Gute Nacht, süße Träume

von: Jirí Kratochvil

Braumüller Verlag, 2015

ISBN: 9783992001484 , 405 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 20,99 EUR

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Gute Nacht, süße Träume


 

II


Die Nullzeit


Jindřich traf mit dem ersten Frühzug am Brünner Hauptbahnhof ein. Eigentlich noch vor dem Morgengrauen. Es gab nur das Licht von Sternen und die Irrlichter von Taschenlampen, weil jemand das E-Werk geplündert hatte. Und der Bahnsteig war unter Trümmern begraben. Nur die Geleise hatte man geräumt.

Er war nicht der Einzige, der mit einem Rucksack auf dem Rücken ausstieg. Über den Köpfen der Ankommenden zischte der Dampf, hinter ihnen heulte noch die Lok, und sie kletterten über die Trümmerhaufen und quetschten sich in die mit Menschen vollgestopfte Bahnhofshalle. Jindřich musste sich regelrecht durchboxen und spürte sofort, wie gierige Hände hinten den Rucksack abtasteten, sodass er ihn lieber abnahm und in den Armen hielt. Er wollte nur den Ausgang erreichen und seinen Weg nach Hause fortsetzen.

Er hatte bald verstanden, dass sich hier so etwas wie eine Markthalle befand. Die gleich ihm vom Land Eintreffenden hatten in Rucksäcken, Ranzen und Säcken irgendwelche Nahrungsmittel und begannen sie sofort flink zu tauschen. Er hingegen besaß nur so viel, wie er in den nächsten Tagen benötigen würde. Er kämpfte sich weiter zum Ausgang durch, als er sah, wie jemand im Marktgewimmel mit dem Licht der Taschenlampe eine Mädchenbrust aus der Dunkelheit herausgriff. Irgendeine junge Frau hatte eine ihrer Titten entblößt und bot sie in diesem Wechselgeschäft wahrscheinlich auch gegen Nahrungsmittel an. Eigentlich nichts Überraschendes, dass hier auch solche Frauenzimmer, Nachtfalter, waren und es unter den Artikeln, die hier zum Tausch standen, auch erotische Angebote gab. Trotzdem irritierte es ihn, und er kehrte dieser Szene aus Verlegenheit den Rücken, als plötzlich jemand vor ihm eine Stange aufstellte und eine daran befestigte Leinwand zu entrollen begann: Es war ein großes Bild, ein Ölgemälde, und es rief auch sofort Interesse wach, und die Lichter von Taschenlampen, Handlaternen und Karbidlampen richteten sich darauf. Die Menschen wichen sogar ein wenig auseinander, soweit es in ihren Kräften stand, und auch Jindřich wich zurück, um die großformatige Leinwand besser sehen zu können. Er verspürte eine elektrisierende Spannung um sich herum, etwas Eigenartiges ging jetzt vor: Alle in der Nähe des Bildes lebten plötzlich von dem Augenblick, da dieses Bild in sie eintreten, da seine überirdische, zugleich grausame, aber auch erotische Kraft, die nur wahre Kunst besitzt, sie treffen würde, und er zweifelte nicht daran, dass das ganze Händlergesindel ringsum jetzt bereit war, vor dem Wunder der Kunst auf die Knie zu sinken. Auch seine Beine waren schon fast dabei, sich abzuwinkeln, nur dass sich die Heiligkeit des Augenblicks schlagartig verflüchtigte, kaum dass das Bild entrollt war und alle es ganz erblickten. Augenblicklich löste der Kreis der Kunstliebhaber sich auf und alle gingen wieder ihren Geschäften nach. Nur ein banales Gruppenporträt: langweilige Männer vor dem Hintergrund eines langweiligen Waldes. Anödend durch die leere Bedeutungslosigkeit, urteilte Jindřich. Und er strebte auf den Ausgang der Halle zu.

Schon war es ihm gelungen hinauszutreten und schon blickte er zum dunklen Himmel hinauf, der über dem Bahnhofsplatz allmählich heller wurde, wie wenn jemand ganz langsam den Zeiger eines Rheostats bewegen würde, als er eine Stimme vernahm, die ihn zurückrief: Mein Herr, hätten Sie bitte ein kleines Stück Brot für mich?

Ach, er hatte so gar keine Lust umzukehren. Dann tat er dennoch einen Schritt zurück. Auf einem Strohbündel in einer Ecke beim Ausgang kauerte, hockte oder saß vielleicht eine alte Frau. Und da im Halbdunkel der Halle ununterbrochen die Lichter von Taschenlampen und anderen Lampen herumirrten, streifte eines auch ihr Gesicht, und Jindřich erkannte, dass es eine alte Zigeunerin war.

Es war ihm nicht unbekannt, dass die Zigeuner genauso schlecht, wenn nicht noch schlechter dran gewesen waren als die Juden. So, wie seine Eltern für immer verschwunden waren, waren auch die Zigeuner verschwunden. Auch sie waren untergegangen. Daher legte er, ohne zu zögern, den Rucksack auf den Boden und öffnete ihn.

