages erster Wächter uns dies wies,

da lag für alle ein unfasslich Wunder vor:

255Der Tote war dem Blick entzogen, nicht begraben zwar,

doch dünn lag Staub auf ihm, wie um Befleckung zu vermeiden.

Und weder eines Raubtiers Spuren zeigten sich

noch eines Hundes, der gekommen und an ihm gezerrt.

Da schwirrten wüste Worte hin und her:

260Ein Wächter fuhr den andern an, und schließlich kam es schier

zu einer Prügelei, und keinen gab’s, uns dran zu hindern.

Denn jeder reihum galt als Missetäter,

doch keiner klar ersichtlich, jeder stritt davon zu wissen ab.

Wir war’n bereit, geglühtes Eisen aufzuheben mit der Hand,

265[17]ein Feuer zu durchschreiten und zu schwören bei den Göttern, dass

wir’s nicht getan noch mitgewusst mit einem, der

die Tat geplant und ausgeführt.

Zuletzt, als alles Forschen uns nicht weiterhalf,

spricht einer aus, was uns alle die Köpfe

270vor Furcht zu Boden senken ließ; wir konnten nichts

dagegen sagen, wussten nicht, wie, wenn wir’s täten, heil

entkämen. Zu berichten sei, so ging das Wort,

dir diese Tat und nicht geheim zu halten.

Nun, diese Sicht obsiegte, und mich Unglücksmenschen

275verdammt das Los zu diesem schönen Glück.

Da bin ich, ungern, und ungern gesehn, ich weiß;

denn niemand liebt den Boten schlimmer Kunde.

CHOR. Ob diese Tat, Herr, nicht vielleicht ist gottgewirkt,

legt tiefres Denken mir schon lange nah.

280KREON. Hör auf, bevor noch dein Gerede mich mit Zorn erfüllt,

damit du nicht als Narr und Greis zugleich erscheinst!

Empörend ist, was du da sagst, wenn du behauptest,

die Götter sorgten sich um diesen Toten!

284Erwiesen sie ihm ungemeine Ehre gar für gute Taten,

als sie mit Staub ihn deckten, der die säulenreichen Tempel

zu verbrennen kam und Weihgeschenke

und zu zerschlagen ihre Satzungen, ihr Land?

Oder siehst du, dass je Götter Frevler ehren?

Unmöglich! Doch es murrten Männer dieser Stadt

290schon lang in dieser Art erbittert gegen mich,

die Häupter schüttelnd insgeheim, und hielten unters Joch

den Nacken nicht, wie’s recht ist, mir loyal zu sein.

Von diesen sind, ich bin’s gewiss, die Wächter dort

um Lohn verleitet worden, solche Tat zu tun.

295Denn nichts erwuchs als ärgrer Brauch

[18]den Menschen als das Geld. Es löscht

selbst Städte aus, jagt Männer aus den Häusern fort,

verbildet und verkehrt den rechten Sinn

299der Menschen, schnöden Taten nachzugehn.

Den Weg zu jeder Schurkerei zeigt es den Menschen und

vertraut zu sein mit jeder gottvergessnen Tat.

Doch alle, die für Geld gedungen solches tun,

erwirken früher oder später Strafe sich.

Wieder zum Wächter gewendet.

Doch wenn denn Zeus von mir noch heilge Scheu empfängt,

305so merk dir dies genau – ich sag’s dir unter Eid –:

Entdeckt ihr nicht, wer die Bestattung hat vollbracht,

und stellt den Täter sichtbar vor die Augen mir,

so soll der Tod allein euch nicht genügen: lebend aufgehängt

sollt erst ans Licht ihr bringen euren Frevelmut,

310damit ihr, wenn ihr künftig rafft, begreift,

wo der Profit zu holen ist, und einsehn lernt,

dass der Gewinn um jeden Preis nicht wünschenswert.

Denn ihrer mehr sieht man durch schimpflichen Erwerb

zu Schaden...