Er wusste nicht, was die Peterkas ihm genau eingepackt hatten, daher durchsuchte er jetzt auf dem Boden kniend alles neugierig. Während der ganzen Zeit, die er bei ihnen verbracht, sich bei ihnen versteckt hatte, hatten sie sich um ihn wie um einen eigenen Sohn gekümmert, obwohl er nicht mal weitschichtig mit ihnen verwandt war. Denn die Peterkas waren keine Juden, doch hatten Jindřichs Mutter und Frau Peterka die gleiche Schule besucht und waren deswegen auch in schlechten Zeiten Freundinnen geblieben. Und jetzt, da die Gefahr vorüber war, hatten die Peterkas ihn wieder heimgeschickt. Für die Fahrt hatten sie ihm das köstliche Brot eingepackt, das sie sich am Ende des Krieges selbst gebacken hatten. Also entnahm er dem Rucksack einen kleineren Laib, strich genüsslich über die knusprige, duftende Kruste und reichte ihn nach kurzem Zögern der alten Zigeunerin.

Ich danke sehr, hoher Herr.

Wie auch nicht, du Kröte, dachte er sich und wollte schon weiter, doch als er sich erhob, berührte ihre knochige Hand sein Knie: Nicht so eilig, mein Herr. Weil Sie so gut zu mir waren, möchte ich Ihnen auch etwas schenken.

Belustigt schaute er sie an. Da machte sie aber schon Anstalten, sich zu erheben. Er half ihr, sich auf die Beine zu stellen. Etwas buckelig, den Brotlaib in den Armen und in ein größeres Kopftuch oder was das war gehüllt, so stand sie vor ihm.

Es ist nicht weit von hier, versicherte sie ihm, und Sie werden es nicht bereuen. Und dann wieselte sie zu seiner Überraschung mit trippelnden Schritten über den Bahnhofsplatz. Er hängte sich den Rucksack um und folgte ihr, nun doch neugierig geworden. Nur einen Moment lang wurde er vom Anblick eines Hauses gegenüber dem Bahnhof abgelenkt, aus dem eine Bombe so etwas wie eine hübsche Pyramide, bestehend aus einem Sockel und vier sich an der Spitze treffenden Dreiecken, herausgeschnitten hatte, ein wenig, als hätte man aus einer riesigen Torte mit einer Servierschaufel geschickt ein Portiönchen für die Kleine von nebenan herausgeschnitten. Jindřich kam dieses Werk der Zerstörung beinahe wie ein Meisterstück und vielleicht sogar effektvoller als das Bild in der Halle vor. Er hatte ja den Krieg in einem einschichtigen kleinen Dorf abgewartet, das weder von den Alliierten noch von den Russen bombardiert worden war, und er hatte weder das Heulen der Sirenen noch das dunkle Pfeifen der herabfallenden Bomben gehört, sodass ihn die Ruinen jetzt nicht so zu Tode erschreckten.

Die Zigeunerin bog nach links entlang eines Hauses ab, in dem noch vorgestern das Amt des Kuratoriums der Protektoratsregierung gewesen war, und ging dann unten am Domhügel entlang, bis sie vor einer Souterrainwohnung stehen blieb.

Die Tür, ohne Klinke, stand einen Spalt offen, eine auf den ersten Blick ungemütliche, dunkle Spelunke, die auf etwaige unerwünschte Interessenten abschreckend wirken musste. Zwei Katzen liefen ihnen entgegen, eine schwarze und eine grau-schwarz gemusterte. Die Zigeunerin stieß die Tür weit auf, um ein bisschen Morgenlicht in den Raum zu lassen. Dann legte sie den kleinen Brotlaib auf das Tuch auf einem Tischchen, beugte sich zu den Katzen hinunter und erklärte ihnen unverständlich etwas, wohl in Zigeunersprache, und erst dann wandte sie sich an Jindřich:

Sie würden uns eine große Freude bereiten, wenn Sie jetzt bei uns Platz nehmen würden.

In das uns schloss sie offenbar auch die zwei Katzen ein.

Ich versuche eine Lampe zu finden, schlug sie vor.

Der Versuch gelang, und sie stellte eine Petroleumlampe auf eine große Kiste und suchte noch eine Weile nach Streichhölzern, während Jindřich, bevor er sich setzte, vorsichtig den Stuhl befühlte. Als die Lampe aufleuchtete, erkannte er, dass es keine Spelunke, sondern ein zwar niedriger, sich dafür aber weit in den Abhang unter dem Dom hineinbohrender Raum war. Er kam zu dem Schluss, dass es sich wohl um einen der angefangenen und nicht mehr fertig gebauten Luftschutzbunker handelte, von denen er bei den Peterkas hin und wieder gehört hatte. Und während es im Eingangsbereich nur ein Tischchen mit zwei Stühlen gab, reihten sich nach hinten zu eine Menge kleinerer und größerer Kisten aneinander, auf denen alles Mögliche stand, kleine Töpfchen, Kännchen, von kuriosen, lichtscheuen Gewächsen bevölkerte Vasen und auch unbeschreibliche Objekte, bei denen Jindřich sich auf den ersten Blick sicher war, ungern mit ihnen unter einem Dach verweilen zu wollen. Und irgendwo ganz hinten, mehr zu erahnen, als zu sehen, befanden sich ein Bett zum Schlafen und vielleicht auch ein Fass Wasser und irgendein Türchen.

Er saß da und betrachtete den mit allerlei Perlen, aber auch sehr seltsamen größeren und kleineren Figürchen, mit denen er sich gleichfalls ungern angefreundet hätte, behangenen, nicht brennenden Lüster.

Sie entschuldigte sich, Tee könne sie nicht für...